Taiji- Energien: Anhaften, hören und interpretieren

Die anhaftende, die hörende und die interpretierende Energie des Taijiquan sind die Grundlage für eine effektive Selbstverteidigung und für die Anwendung weiterer Energien im Zweikampf und in Partnerübungen.

Anhaftende Energie – Zhan Nian Jin
Hörende Energie – Ting Jin
Interpretierende Energie – Ding Jin

Die wesentliche Energiearbeit ist im Taijiquan vor allem über Partnerübungen erfahrbar. Die Grundlage für eine gute Partnerarbeit ist die Sensibilität für eigene Energien. Diese kann man durch unterschiedliche Qi Gong-Übungen und durch die Taiji-Formen erfahren. Selbstverständlich fördern auch die Partnerübungen eine bessere Selbstwahrnehmung. Doch die Gefahr bei Partnerübungen ist die zu starke Konzentration auf den Partner und dessen Energien. Darum ist es wichtig, zu Beginn erst den eigenen Körper und die eigenen Energien kennenzulernen.

Mit der anhaftenden Energie kann ein Höchstmaß an Nachgiebigkeit entwickelt werden. Das ermöglicht es dem Taiji-Adepten, in einer beständigen Weise am Körper des Gegners kleben zu bleiben und ihn und seine Bewegungsrichtungen zu spüren. Die hörende Energie erlaubt es, die Absichten des Gegners zu fühlen, noch bevor er diese ausführen kann. Die interpretierende Energie dient der natürlichen Anpassung eigener Bewegungen und Absichten an die Bewegungen und Absichten des Gegenübers. So ist es möglich, spontan und unbefangen zu agieren.

Die anhaftende Energie

TaijiEnergienDer große Vorteil der anhaftenden Energie besteht in der relativ schweren Abwehr. Es ist für den Partner oder Gegner immens schwierig, einen entspannten Körper zu fassen. Es ist, als wolle man einen Pudding an die Wand nageln. Die anhaftende Energie ist die wichtigste Grundlage der Selbstverteidigung im Taijiquan. Taijiquan wird oftmals als chinesisches Schattenboxen übersetzt. Dies ist unter Berücksichtigung der anhaftenden Energie reinweg richtig, denn durch das beständige Klebenbleiben am Partner entsteht das Bild eines Schattens: Der Gegenüber macht eine Bewegung und der Taiji-Adept folgt dieser Bewegung – eben wie ein Schatten. Dies gelingt aber nur, solange man sich frei und ungehindert bewegen kann. Das heißt, dass keine unnötige Muskelspannung bestehen darf, die erst gelöst werden müsste.

Die anhaftende Energie wird mit der klebenden Energie gleichgesetzt. Dies ist aber nur zum Teil richtig. Das Anhaften ist nämlich ein anderer Vorgang als das Klebenbleiben – dennoch gehören beide Aspekte zusammen und werden unter dem Namen „Anhaftende Energie“ zusammengefasst. Es geht darum, einen Kontaktpunkt zwischen einem selbst und dem Gegenüber herzustellen. Dafür können Körperteile, Waffen und Gegenstände benutzt werden. Im fortgeschrittenen Stadium besteht der Kontakt einzig auf der geistigen Ebene und ein materieller Kontakt im Sinne körperlicher Berührungen ist nicht mehr erforderlich.

Um die anhaftende Energie zu kultivieren, ist es wichtig, sich im Partnertraining auf die eigene Wahrnehmung zu konzentrieren und nicht so sehr darauf, den Gegenüber zu stoßen oder zu schieben. Darum ist auch die Übersetzung „push hands“ nur teilweise geeignet um das Üben von Tui Shou zu beschreiben.

In vielen anderen Kampfstilen gibt es jene anhaftende Energie. So zum Beispiel im Wing Tsun, im Gojuryu Karate, im Judo, im Aikido und in einigen „weichen“ Samurai-Kampfschulen.

Die hörende Energie

Hören meint hierbei nicht die Sinneswahrnehmung, die mit dem Ohr verbunden ist, sondern eher eine Feinfühligkeit an der gesamten Körperfläche. Wenn es nämlich gelingt, den Kontakt zum Gegner aufrecht zu erhalten, also an ihm kleben zu bleiben, dann ist es auch möglich, in den gegnerischen Körper hinein zu spüren, um zu erkennen (um zu hören), wo er sich als nächstes hinbewegen wird. Damit sind zum einen die körperliche und zum anderen die geistige Bewegung gemeint.

Man kann einem Gespräch nur folgen und angemessene Antworten liefern, wenn man den Teilnehmern zuhört. Reden diese zu laut, zu leise oder kommt anderer Lärm hinzu, kann es zu Kommunikationsschwierigkeiten kommen. Genauso verhält es sich mit der hörenden Energie. Um den Gegner hören zu können, muss man selbst still sein. Wer nur mit sich selbst beschäftigt ist, hat kein Ohr für andere. Wer in einem Kampf nur an sich denkt, der wird den Gegner nicht treffen können.

Der wichtigste Sinn für die hörende Energie ist der Tastsinn. Je feiner dieser ausgebildet ist, desto besser kann man Bewegungen des Gegners im Ansatz erkennen, ohne sie erst mit den Augen sehen oder mit den Ohren hören zu müssen. Die einzigen Bedingungen sind der permanente Kontakt zum Gegenüber und die eigene Ruhe, um hören zu können. Die hörende Energie ist gut geeignet, um Lücken in der gegnerischen Verteidigung aufzuspüren. Innerlich ist man hellwach und in einer Hab-Acht-Haltung, äußerlich haftet man geschmeidig und ruhig am Partner an.

Tai Chi Partnerarbeit

Die interpretierende Energie

Die Voraussetzung für Interpretationen sind Reize, die gedeutet werden können. Im Falle des Taijiquan bedeutet dies, dass man erst etwas hören muss, bevor man es interpretieren kann.

Natürlich meint das Wort „Interpretation“ nicht eine Auslegung von Reizen auf der intellektuellen Ebene. Die interpretierende Energie ist eine Form sinnlicher Wahrnehmung und Reaktion. Durch die hörende Energie spürt der Taiji-Adept die Bewegungsansätze in seinem Partner. Er weiß, wo dieser hin will und was er vorhat. Dieses erfühlte Wissen kann er nutzen, um bestimmte Wege beim Gegner zu blockieren, so dass dessen Handlungsfreiraum immer weiter eingeschränkt wird. Dafür bedarf es aber keiner geplanten strategischen Maßnahmen. Vielmehr ist eine hohe Flexibilität erforderlich, die es möglich macht, ohne nachzudenken, sofort zu reagieren.

Die interpretierende Energie soll den Taiji-Adepten dazu befähigen, die Verwurzelung des Partners zu erkennen, die Qualität der Entspannung einzuschätzen, die Gewichtsverteilung zu erspüren und den Atem sowie die Absicht korrekt einzuschätzen.

Die Energien sind nicht voneinander getrennt, sondern wirken gemeinsam:

Die anhaftende Energie erlaubt das Klebenbleiben und das Hören. Das Hören ermöglicht das Interpretieren. Es erlaubt auch den Veränderungen des Partners zu folgen, also klebenzubleiben, um dann entsprechend reagieren zu können. Um die Energien effektiv zu nutzen, ist eine gründliche Selbstforschung in der Taiji-Form und in der Partnerarbeit erforderlich, denn was man in sich selbst nicht wahrnehmen kann, wird man auch nur sehr schwer in einem anderen Menschen wahrnehmen können. (Christoph Eydt)

 

Literatur
HAGEN, Stephan (Hrsg.): Die praktische Seite des Tai Chi Chuan. Anwendungen und Variationen. Hamburg: Kolibri Verlag, 1996.
OLSON, Stuart (Hrsg.): Das Wesen des Taiji-Quan. Die geheimen Trainingsdokumente der Familie Yang. Bielefeld: Theseus Verlag, 2010.
SILBERSTORFF, Jan: Schiebende Hände. Die kämpferische Seite des Taijiquan. Kein Ort: Lotus Press Verlag, 2008.
Fotos: taiji-forum.de