Qigong stützt sich auf die traditionelle chinesische Medizin und den Daoismus. Zu den Grundgedanken der daoistischen Philosophie gehört das natürliche Wechselspiel der Polaritäten Yin und Yang. Das führt zu einer komplementären Auffassung von gegensätzlichen Erscheinungsformen; sie werden als ergänzend, im Sinne von ein-Ganzes-bildend, angesehen.
Auch in die moderne Naturwissenschaft hat das Modell der Einheit der Gegensätze bereits Eingang gefunden. Der zu Beginn des 20. Jh. aufgetretene, mit dem bisherigen Denken unlösbar scheinende, Konflikt die Natur des Lichts betreffend (bekannt als Welle-Teilchen-Dualismus), ließ sich erst in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik von 1927 lösen. Diese Deutung hat das Komplementaritätsprinzip von Niels Bohr und die Unbestimmtheitsrelation von Werner Heisenberg zur Basis und sie ermöglicht es, widerspruchsfrei einander ausschließende Sichtweisen zu erfassen. Da die Quantentheorie also eine holistische Theorie ist, liegt der Gedanke nahe, dass die dort anzutreffenden Komplementaritätsverhältnisse noch weiterreichende Gültigkeit haben können.
Durch manche naturwissenschaftliche Entdeckungen werden Fragen allgemeiner Art beantwortet oder neu gestellt, andererseits kann auch das Verständnis der naturwissenschaftlichen Phänomene durch die Auseinandersetzung mit der Philosophie vertieft werden. Die Erfahrungen aus der Atomphysik führten zu einer neuen Art des Denkens. Sie haben gezeigt, dass die kartesische Spaltung der Welt in res cogitans (die Dinge des Geistes) und res extensa (die ausgedehnten Dinge) nicht länger sinnvoll ist. Dieses neue Denken sucht die Beziehung zwischen Geist und Materie in einer dieser Polarität zugrunde liegenden Einheit.
Mit Qigong bewegen wir uns nach solcherart Betrachtungen wieder auf den Boden bzw. in den Körper zurück. Hier werden die Prinzipien konkret angewendet und zur Förderung der Gesundheit oder zur Annäherung an das Dao genutzt. Die Zusammengehörigkeit der Gegensätze lässt sich beim Qigong bereits direkt in Einzelübungen erfahren, die in sich vollständig sind, in denen z.B. Öffnen und Schließen eine Gesamtheit bilden.
Text: Imke Bock-Möbius
Foto: Liebermann