Rezension: Lao Zi, Dao De Jing – Übersetzung Michael Hammes

Lao Zi, Dao De Jing

Man macht das Päckchen auf und … – siehe da, ein Daodejing. Noch ein Daodejing? In Neuübersetzung? Warum? – Als das Verlagsexemplar in unserer Tai Chi-Schule in der Gruppe erstbegutachtet wurde, war das Ergebnis eindeutig: Sieht gut aus, passt in jede Tasche, ist eine Zierde für jedes Bücherregal – und die Neugier über die Motivation der Neuübersetzung überwog die Skepsis über die Notwendigkeit des Unterfangens.

Der Übersetzer Michael Hammes ist sich bewusst, dass das Daodejing eines der meistübersetzten Werke der Weltliteratur ist. Genau darin mag auch der Reiz gelegen haben, es einmal selbst zu versuchen. Das Daodejing fordert die geistige Auseinandersetzung quasi heraus, nicht zuletzt durch seine Wortwahl, die je nach Blickwinkel schlicht, mystisch, geheimnisvoll oder banal daher kommen kann. Der Nachteil des Daodejing als eines vielübersetzten Werkes ist freilich, dass fast jeder schon eine Lieblingsversion hat. Der Vorteil hingegen ist, dass man bei der beachtlichen Bandbreite der Übersetzungen schon wieder frei in seinem Handeln ist – es scheint hier kein falsch und richtig zu geben.

Die naheliegende Frage ist also: Was gibt die Neuübersetzung dem Chor der Stimmen hinzu?

Für den Übersetzer, selbst im Hauptberuf Neurologe und Arzt für Chinesische Medizin, steht das Spirituelle, das Poetische des Textes im Vordergrund seiner Übertragung ins Deutsche. Michael Hammes erkennt esoterische Elemente im Text, Anleitungen zur inneren Alchemie. Und er bemüht sich um das Herausarbeiten von Handlungsanweisungen in einem Text, den er einer fremden Kultur zuordnet.
Die Übersetzung spiegelt insofern auch das Bemühen des Arztes und Schmerztherapeuten wider, der im spättechnologischen Zeitalter sich selbst und seinen Patienten eine andere Alternative anbieten möchte als das Selbstverständnis des Menschen als einer reparaturbedürftigen Maschine.

Das Ergebnis – Eine Übersetzung biblischen Ausmaßes

Lao Zi, Dao De Jing

Aus diesem Ansatz heraus entstand eine Übersetzung, manchmal dahin fließt, manchmal mit donnernder Stimme spricht. Die Wortwahl ist einfallsreich, mutet jedoch teilweise antiquiert an. Um nur ein Beispiel zu nennen: Liest man „Schluchtenbach“, hat man sofort eine dunkle Ahnung, aber eben kein klares Bild. Dem Verfasser ist nach eigener Aussage beim Erschließen des Textes eine Versenkung in den Text, eine Verinnerlichung der Worte wichtig gewesen. Die Übersetzung macht den Eindruck, als ob sie eben dieses auch beim Leser provozieren soll. Dies gelingt auch, tut aber dem rationalen Erfassen des Textes Abbruch – er erscheint bisweilen undurchsichtig, verschleiert, geheimnisträchtig. Doch es gibt auch andere Stellen: bspw. in Kapitel 52 – betitelt als zweiundfünfzigste Eröffnung – wo es heißt:

[…] Verstopfe die begehrlichen Öffnungen,
verschließe die süchtigen Pforten,
und bis zum Ende des Lebens bleibst du frei von Mühsal.
Tue die begehrlichen Öffnungen auf
und Verstricke dich in unzählige Angelegenheiten,
so gibt es für den Rest des Lebens keine Rettung mehr,

Das sind zweifellos klare Ansagen.
Das Motiv des Überwindens von Begierden und der Zügelung der Triebe ist insbesondere aus spirituellen und religiösen Richtungen des Daoismus bekannt – selten tritt jedoch ein Übersetzungstext mit einer solchen einer Kompromisslosigkeit auf. In Teilen erinnert der Duktus der Übersetzung in der Tat an Teile des Alten Testamentes aus der Bibel. Mit einem weinenden Auge sehe ich dabei den fröhlichen, skurril anmutenden Wandermönch verblassen, der beim Lesen anderer Daodejing-Übersetzungen vor meinem inneren Auge erschien und zu einem Begleiter geworden ist, den ich eigentlich nicht missen möchte. Aber wer weiß, vielleicht ist er bloß eine Ausgeburt naiver Gefühlsduselei…

Empfehlung – für Kenner und vertieft Interessierte

Das Buch ist schön gearbeitet und gut zu lesen. Die Übersetzung des Textes wird vom chinesischen Originaltext und hilfreichen Erläuterungen des Übersetzers begleitet. Aufgrund des skizzierten Hintergrundes des Übersetzungsprojekts stellt das vorliegende Band jedoch eher eine Übersetzung für Kenner dar, die schon eine oder mehrere Daodejing-Übersetzungen studiert haben. – Zu diesen bildet es einen reizvollen Kontrast, der alte Denkmuster in Bewegung bringen kann.
Für „Anfänger“, die sich für eine poetische Fassung des Daodejing interessieren, würde ich zunächst die Lektüre der klassischen Übersetzung von Richard Wilhelm empfehlen. Diese wirkt trotz ihres Alters in Teilen moderner und bereitet auf die Lektüre der hier besprochenen Version vor. Wilhelms Werke sind gemeinfrei im Internet zugänglich. Einer sofortigen Lektüre steht somit nichts im Wege und das vorliegende Werk könnte dann bereits in der freien Zeit zum Jahreswechsel mit den notwendigen Vorkenntnissen angegangen werden.

Angaben:
Lao Zi, Dao De Jing
Übersetzung: Michael Hammes
Manesse-Verlag 2019
ISBN: 978-3-7175-2478-6
480 Seiten
Preis: 22,00 Euro

Erklärung der wirtschaftlichen Interessenlage:
Das Rezensionsexemplar wurde uns unaufgefordert und kostenfrei vom Verlag zugesandt. Es bestehen keinerlei wirtschaftliche Beziehungen zum Verlag und/oder zum Autor.