Offen und geduldig Neues entdecken
Zuerst steht Loslassen an, das Loslassen von bekannten Bewegungsmustern und Erwartungen. Die Bewegungen erfordern viel Umgewöhnung von bewusst oder unbewusst gelernten und verinnerlichten Mustern und Haltungen. Es gibt in der westlichen Bewegungskultur keine vergleichbare Sport- bzw. Bewegungsart, die ähnliche Anforderungen an uns stellt. Ungewohnt sind vor allem die Grundhaltung und die Führung aller Bewegungen aus dem Zentrum. Sehr schnell bemerken AnfängerInnen, dass die üblichen isolierten Bewegungen des Oberkörpers, der Arme und der Beine ohne innere Verbindung zum Zentrum beim Taijiquan nicht erwünscht sind. Dazu gesellt sich das gemächliche Tempo – sofern man von Tempo überhaupt sprechen mag –, das manche »unter Strom stehende« Geschäftige am Anfang auch stressen kann.
Doch das Ungewohnte ist gerade das Interessante. Man beginnt mit dem Einüben einer festgelegten Abfolge von verschiedenen Bewegungen, die auch als Bilder oder Figuren bezeichnet werden und teils recht poetisch klingende, teils ganz pragmatische Namen haben. Beim ersten Erlernen einer solchen Taiji-Form steht die Auseinandersetzung mit den neuen Bewegungen, den einzelnen Figuren im Mittelpunkt. Wir lernen, wann und wie Schritte, Gewichtsverlagerungen, Drehungen und Armbewegungen erfolgen sollen. Damit schulen wir unsere Bewegungskoordination und unser Erinnerungsvermögen. Für Menschen, die nicht darin geübt sind Bewegungen zu lernen, ist dies schon eine ganze Menge.
Wir gewöhnen uns an die Langsamkeit und entdecken deren zahlreichen Vorteile. Wir können uns besser beim Bewegen beobachten. Wir können spüren, wie ein Arm von unten nach oben steigt, wie eine Verbindung vom Zentrum zum linken Fuß oder zur rechten Hand entsteht. Wir bemerken, wo sich im Körper noch Anspannungen befinden, die den Fluss der Bewegungen behindern. Und schließlich fällt uns auf, wie sich dank der Langsamkeit der Geist beruhigt.
Äußere Form und innere Prinzipien
Ist ein erstes Verständnis für den »äußeren« Ablauf einer Figur erreicht, so stehen die Taiji-Prinzipien auf dem Stundenplan: Die Körperhaltung soll aufrecht sein, die Muskeln sollen noch mehr entspannt und die Bewegungen bewusst vom Körperzentrum aus geleitet werden. Die Aufmerksamkeit, der Geist und der Körper sollen gemeinsam agieren.
Hier gibt es verschiedene pädagogische Ansätze. Manche LehrerInnen legen am Anfang mehr Wert auf das Erlernen der »äußeren« Bewegungen. Das hat den Vorteil, dass der reine Ablauf einer Form relativ schnell gelernt werden kann, auch wenn die Bewegungsausführung noch recht ungenau sein mag. Für viele Menschen ist das Erlernthaben einer Form ein Anreiz, Taijiquan weiter zu erforschen oder es auch alleine zu Hause zu üben. Andere LehrerInnen legen von Anfang an mehr Gewicht auf die Umsetzung der Prinzipien. Das heißt, jede Bewegung wird genauer erlernt, bevor die nächste Figur neu dazukommt. Ergänzende Bewegungsübungen können das Verständnis für die Prinzipien unterstützen. So wird die Form zwar nicht so schnell gelernt, jedoch von Anfang an genauer. EinE gute Taiji-LehrerIn wird hier den »goldenen Mittelweg« finden, der sich nach den Fähigkeiten und Bedürfnissen der SchülerInnen richtet.
Um den Weg zur ersten kompletten Form zu erleichtern, werden schon seit einigen Jahrzehnten aus den überlieferten Formen der verschiedenen Stile kürzere Abfolgen zusammengestellt, so dass man jetzt nach Langformen und Kurzformen unterscheidet. Letztere ermöglichen einen sehr guten Einblick in das Taijiquan, daher ist es heute üblich mit einer Kurzform zu beginnen, aber es ist keinesfalls notwendig.
Geduld ist nötig
Doch unabhängig davon, wie schnell eine Form gelernt wird, immer wird Geduld benötigt. Gerade zu Anfang fallen die neuartigen Bewegungen oft schwerer, als man erwartet hatte. Und schnell stellt sich die Erfahrung ein, dass Ungeduld und zu große Erwartungen an den eigenen Lernfortschritt genau diesen behindern. Je vertrauter jedoch die Bewegungsweise des Taijiquan wird, umso leichter kann man neue Figuren nachvollziehen.
Jedes Taiji-Prinzip bringt etwas Neues in die äußere Bewegung hinein. Nehmen wir als Beispiel das Prinzip »Entspannung«: Wenn wir bei einer Bewegung darauf achten, ob unsere Schultern oder der Rücken entspannt sind, stellen wir meist schnell fest, dass wir noch mehr »loslassen« können. Wenn uns das dann gelingt, fühlt sich die gleiche Bewegung ganz anders an. Das gilt auch für das Prinzip »Bewegen aus der Mitte«. Es macht einen großen Unterschied, ob unser Körperzentrum, das Dantian, die Bewegung führt oder ob zum Beispiel die Arme sich unabhängig vom Rest des Körpers bewegen. Bald bemerken wir, wie »Entspannung« und »Körperzentrum« sich gegenseitig fördern. Dazu kommt die Langsamkeit, die es uns ermöglicht, die Bewegungen und deren innere Zusammenhänge zu betrachten und zu erleben. Und schon ist die Aufmerksamkeit, der Geist, mittendrin in der Bewegung. Diese Qualität, die achtsame Präsenz im gegenwärtigen Tun, ist ein wesentlicher Aspekt des Taijiquan und unterscheidet sie grundlegend von herkömmlichen Sportarten.
Waffen- und Partnerformen
Haben wir neben dem äußeren Ablauf der Form auch schon ein erstes Verständnis für die inneren Prinzipien erlangt, so fühlt sich die Form rund an. Gleichzeitig wird unsere Wahrnehmung der Bewegungen intensiver und genauer und wir bemerken, dass es noch besser gehen könnte. Die Körperhaltung ist nicht immer stabil, die Entspannung noch nicht vollständig, die Führung aus dem Zentrum könnte deutlicher sein, unser Kontakt zum Boden ist mitunter nur dünn.
So haben wir wieder einiges entdeckt, an dem wir arbeiten können. Wir üben wieder und wieder die Form, dieses Werkzeug für unsere Entdeckungsreise, und führen zusätzliche Übungen aus, die uns bei unserem weiteren Weg unterstützen.
Zu diesen Übungen gehören die Partnerformen des Taijiquan. Gerade hierbei, im so genannten Tuishou, zeigt sich deutlich, was wir schon gelernt haben. Zusammen mit einem Gegenüber ist es sehr viel leichter zu spüren, wie gut wir im Gleichgewicht stehen, als wenn wir alleine eine Bewegungsabfolge durchlaufen. In der Partnerarbeit können wir unsere Wahrnehmung für Bewegungen, unsere Koordination und unser Reaktionsvermögen schulen, wir lernen Kraft aufzunehmen, umzuleiten und abzugeben.
Waffenformen sind ebenfalls eine interessante Erfahrung. Wir haben plötzlich einen Gegenstand in der Hand, der uns an den martialischen Ursprung des Taijiquan erinnert. Und mit diesem Gegenstand, sei es ein Schwert, ein Säbel, ein Fächer (ja, auch Fächer können Waffen sein) oder eine andere Waffe, sollen wir uns verbinden und ihn harmonisch in unsere Bewegungen einbeziehen. Unser Gleichgewicht muss sich neu arrangieren, unsere Aufmerksamkeit geht über die Hand hinaus bis zum Ende der Waffe und unser Bewegungsraum wird größer. Außerdem tauchen mit den unterschiedlichen Waffen ganz neue Bewegungsmuster im Taiji auf. Ein weiteres Gebiet für unsere Entdeckungsreise.
Immer wieder Neues entdecken
So gibt es beim Taiji-Lernen immer etwas zu entdecken, das unser Bewegungsverständnis erweitert. Diese Entdeckungen machen das Lernen von Taijiquan so spannend und sie lassen sich auch auf alltägliche Bewegungen übertragen. Wie gehen und stehen wir, wie heben wir Gegenstände hoch, wie greifen wir nach einer Tasse, wie putzen wir unsere Zähne oder binden die Schuhe zu?
Bewege ich mich so, wie es meinem Körper entspricht, oder eher gegen ihn? Muss immer alles so schnell gehen oder komme ich vielleicht auf langsame Art genauso gut zum Ziel? Allerdings beinhaltet das Lernen von Taijiquan auch ein gewisses »Frustpotenzial«. Nahezu alle Taiji-Lernenden kommen irgendwann zu einem Punkt, an dem sie glauben, sie könnten es nie schaffen, weil es ja »sooo viel gibt, das bei einer richtigen Taiji-Bewegung berücksichtigt werden muss«. Gerade an dieser Stelle ist es wichtig, mit sich Geduld zu haben und sich klar zu machen, dass es gar nichts zu »schaffen« gibt, sondern einfach nur zu entdecken und zu lernen. Es kommt nicht darauf an, wie viel Zeit man dafür braucht. Es kommt darauf an dabeizubleiben, dann kommt das nächste Aha-Erlebnis garantiert. Allerdings wird es einige dieser »Frustpunkte« geben. Doch jedes Mal ist es großartig, wenn ein solcher Punkt überwunden wird, denn das sind meist große Lernsprünge. Und es ist wichtig, von dem Gedanken Abstand zu nehmen, man könnte perfekt Taijiquan machen.
Wer also der Erforschung von ungewohnten Bewegungsweisen offen gegenübersteht und Geduld mit sich hat, kann mit Taijiquan beginnen. Doch wo, wann und bei wem?
Offen sein und nicht zu schnell urteilen
Ideal wäre es, wenn Sie jeden Tag einige Stunden Zeit hätten und jemanden fänden, der oder die jeden Tag Unterricht anbietet, einen schönen Übungsort hat und gut mit Ihnen zurechtkommt. Zudem sollte es eine nette Gruppe sein, in der sich alle gut ver- stehen und gegenseitig fördern. – Nun, diese idealen Voraussetzungen wird wohl kaum jemand mitbringen.
Wenn Sie Pech haben, ist das Gegenteil der Fall. Die MitschülerInnen sind unbewegliche »Bewegungschaoten«, kommen völlig verstresst nach einem arbeitsreichen Tag zur Übungsstunde gehetzt, trinken stundenlang Tee und quatschen über den Daoismus. Schließlich müssen sie etwas früher los, weil sie noch einen Termin haben. Die Lehrkraft hat bereits vier Gruppen hinter sich, ist ein wenig erschöpft und konnte weder den Raum noch die Umkleiden saubermachen. Lüften geht auch nicht, weil dann der Autolärm zu sehr stört. Und mehr als einmal Unterricht pro Woche gibt es sowieso nicht – vielleicht besser so.
Na ja, ganz so schlimm wird es wohl nicht kommen. Es gilt offen zu sein und Geduld aufzubringen, allerdings auch ein waches Gespür dafür, was für einen wirklich gut ist. Außer in Extremfällen also nicht gleich nach den ersten Stunden urteilen, ob der Unterricht und dessen Umstände gut oder schlecht sind oder dass Taijiquan nichts für einen sei, sondern ein wenig abwarten, um dem inneren Gespür Raum zu geben. Mitunter trügt der erste Eindruck, mitunter nicht.
Freie Kurse und Volkshochschulen
Die meisten Menschen lernen Taijiquan in frei organisierten Taiji-Kursen. Mittlerweile gibt es viele LehrerInnen, die entweder in eigenen oder angemieteten Räumen Taiji-Unterricht anbieten. Ein Kurs läuft in der Regel einmal wöchentlich über 60 bis 120 Minuten. Manche Taiji-Schulen bieten auch mehrmals die Woche Unterricht an.
Teilweise laufen die Kurse solange, wie Interesse besteht, so dass es Gruppen gibt, die schon viele Jahre zusammen Taijiquan lernen. Andere Kurse werden jeweils für eine bestimmte Zeit, zum Beispiel zwölf Wochen oder ein Semester angeboten und stehen dann eventuell unter einem bestimmten Thema wie Taiji-Form für AnfängerInnen, Schwertform, Tuishou, Formvertiefung.
Fast alle Volkshochschulen haben Taijiquan in ihr Programm aufgenommen. Dort ist der Unterricht überwiegend in Semestern oder Trimestern organisiert. Das heißt, dass nach einem Semester oder Trimester der Kurs zu Ende ist und man sich neu einschreiben muss. Volkshochschulen haben den Vorteil, dass die Kursgebühr im Vergleich zu freien Schulen relativ niedrig ist. Dies ermöglicht ein erstes Kennenlernen zu einem günstigen Preis. Allerdings gibt es auch einige Nachteile. Viele TeilnehmerInnen nutzen die günstige Gebühr, um mal »reinzuschnuppern«, haben mehr Neugier als ernsthaftes Interesse. Demzufolge sind viele Gruppen nicht sehr konstant, was für das Lernklima ungünstig ist. Und es ist nicht sicher, ob sich im nächsten Semester genügend Fortgeschrittene für einen weiteren Kurs anmelden, so dass die Übriggebliebenen eventuell mit Neueinsteigern von vorne beginnen.
An sich muss ein offener Unterricht, in dem verschiedene Lernstufen zusammenkommen, kein Nachteil sein. Allerdings wird dabei mehr Flexibilität von der Lehrkraft gefordert und mehr Selbstständigkeit von den TeilnehmerInnen, da sie auch alleine üben müssen. Andererseits ist das ein guter Schritt zum selbstständigen Üben zu Hause und es hat sich gezeigt, dass neu Hinzugekommene von den Fortgeschritteneren profitieren und dadurch schneller lernen können.
Ein weiterer potenzieller Nachteil der geringen Gebühr ist das niedrige Honorar der Lehrkräfte. Professionelle Taiji-LehrerInnen sind mitunter nicht mehr bereit für so wenig Geld zu arbeiten, denn damit können sie ihre Lebenshaltungskosten nicht bestreiten.
Neben Volkshochschulen haben auch andere Einrichtungen zur Erwachsenenbildung Taijiquan im Programm, es hat Einzug in Sportvereine und Fitnessstudios gehalten. Sportvereine sind in der Regel preiswerter, Fitnessstudios bieten dafür noch den dort üblichen »Wellness-Bereich« mit Sauna und Pool.
Eine etwas andere Art Taijiquan zu üben sind Ferienkurse. Diese haben den Vorteil, dass alle TeilnehmerInnen aus dem oft recht stressigen Alltag herauskommen und Taijiquan in schöner Urlaubsumgebung genießen können. Die Lernatmosphäre ist entspannter und intensiver, da in der Regel jeden Tag mehrere Stunden geübt wird. Solche Kurse können ein guter Einstieg sein und kommen auch Menschen entgegen, die aufgrund ihrer Arbeitszeiten nicht an regelmäßigem Unterricht teilnehmen können. Das so kompakt erworbene Können schwindet allerdings leicht wieder, wenn man zu Hause nicht kontinuierlich weiterübt.
Gruppen- oder Einzelunterricht
Überwiegend wird Taijiquan in Gruppen gelernt. Die Gruppengröße kann dabei von wenigen TeilnehmerInnen bis zu über 20 Personen variieren. In den freien Kursen und Taiji-Schulen sind die Gruppen eher kleiner, bei Volkshochschulen und Sportvereinen können sie sehr groß werden. Natürlich gibt es in einer kleineren Gruppe mehr Möglichkeiten, auf die individuellen Bedürfnisse der TeilnehmerInnen einzugehen sowie genauer und häufiger zu korrigieren.
Neben den sozialen Kontakten bietet eine Gruppe im Gegensatz zum Einzelunterricht auch die Aussicht sich etwas zu verstecken. Die Aufmerksamkeit der Lehrkraft verteilt sich auf alle Anwesenden. Und es ist beruhigend zu sehen, dass alle so ihre Schwierigkeiten haben. Einzelunterricht hingegen ist viel intensiver, was mitunter schwer auszuhalten sein kann. Bei gutem Unterricht sollte aber auch hier der Stress außen vor bleiben.
Allerdings soll das nicht heißen, dass Taijiquan ohne Bemühen gelernt werden kann. Und um wirklich gut darin zu werden, gehört das so genannte »Bitter Essen«, an seine Grenzen gehen und darüber hinaus, dazu. In der Tradition gab es immer Schüler (meistens Männer) und Meisterschüler (meistens die Söhne). Die Meisterschüler lernten alles, was der Meister ihnen beibringen konnte, und sie wurden dabei »richtig rangenommen«.
Taiji-LehrerInnen und – MeisterInnen
Nun sind die meisten Menschen, die heute mit Taijiquan beginnen, nicht (gleich) daran interessiert, unbedingt alles zu lernen, sondern sie wollen erst mal guten Unterricht finden, möglichst in der Nähe. Hier ist das eigene Gespür gefragt, denn es gibt keinen objektiven Maßstab dafür, wer eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer ist. Es gibt viele, die schon lange unterrichten, es gibt viele, die ein Zertifikat von einem hiesigen Ausbildungsinstitut haben oder gar eines aus China. Aber das alles sagt nichts Genaues aus. Es gibt keine offiziell anerkannte Ausbildung für den Beruf »Taiji- LehrerIn«. Dementsprechend können alle machen, was sie wollen, jeder Mensch kann sich Taiji-LehrerIn nennen. Leider gibt es immer wieder welche, die selbst nur wenig gelernt haben und trotzdem mit dem Unterrichten anfangen. Zu verhindern ist das nicht. Mittlerweile gibt es einige Verbände und Ausbildungsinstitute, die Richtlinien beziehungsweise Kriterien erstellt haben, nach denen LehrerInnen ausgebildet werden. Wer bei solchen LehrerInnen beginnt, hat zumindest die Gewähr, dass dieser Mensch wesentliche Grundkenntnisse im Taijiquan erworben hat. Da solche Ausbildungskriterien und die damit verbundenen Bescheinigungen relativ neu sind, gibt es andererseits viele Taiji-LehrerInnen, die schon zehn und mehr Jahre unterrichten und keinerlei Zertifikat vorweisen können, weil es damals nichts dergleichen gab. Auch Zertifikate aus China sagen nicht viel aus, wenn man nicht weiß, ob sie durch eine fundierte Ausbildung oder vielleicht einen Kurzlehrgang erworben wurden. Manche EinsteigerInnen wünschen sich eine Lehrkraft direkt aus China. Auch damit kann man Glück und Pech haben. Nicht alle ChinesInnen, die Taiji-Unterricht als Einkommensmöglichkeit entdeckt haben, sind dafür ausgebildet. Und die klassische Art, wie in China Taijiquan (und anderes) gelernt und gelehrt wird, heißt: nachmachen, nachmachen und nachmachen. Erklärungen sollte man nicht erwarten und Fragen stellen wäre unhöflich. Wenn man durch seinen Eifer zeigt, dass man ernsthaft am Taijiquan interessiert ist, wird man als SchülerIn ernst genommen.
Diese Art des Unterrichts ist für uns Westler recht ungewohnt. Da wir daran gewöhnt sind, dass alles erklärt wird, lernen wir viel über den Kopf, über den Verstand. Nachmachen bezieht stärker das »Körpergedächtnis« mit ein, das bei uns weniger ausgeprägt ist. Daher tun sich viele leichter, wenn Erklärungen hinzukommen, die für uns Westler verständlich sind. Mittler- weile gibt es einige ChinesInnen, die ihre Unterrichtsweise auf EuropäerInnen ausgerichtet haben. In jedem Fall ist es empfehlenswert, auch mal von einem Chinesen oder einer Chinesin zu lernen.
Und dann gibt es ja noch den Begriff »Meister/Meisterin«, der nahe legt, dass der Mensch, der so angeredet wird, auch wirklich was von seinem/ihrem Fach versteht. Im Gegensatz zum Handwerk ist dieser Begriff beim Taijiquan aber nicht geschützt und jeder Mensch kann sich Meister oder Meisterin nennen. Traditionell ist dies ein Ehrentitel, den jemand verliehen bekommt von anderen, die wiederum schon auf einer höheren Stufe stehen. Er setzt neben den eigenen fortgeschrittenen Fähigkeiten voraus, dass man bereits gute SchülerInnen ausgebildet hat. Eine weitere Steigerung und offiziell ziemlich selten ist der Titel »GroßmeisterIn«, den nur einige wenige Vertreter jeder Stilrichtung zugesprochen bekommen.
Es gibt durchaus einige MeisterInnen und sogar Großmeister des Taijiquan, die auch im Westen unterrichten und wesentlich dazu beitragen, das Niveau dieser Kunst anzuheben. Eine gewisse Skepsis gegenüber derartigen Titeln kann jedoch nicht schaden. Höfliche SchülerInnen neigen dazu, ihreN LehrerIn mit »MeisterIn« oder »GroßmeisterIn« anzureden, auch wenn sie die tatsächliche Qualität seines Könnens gar nicht beurteilen können.
Schein und Sein, das ist auch im Taijiquan die Frage. Manch unscheinbarer Mensch in Jeans und Latschen kann näher am Wesen des Taijiquan dran sein als jener, der in einem hübschen Taiji-Anzug aus Chinaseide adrett gescheitelt breit lächelt. Die für das Taijiquan wichtige innere Bewegung ist unabhängig von äußeren Merkmalen wie Kleidung und Frisur und es bedarf einiger Erfahrung um an den äußeren Bewegungen eines Menschen erkennen zu können, wie weit dieser im Taijiquan fortgeschritten ist.
Und ein Mensch, der zweifelsfrei ein gutes Taijiquan macht, muss noch lange kein guter Lehrer sein. Die Fähigkeit des »Unterrichten-Könnens« leitet sich nicht automatisch aus der Fähigkeit des »Sich- bewegen-Könnens« ab. Didaktisch-methodische Fähigkeiten müssen sich mit den motorischen Fähigkeiten verbinden, um einen guten Taij-Unterricht zu ermöglichen. Auch hier bedarf es der Geduld und der Entwicklung des richtigen Gespürs.
Nun, es gibt einiges zu bedenken, wenn man Taijiquan lernen will. Dabei sollte man am Anfang nicht zu viel nachdenken, sondern »einfach nur entdecken«. Das Wichtigste ist wie so oft einfach: Immer wieder üben – möglichst jeden Tag.
Dieser Artikel stammt aus dem Sonderheft Taijiquan für Einsteiger des TQJ.