Erfahrungsbericht „19. Tai Chi Caledonia“

19. Tai Chi Caledonia 13. bis 20. Juni 2014 in Sterling (UK)

Zum neunzehnten Mal fand im Juni Tai Chi Caledonia statt, ein Treffen für Qigong, Taijiquan und andere innere Künste. Von Ronnie Robinson und zahlreichen HelferInnen sehr professionell organisiert bot das Festival ein vielfältiges Programm und reichlich Gelegenheit zu Austausch und gegenseitigem Kennenlernen. Sören Altstaedt ist 22 Jahre alt und lernt seit 4 Jahren bei Roberta Polizzi aus Hamburg Taiji, Qigong und Tuishou. Er war nicht nur vom Treffen selbst, sondern auch von der schottischen Kulisse sehr beeindruckt.

2015 wird das Festival vom 17. bis 24. Juli stattfinden und dabei sein 20-jähriges Jubiläum feiern.

Tai_Chi_Caledonia_2014

Freitag, 13. Juni 2014. Als wir am Nachmittag nahe Glasgow landen, hängt die Wolkendecke tief über den weiten grasbedeckten Ebenen, in deren Mitte der Flughafen liegt wie eine einsame graue Insel. Ein ernüchternder erster Anblick. Und doch wohnt dieser Kulisse eine ganz und gar eigenartige Erhabenheit inne, die einen ergreift, bevor man sich dessen überhaupt gewahr wird. Das weitläufige, wolkenbehangene Meer aus Grün, das in noch weiter Ferne an die ersten Betonburgen Glasgows brandet, und seine ausgestreckten Höhenzüge, die bald, wie ungeheure Wellenschläge, über die graue Stadt einzubrechen scheinen. Doch die ersten Wogen der Reiseromantik verschwimmen vorerst in den gewaltigen Strömen des Flughafen-Wirrwarrs.

Nach kurzer Zeit im Getümmel begegnen wir der warmherzigen kleinen Frau, die uns zum Ziel unserer Reise, nach Stirling zum Universitäts-Campus, bringen wird. Christie ist eine Schülerin von Ronnie Robinson, dem Veranstalter des Festivals, der uns in der kommenden Woche noch sehr viel Freude bereiten wird. Noch eben ein paar Euros in schottische Pfund umgetauscht und schon sitzen wir in Christies Mini auf dem Weg zum Tai Chi Caledonia Festival 2014, welches dieses Jahr zum 19. Mal stattfindet.

RonnieNach eineinhalb Stunden Fahrt erreichen wir den Wohnbereich des Campus. Die Wolken haben sich inzwischen gelichtet und die Nachmittagssonne wirft ihr Licht auf die kleinen Holzhütten, die für die nächsten sieben Tage unsere Unterkunft sein werden. Die „Chalets“, wie sie hier genannt werden, liegen am Fuße eines bewaldeten Felsens, auf dessen Rücken das Wallace-Monument thront; ein 67 Meter hoher Turm im neugotischen Baustil, welcher zu Ehren des schottischen Nationalhelden William Wallace errichtet wurde und nun über diese geschichtsträchtigen Gefilde ragt. In den Chalets gibt es jeweils vier bis fünf Einzel- und zum Teil auch Doppelzimmer, zwei separate Duschen und eine Gemeinschaftstoilette sowie eine gemeinsame Küche mit reichlich Sitzgelegenheiten.

Wir bringen noch eben Koffer und Taschen in unser Chalet und gehen dann runter in den Ort, um etwas zu essen zu bekommen. Nach einiger Zeit landen wir in einem urigen Pub, der von einem etwa Mitte 50-jährigen, äußerst beherzten Mann bewirtschaftet wird, der scheinbar nahezu alle Klischees über Schotten bedient, die man sich vorstellen kann. Wir mögen diesen gemütlichen Ort und verbringen die restliche Zeit bis zum offiziellem Empfang hier.

Der Empfang findet in einem großen Zelt neben den Chalets statt, das anlässlich des Festivals aufgebaut wurde und in dem auch Workshops und andere Veranstaltungen der Woche stattfinden sollen. Drinnen riecht es latent nach Pferd und anderen Nutztieren und zudem frage ich mich, wie hier alle Workshops auf einmal stattfinden sollen, denn das Zelt ist zwar groß, jedoch auch die Anzahl der an Tai Chi Caledonia teilnehmenden Menschen.

IMG_1598Ronnie übernimmt das Wort zum Geleit und erzählt etwas über die Geschichte des Festivals sowie über die Organisation des diesjährigen Tai Chi Caledonias. Schnell wird mir die durch und durch gute Organisation und Struktur bewusst, die, wie Ronnie betont, mit Hilfe vieler freiwilliger Helferinnen und Helfer umgesetzt wurde. Am Wochenende gibt es jeweils von 10 bis 12.30 Uhr und von 14 bis 16.45 Uhr diverse Workshops à 45 Minuten. Dies kommt zum einen denjenigen entgegen, die nur am Wochenende teilnehmen können, da sie so viele verschiedene Inhalte vermittelt bekommen. Zum anderen gibt dies den an der gesamten Woche Teilnehmenden die Möglichkeit, sich einen Überblick über die Inhalte der vertiefenden Workshops in der Woche zu verschaffen. Denn von Montag bis Donnerstag finden jeweils zweieinhalb Stunden vormittags und nachmittags Workshops statt, so dass man die spezifischen Inhalte bei zwei der Lehrenden weiterentwickeln und festigen kann.

Darüber hinaus ist bereits für (genug) Essen gesorgt. Morgens wird in den Küchen der Chalets für sich gefrühstückt. Die gewünschten Lebensmittel werden in Absprache mit dem Organisationsteam bereitgestellt. Zum Mittag gehen alle gemeinsam in die Campus-Mensa der Universität, wo es jeden Tag frisch zubereitetes Essen sowohl für Fleischesser als auch für Vegetarier sowie Veganer geben wird. Zudem ist im Voraus die Organisation der Chalets sehr liebevoll gehandhabt worden. Zwar sagt Ronnie nichts davon, jedoch ist klar, dass er und sein Team äußerst bedacht die Teilnehmenden auf die Chalets verteilt haben, so dass sehr harmonische Einheiten entstanden sind.

Nach der Eröffnungsveranstaltung pushen einige noch im Zelt, andere laufen unterschiedlichste Formen draußen auf den Wiesen vor den Chalets und wieder andere kommen einfach bei einem Bier zusammen und verbringen den Abend mit Gesprächen.

Am Samstagmorgen versammeln wir uns zunächst in einem Hörsaal der Universität, wo die Lehrenden sich und ihre Workshops vorstellen. Der Weg vom Wohnbereich zum Hauptcampus führt über einen licht bewaldeten Hügel. Sobald man den Kamm erreicht, bietet sich einem ein Anblick, den man so schnell nicht vergessen wird: In der Ferne ragen die ersten grün bewachsenen Ausläufer der Highlands hoch empor und fangen noch die Strahlen der Morgensonne ein. Auf halber Höhe breitet sich eine Rhododendron-Kolonie aus, die auf die Entfernung bloß einen purpurnen Akzent setzt. Wenn man den Blick vom majestätischen Bergmassiv auf die Ebene davor senkt, fällt einem der Hauptcampus der Universität Stirling ins Auge, der sich um einen See herum zusammen mit kleinen Parks ausbreitet.

IMG_1255Von dieser Aussicht gepackt gehen wir also zur morgendlichen Versammlung, um die Lehrenden kennenzulernen. Insgesamt sind elf Lehrende angereist, unter ihnen internationale Größen wie Gianfranco Pace, Barry McGinlay und Sam Masich. Sie alle haben sehr interessante Workshops vorbereitet und ich persönlich bin fast ein bisschen überfordert, eine Auswahl zu treffen, schaffe es dann aber doch rechtzeitig zu Beginn des Programms. Die Workshops finden unter freiem Himmel statt, da die Sonne uns während der gesamten Woche für Schottland ungewöhnlich warme Temperaturen beschert. Die Wiesen rundum die Chalets sind eine allseits sehr begrüßte Alternative zum Zelt.

Insgesamt finde ich allerdings, dass 45 Minuten zu kurz sind, um jegliche Inhalte der Körperarbeit wirklich zu vermitteln. Dennoch bin ich mit dem Wochenendprogramm zufrieden, da es trotz aller gebotenen Kürze didaktisch von den Lehrenden gut gelöst ist und mich eine sehr spannende Woche voll Taiji erwartet.

Die Workshopwoche beeindruckt und bereichert mich sehr. Die Prinzipien der Erdung und Entspannung sowie Anwendungen sind für Einsteiger wie Fortgeschrittene interessant und lehrreich thematisiert. Die einzelnen Workshopsitzungen bauen zwar Tag für Tag aufeinander auf, jedoch wechseln einige Teilnehmende von Tag zu Tag die Workshops und sind damit glücklich. Abends wird im Zelt bei angenehmer Musik gepusht, wobei Ronnie im Voraus auch Abendprogramme organisiert hat. Am Sonntagabend zum Beispiel sind wir mit allen Teilnehmenden in Stirling zunächst essen und dann auf einem Stadtbummel durch die Altstadt hin zur Burg, welche dort im 13. Jahrhundert erbaut wurde.

Wohlgenährt bahnen wir uns also den Weg durch die kleine Stadt, als es bereits dämmert. Die verwinkelten engen Gassen, die zwischen den rußgrauen Arbeiterhäusern des 19. Jahrhunderts bergauf zur Burg führen, werden allmählich erobert von der blauen Stunde. Es will Abend werden in Caledonia und von der Burg aus überblickt man das gesamte Gebiet rundum die ehemalige Hauptstadt Schottlands, auf der nun das Dämmerlicht liegt wie eine schützende Hand. Hier oben verbringen wir noch eine ganze Weile, bis die Sonne ganz und gar untergegangen ist.

IMG_1228-1Am Dienstagabend findet eine Demonstration von Anwendungen seitens der Lehrenden statt, die zum Ziel hat, sich über die unterschiedlichen Stile und ihre Formen auszutauschen. Zwar sind hier ein Lehrer und ein Mann aus dem Publikum unangenehm aneinandergeraten, was seitens der Lehrenden noch in den folgenden Tagen für manche Empörung und „geheime“ Krisensitzungen sorgte, jedoch finde ich den Abend sehr gelungen und auch der Rest der Teilnehmenden schenkt der kleinen Reiberei wenig Beachtung.

Am Mittwoch versammeln wir uns nach einem weiteren Tag intensiven Taiji-Trainings gegen Abend im Zelt, um bei einer Whiskey-Verkostung Ideen für das nächste Tai Chi Caledonia Festival 2015 zu sammeln, welches dann sein 20. Jubiläum feiern wird. Im Anschluss findet noch eine spontane Party im und um das Chalet von Barry McGinlay und seinen Schülern statt, die bei manchen Teilnehmenden (unter anderem auch mir) am nächsten Tag etwas Kopfschmerzen hinterlässt. Dies hält uns jedoch nicht im geringsten davon ab weiter zu üben.

Am Donnerstag findet dann nach einem letzten Tag anregender Workshops die Abschlussveranstaltung statt, zu der sich alle Teilnehmenden und Lehrenden nochmals im Zelt zusammenfinden, um einen gemeinsamen Abend zu verbringen. Es wird geplaudert und getrunken und die letzten Tai Chi Caledonia Fanartikel wechseln zu mehrfach reduzierten Preisen ihre Besitzer. Auch der letzte Abend auf dem Campus ist mild und angenehm. Eine Woche wundervoller Eindrücke und vieler neuer Anregungen für die Vertiefung meines Taiji liegt hinter mir und ich bin sehr zufrieden.

Am Freitagmorgen verlassen wir den Campus. Das Zelt wird abgebaut und viele der Teilnehmenden und Lehrenden liegen sich zum Abschied in den Armen. Man hat neue Freunde gewonnen und sieht einem Wiedersehen mit Freude entgegen.

Als wir am Samstag gegen Mittag von Glasgow abheben, hängt dort nicht eine Wolke über den weiten grasbedeckten Ebenen. Ein traumhafter, vorerst letzter Anblick. Die Woche Tai Chi Caledonia im Herzen Schottlands war eine außergewöhnliche Erfahrung für mich und ich freue mich bereits auf 2015, wenn das Festival 20 wird, denn Ronnie und sein Team sind jetzt schon dabei, ein – wie sie sagen – außergewöhnliches Tai Chi Caledonia vorzubereiten.

Video vom Tai Chi Caledonia 2012

mit vielen Stimmen von Teilnehmern und Eindrücken des Treffens

Surfftipps zu Tai Chi Caledonia

Infos zu Tai Chi Caledonia gibt es unter: http://www.taichicaledonia.com/

Videos Tai Chi Caledonia 2014

Tai Chi Caledonia 2013

Dieser Artikel ist auch bei unserem Kooperationspartner im Taijiquan und Qigong Journal erschienen und wird in kürze auch in Englisch im Tai Chi Magazin erscheinen.

Autor: Sören Altsteadt

Fotos: Nils Klug