Von Freya und Martin Bödicker
Die Klassiker des Tai Chi Chuan bieten tiefes Wissen. Aber als Westler ist es oft schwierig, das ganze Bild zu erfassen, wenn man eine Übersetzung liest.
Es ist immer Fruchtbar sich die Zeit zu nehmen und sich eine detaillitere Erklärung eröffnen. Wir möchten dies an einem Beispiel zeigen:
Hier kommt ein Satz aus dem Lied der schlagenden Hände (Dashouge): yinjin luokong hejichu
Und hier einen populäre Übersetzung: „Führe in die Leere und dann abgeben.“
Die ist kurz und relativ klar für den Pushhandsübenden. Aber ich denke, man kann mehr aus dem Originaltext herausholen. Wir möchten zuerst auf das chinesische Wort yin schauen.
Yin hat die Bedeutung von ‘führen’ oder ‘leiten’. Daher folgt die generelle im Tai Chi Chuan, dass man einen Angriff in drei Stufen beantwortet:
Zuerst führt/leitet man die hereinkommende Kraft in die Leere, dann schlägt man zurück. Für das Funktionieren der Schritte 2 und 3 ist Schritt 1 der entscheidende Punkt. Er muss perfekt ausgeführt werden. Aber wie kann man das machen. Vielleicht kann uns da die zweite Bedeutung von yin weiterhelfen. Die zweite Bedeutung von yin ist ‘verführen’ oder ‘verleiten’ und ist so verstanden eine eigene jin-Kraft. In der Theorie der jin-Kraft von Chen Gong heißt es: „Wenn der Andere sich bewegt, verleite ich ihn dazu sich auf einer von mir gewählten Bahn zu bewegen.“
Das bedeutet für mich, dass das Führen des Anderen in der Weise getan wird, dass ich ihn verleite Bewegungen zu machen, die er eigentlich nicht machen möchte. So kann ich ihn z.B. provozieren, einen bestimmten Punkt anzugreifen. Daher kenne ich diesen Punkt und weiß, wo er angreifen wird und bin in der Lage seine Kraft ins Leere gehen zu lassen. Durch das Verleiten des Anderen kann ich sehr früh die Kontrolle der Situation übernehmen. Zu handeln, so Lange die Dinge noch klein sind – so ist das Handeln einfach und natürlich. Dies ist das hohe Ideal der chinesischen Philosophie, speziell des Laozi.
Führe in die Leere: Im Chinesischen findet sich ein Wort mehr: yinjin (hatten wir oben: leiten/führen) – luokong (hat ein Wort mehr: luo).
Luo bedeutet ‚fallen’ und kong bedeutet ‘Raum’ oder ‘Leere’.
Luo bedeutet ‚fallen‘, hat aber oft das Gefühl von etwas Passivem, wie in luoye – die Blätter fallen. Sie fallen von alleine.
Daher is yinjin luokong nicht einfach nur ‚Führe in die Leere‘, sondern:
Ich führe/verleite den Anderen so, dass er durch seine eigene Aktion/Aggression in die Lehre fällt.
Eine ganze Übersetzung des Satzes könnte also auch so lauten:
Ich führe/verleite den Anderen, so dass er ganz von alleine oder durch seine eigene Aktion/Aggression in die Lehre fällt. Dann schlage ich sofort zurück.
Ist das nicht einfach Klasse – kein Wunder, dass diese Kunst Tai Chi Chuan, die Kampfkunst des höchsten Äußersten genannt wurde.
Fotos: L. Liebermann und Bödicker