Wandel und Authenzität
Professor Cheng Man Ching (1900-1975) lernte Tai Chi Chuan in der Tradition des klassischen Yang-Stils bei Yang Chengfu in Shanghai und war dort eng mit Ma Yueliang, dem Vertreter des neuen Wu-Stils befreundet. Nach dem Tod seines Lehrers Yang Chengfu 1935 entwickelte Cheng Man Ching mit Genehmigung von Chen Weiming, eines Schülers von Yang Chengfu und dessen Vater Yang Jianhou aus der bekannten Langform mit 85 Bildern (oder 108 Bildern, je nach Zählweise) die sogenannte Kurzform, in der 37 Bilder gezählt werden. Diese Form sollte leichter erlernbar werden und bei der schlechten medizinischen Versorgung zur Gesundheitsverbesserung des Volkes beitragen. Diese Veränderung wird auch heute noch von Vertretern des klassischen Yang-Stils kritisch bewertet, obwohl inzwischen auch in den klassischen Stilen sogenannte Kurzformen entstanden sind.
Die Veränderungen, die Cheng Man Ching an der von Yang Cheng Fu entwickelten Tai Chi-Form vornahm, zeigen deutliche Unterschiede in Erscheinung und Ausführung. Welche Gründe ihn auch immer dazu bewogen haben, die Kurzform aus der Langform zu entwickeln, es ist unbestritten, dass er ein herausragender Lehrer und Meister nicht nur im Tai Chi Chuan war. Die Geschichte des Tai Chi Chuan zeigt, dass die geübten Formen einem stetigen Wandel unterlegen waren. So kann sicherlich über den Begriff \“Tradition‚ und lange diskutieren werden, ohne dass es zu einem Konsens kommen muss. Das Einigende, das wohl das Wesentliche und Verbindende vieler Tai Chi-Übender zu sein scheint, ist das Bedürfnis, weiter in die Tiefe und \“Geheimnisse‚ des Tai Chi Chuan und Taoismus einzudringen.
So sicher, wie es kein Tai Chi Chuan-spezifisches Gen gibt, welches das lernende Voranschreiten des Einzelnen in dieser Kunst bedingt, sind auch die Ziele des Einzelnen sehr unterschiedlich. Als nicht-Yang-Familienmitglied hat Cheng Man Ching immer wieder Anfeindungen und abwertende Äußerungen bezüglich der Entwicklung der Kurzform (37 Bilder) erleben müssen. So wie sich ältere Generationen nicht selten negativ über Veränderungen von Werten äußern, scheint dies der ewige Wandel von Yin und Yang in der Geschichte zu sein.
In jedem Fall hat die geübte Formvariante in der Tradition von Huang Shen Shyu- an (1910-1992, Malaysia) und seinem Schüler Patrick Kelly (Neuseeland) – über die ich als Übender sprechen mag – aus heutigem medizinischen Verständnis sehr interessante Parallelen zu modernen Therapieansätzen von Sport- und Physiotherapie sowie zur Bewegungslehre. So kann das Prinzip \“vertikale Aufrichtung‚ (chinesisch: Beziehung Himmel-Erde)gerade in dieser Übungsform besonders gut trainiert werden. Natürlich kann an der vertikalen Aufrichtung, die den gesamten Körperzusammenhang meint und nicht allein von der Vertikalen im Raum abhängt, auch in anderen Formausführungen gearbeitet werden, z. B. wie im alten Yang Stil, die in vorgeneigter Körperhaltung geübt wird. Dennoch scheint aus medizinischer Sicht gerade die vertikale Übungsform für das Zusammenspiel Bein-Hüfte-Kreuzbein-Lendenwirbelsäule eine größere Herausforderung bezüglich der Feinabstimmung der Winkelverhältnisse zu beinhalten. Das Konzept ganzheitlicher funktioneller Bewegungsvorstellung des Schweizer Neurolo- gen Dr. Alois Brügger aus den sechziger Jahren ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich gegenüber Haltungsvorstellungen im Tai Chi Chuan. Die graphische Darstellung der drei Zahnräder, die repräsentativ für den Bereich Becken/ LWS, BWS und HWS stehen, zeigen eine andere Rückenhaltung, als die häufig angestrebte entlordosierte (flachere) Becken- und Lendenwirbelsäulenhaltung im Tai Chi Chuan. Betrachtet man allerdings den funktionellen Aspekt im Zusammenspiel dieser Zahnräder, zeigt er lediglich das klare Zusammenwirken dieser Regionen auf. Es wird also die gleiche Funktionalität aufgezeigt.
Da es im Tai Chi Chuan immer um ein Bewegungsspiel und Verbundenheit (alignment) geht, besteht hierin kein wirklicher Widerspruch, sondern lediglich eine unterschiedliche Phasendarstellung von Bewegung. Es gibt eben nicht \“eine‚ Becken- und Lendenwirbelsäulenhaltung sondern nur ein funktionelles Zusammenspiel dieser Bereiche. Weiterhin finden sich in der Cheng Man Ching-Form auch Prinzipien der in Europa immer bekannter werdenden Osteopathie. Unter dem Begriff „tensigrity“ (tens -Spannung / intigrity -Integration), welcher die Gesamtkörperspannung und ihre Wechselwirkung bei Verlust auch scheinbar kleiner Anteile im Körpersystem beschreibt. Durch die veränderte Handhaltung (Prinzip: keep beautiful ladies hands) gegenüber der alten Yang-Form entsteht eine komplette Verbundenheit bis zu den Fingern, die nicht durch eine Abwinkelung (Abknicken) im Handgelenk unterbrochen wird. So kann die Kraft aus den Füßen, gelenkt über die Taille (waist), direkt zu den Händen gelangen, durch die als Verlängerung der Unterarme die Kraft direkt übertragen wird. Die Kraftübertragung mit ab- gewinkelten Handgelenken verleitet nicht selten zum groben Stoßen mit der Handfläche, welches nur scheinbar mehr Kraft beinhaltet, und den Partner noch lange den Abdruck der Hand am Körper spüren lässt. Die nicht abgewinkelte Handhaltung lässt den Übenden mehr an den elastischen Kräften über das Nachgeben (yielding), Neutralisieren (neutralize) und Abgeben (issuing) üben und verringert bei nicht-Gelingen das Stoßen mit der Handfläche. Über die klare Gewichtung und Unterscheidung von \“voll und leer‚ in Kombination mit der aus der Hüfte/Taille (waist) geleiteten Rumpfbewegung, wird gerade über die vertikale Aufrichtung an der Aktivierung der Halte- und Bewegungsmuskulatur gearbeitet. So können hieraus resultierend über die Stabilisierung der Fuß-Knie-Hüft-Achse neue Anteile bzw. die bei Übenden nicht selten vorkommende muskuläre Schwächen des gesamten Halte- und Bewegungsapparates verbessert werden. Dies wird in der Sportmedizin und Physiotherapie die Verbesserung der muskulären \“Schlaufen‚ oder des Zusammenwirkens der Muskelketten genannt. Wenngleich die oben erwähnte von der Hüfte/ Taille (waist) geleitete Rumpfbewegung keine Cheng Man Ching-spezifische Übungsweise darstellt, gibt es auch hierin eine sehr enge Beziehung zu dem noch weniger bekannten Bewegungskonzept der Spiraldynamik, welches die Bewegung in der Dreidimensionalität um ein Zentrum übt. Auch hierin findet sich der Bezug, dass das Pushen (ungünstig ins Deutsche mit \“Stoßen‚ übersetzt) eben kein Handstoß, sondern eine Kraftentfaltung aus dem gesamt gedehnten (stretch-unstretch) Körper über die Hand ist. Begriffe aus der manuellen Medizin und Osteopathie wie \“myofasziales Release‚ , die aus der Muskelphysiologie stammende \“exzentrische Muskelarbeit‚ und das propriozeptive Training von Stütz- und Zielmotorik sind sicherlich sehr fremdartig für Tai Chi-Übende. Dennoch sind diese Begrifflichkeiten nicht nur modern und in aktuellen Therapiekonzepten gebräuchlich, sondern bestätigen das, was alte Meister offensichtlich schon lange verstanden haben und übten. Hierin sollte jedoch nicht allein die Bestätigung der Bewegungsprinzipien verstanden werden, sondern der stetige Wandel des Dao, der auch hier die Welten im Sinne von Yin und Yang verbindet.
Mit diesen kurzen und nur unvollständigen Ausführungen sollen die herausragenden Leistungen von Cheng Man Ching im Sinne der Verbreitung des Tai Chi Chuan und seiner Prinzipien in der Welt eine besondere Würdigung erfahren. Es bleibt sicher unklar, ob und wie er sich die Verbreitung des Tai Chi Chuan vorgestellt hat. In jedem Fall haben seine Arbeit und Wirken die Verbindung von Ost und West erheblich beeinflusst und nicht nur den hier lebenden Menschen viel Gutes gebracht.
Mit tiefem Respekt und Dankbarkeit Dr. Michael Plötz
Foto: Ken van Sickle