Das Buch der Wandlungen – I Ging / Yijing

I Ging - Buch der Wandlung

Ein fliegender Drache am Himmel:

Das Buch der Wandlungen

Ein Buch mit einer 3000-jährigen Entwicklungsgeschichte

I Ging / Yijing: Das Buch der Wandlungen

Das Buch der Wandlungen (chin.: Yijing; alte Umschrift: I Ging) gilt in Ostasien als ältester Klassiker, als ein Werk, das in seiner Bedeutung für die Entwicklung der Kultur mit der Bibel zu vergleichen ist. Der Unterschied besteht allein darin, daß das I Ging nie mit einer spezifischen Religion identifiziert war. Es hat zwar die drei großen chinesischen Religionen (Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus) tief beeinflußt und ist von deren Anhängern vielfach kommentiert worden. Doch die Grundbotschaft des Buchs der Wandlungen ist eine humanistische: Es geht in ihm um die Frage, wie der Mensch in einem Kosmos, in dem sich unablässig alles im Wandel befindet, ein dao finden kann, seinen Weg des Vertrauens in den Wandel.
Die frühesten Schichten (Die Linientexte, die Urteilstexte) des I Ging sind ungefähr zu Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends entstanden. Es ist allerdings noch nicht geklärt, ob diese Texte älter sind als die Yin-Yang-Symbole der Trigramme und Hexagramme oder ob sie erst im Nachhinein zu diesen hinzugefügt wurden. Bis zum dritten Jahrhundert vor Christus wurde das I Ging hauptsächlich als Orakelbuch verwendet. Es wurde vor allem von Machthabern in politischen und militärstrategischen Fragen zu Rate gezogen. Seinen eigentlichen „Aufstieg“ zum ersten Klassiker des konfuzianischen Kanons in der Zeit der frühen Han-Dynastie (206 v. Chr. – 8 n. Chr. ) begann jedoch erst mit der philosophischen Interpretation durch Gelehrte, die konfuzianische, daoistische Ideen mit Elementen der Yin-Yang-Schule verknüpften. Sie verfaßten die sogenannten „Zehn Flügel“ (shiyi) – Kommentare und Traktate, die dem Orakelbuch eine völlig neue Dimension gaben: Der Akt der Befragung und Deutung, die Struktur der Linien und Zeichen, die Bilder der Trigramme und Hexagramme wurden in einem eigenartigen und einzigartigen geistigen Weltbild zu einer Vision der Schicksalsgesetze des Menschen im Kosmos verschmolzen. Dieses Weltbild hatte den Vorteil, daß es einerseits klare Antworten auf Entscheidungsfragen zu geben vermochte, daß es aber andererseits verschiedenen Perspektiven und Deutungen offen war. So ist es zu verstehen, daß das Buch der Wandlungen in den zwei Jahrtausenden der Geschichte des Kaiserstaates der bedeutendste Klassiker war, der Gelehrte, Politiker, Naturwissenschaftler und Ärzte, Mönche und Künstler gleichermassen inspirierte.
In Europa erfuhr man vom Buch der Wandlungen schon im 17. Jahrhundert. Gottfried W. Leibniz war verwundert und begeistert von seiner mathematischen Struktur, stimmte sie doch weitgehend mit der Dyadik (dem binären Code) überein, die er als erster vollständig dargestellt hatte. Doch es war erst die epochale Übersetzung von Richard Wilhelm, der sich zu Beginn des 20.Jahrhunderts 10 Jahre der Übersetzung des I Ging gewidmet hatte, die dieses Buch im Westen weithin bekannt werden ließ. Seitdem wird das I Ging auch im Westen von Menschen verschiedener Lebensbereiche studiert und befragt: Künstler, Therapeuten und Schriftsteller lassen sich von ihm seit Jahrzehnten inspirieren, sowohl von seiner Bildlichkeit und seiner eindrucksvollen Struktur (vgl. das Glasperlenspiel von Hermann Hesse!) wie auch von seiner divinatorischen Wirkung, Entwicklungstendenzen des Kommenden besser einschätzen zu können.
Wenn man die Frage nach dem „wahren“ I Ging (nach der „wahren“ Bedeutung und der „richtigen“ Deutung eines Urtexts) stellt, wird man nicht leicht einfache Antworten finden. Bisher konnte keine Entdeckung vorchristlicher Manuskripte des I Ging die Frage beantworten, warum dieses Buch in späteren Jahrhunderten (in denen der Text teilweise gänzlich anders lautete und gelesen wurde) als Schatzkammer des höchsten Sinnes verstanden wurde, als Garant einer Ordnung des Lebens, die durch nichts erschüttert werden kann. Und so scheint es mir am hilfreichsten, dieses merkwürdige Buch selbst als ein Wesen zu verstehen, das sich in dauerndem Wandel befindet: Seit drei Jahrtausenden getragen durch seine klare Struktur, seine Bilder und Symbole, die gleichermassen Ordnung und Offenheit, präzise Antworten und vielfältige Deutungen, eindeutige Werte und flexible Umsetzungen dieser Werte ermöglichen.

Ein geistiges Bild der Welt in Liniensymbolen und Bildern

Die Welt mit ihren unzähligen subtilen Veränderungen und Wandlungen wäre ein Chaos, wenn diese nicht in einer Ordnung eingebettet wären, die der Mensch symbolisch beschreiben und für sein Leben fruchtbar machen kann. Die Grundbegriffe dieser Ordnung sind yin und yang – das Dunkle und das Helle, das Weibliche und das Männliche, das Weiche und das Harte…es sind die Pole, zwischen denen sich das Leben in Makrokosmos und den Mikrokosmos entfaltet und in unendlichen Variationen gestaltet. yin und yang sind jedoch tatsächlich Pole einer Einheit und keine Gegensätze. Diese Einheit wird seit dem 12. Jahrhundert n. Chr. als Höchstes Äußerstes, als Taiji bezeichnet.
Die beiden Liniensymbole des durchgehenden Yangstriches und des gebrochenen Yin-Striches sind der Code, aus der sich die mathematische Symbolstruktur des I Ging entfaltet. Durch die Verdreifachung der Linien entstehen komplexere Symbole – die acht Trigramme (bagua). Diese bagua bilden die Grundbausteine des I Ging: Sie symbolisieren Naturkräfte und Energien, aber auch seelische Qualitäten und Zustände. Durch die Verdopplung der Trigramme entstehen Symbole mit sechs Yin-oder Yanglinien, die 64 Hexagramme, die entweder statischen Charakter haben oder sich im Wandel zu einem der anderen 63 Hexagramme befinden können. Es war dieses in sich rein mathematische System, das Leibniz zutiefst faszinierte, da er in ihm aufschlußreiche Parallelen zu seinen Entdeckungen fand. Aber auch neuere Erkenntnisse wie die der Übereinstimmung der Hexagrammstruktur mit dem genetischen Code können sehr verblüffende Einsichten in die überzeitliche Allgemeingültigkeit dieser Struktur gewähren. (Vgl.: Martin Schönberger: Verborgener Schlüssel zum Leben – Weltformel I Ging im genetischen Code; Barth-Verlag, München 1973)
Die mathematische Struktur der Liniensymbole begann jedoch erst dadurch zu „sprechen“, daß sie mit den Bildern verknüpft wurde. So ist die Beschreibung des Trigramms qian (drei yang-Linien) als „Himmel“ und des Trigramms kun (drei yin-Linien) als „Erde“ unmittelbar einleuchtend: Himmel und Erde als die Ursymbole des Schöpferischen und des Empfangenden, des Geistigen und des Materiellen. Auch in der Dopplung haben die Hexagramme die Bedeutung Himmel und Erde. Sie stellen die ersten zwei Hexagramme des I Ging dar. Schwieriger ist manchmal das Verständnis komplexer Hexagramme. Warum, so könnte man fragen, symbolisiert Hexagramm 11, tai (unten: Himmel, oben: Erde) den Frieden? Und warum charakterisiert das Zeichen bi (oben:Himmel, unten: Erde) die Stockung?
Es braucht einige Zeit, mit der Bildersprache des I Ging vertraut zu werden und seine vielfältigen inneren Zusammenhänge zu verstehen. Doch wer sich auf den Weg macht, der wird vielfach belohnt. Er kann das Leben von Mensch und Natur in seinen Rhythmen und Möglichkeiten, in seinem Reichtum und seinen Entwicklungsgesetzen mit neuen Augen sehen lernen und somit teilhaben an einem uralten schamanischen Wissen, das im Herzen des Buchs der Wandlungen bis heute pulsiert.

Die Befragung des I Ging

Aus einer aufgeklärt-europäischen Sicht ist die Befragung des I Ging mit Hilfe von Münzen bzw. Schafgarben ein „reiner“ Zufall und kann somit keinen Wahrheitsanspruch erheben. Doch diese Sicht entspringt einem Welt- und Zeitverständnis, in dem der Zufall als etwas Willkürliches, Unabsehbares und Unverständliches gesehen wird. In Ostasien gehört er jedoch traditionell zu einem Kontinuum von sichtbarer und unsichtbarer Welt, das zu verstehen ein Orakel helfen kann. Der „Zufall“ hat hier eine ähnliche Bedeutung, wie wenn man plötzlich ein Gedicht oder eine Passage in einem Buch findet, die exakt auf eine Frage antwortet, die man im Herzen trägt. Ähnliches kann sich auch im Gespräch mit Freunden oder Fremden ereignen: Unerwartet sagt jemand etwas sehr Bedeutsames, das sich wie ein Puzzlestein in das Bild der Lösung eines wichtigen Problems einfügt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Befragung des I Ging ist die Selbsterkenntnis: Nur, wer seine Motive und Möglichkeiten, seine unbewußten Wirkkräfte und Aufgaben kennt, vermag in verantwortlicher Weise seine Zukunft zu gestalten. Es geht also nicht um eine reale Vorhersage eines Geschehens, sondern ausschließlich um die Frage: In welcher Situation befinde ich mich (innerlich/äußerlich) und wie kann ich gut auf diese antworten, so daß mein Leben an Tiefe und Fülle zunimmt? Auf diese Frage antworten die Bilder und Texte des I Ging, sie mit den Bildern (oder Szenen) im Traum zu vergleichen. Diese geben oft wichtige Aufschlüße über das Geschehende, die sich dem „wachen“ Bewußtsein nicht zeigen.
Ein gutes Ergebnis einer Befragung ist es, wenn man sich von dem Bild (den Bildern) des Hexagramms unmittelbar getroffen, fast ertappt fühlt: Man spürt, daß es ins Schwarze trifft, auch wenn man dieses nicht oder nicht immer ganz beschreiben kann. Man sieht einen Aspekt in seinem Verhalten (seiner Haltung), den man bis dahin nicht sehen konnte – einen Aspekt, der für die weitere Lebensgestaltung wichtig ist. Dieses Sehen entbindet jedoch nicht von Verantwortung, sondern es bedeutet im Gegenteil einen Zuwachs an Verantwortung: Je mehr ich mich und meine Wirkungen kenne, desto mehr bin ich gefordert, als moralisch Verantwortlicher, als „Edler“ zu handeln und zu reden. Aus diesem Grund ist es auch unverzichtbar, bei der Formulierung einer Frage das eigene Tun, die eigene Teilhabe am Kommenden, am Zu-Entscheidenden mit zu formulieren.

Eine existentielle Einübung: In den Wandel vertrauen lernen

Die Antwort des I Ging wird keine Zukunftsprognose sein, sondern eher ein Spiegel für die gegenwärtige Haltung bzw. Problematik. Eine neue, vielleicht sogar schon dunkel geahnte Perspektive ergibt sich durch das Hexagramm, das man erhalten hat.
Hierzu ein kurzes Beispiel aus der Beratung. Zu mir kam eine junge Frau, Jasmin*, die mit massiven Untergewichtsproblemen zu ringen hatte. Kein Arzt und keine noch so gute Ernährung hatten verhindern können, daß sie immer mehr an Gewicht verlor.
Bei der Erarbeitung der Frage stellte sich heraus, daß Jasmin neben ihrem Jurastudium arbeitete, und sich gleichzeitig in mehreren spirituellen Disziplinen trainierte. So hatte sie Jahre lang mit großer Intensität berufliche und spirituelle Ziele verfolgt und dabei manches an „gewöhnlichem“Leben vernachlässigt. Sie stellte folgende Frage: Welche Haltung hilft mir, das Gleichgewicht für meinen Körper im Alltag zu gewinnen? Die Antwort war das Hexagramm 27, „Die Ernährung“. Zentrales Thema dieses Hexagramms ist die „Pflege des Lebens“ (yangsheng) – und zwar nicht in einem rein spirituellen, sondern in umfassenden Sinn. Im ersten Linientext dieses Zeichens wurde auf Jasmins übertriebene spirituelle Suche mit dem Bild der Zauberschildkröte hingewiesen, die es loszulassen gilt. In dem daraus folgenden Hexagramm 23 „Die Zersplitterung“ wurde diese Situation der „Abgehobenheit“ noch deutlicher formuliert: Man befindet sich auf dem Plateau eines sehr hohen, von aller Welt abgeschnittenen Berges und verliert sich ein geistige Höhen.
Beide Hexagramme zeigten auf die Notwendigkeit, diesen überangestrengten Lebensstil aufzugeben und den gewöhnlichen Bedürfnissen – Freunde treffen, Spazieren gehen, Parties besuchen oder einfach mal nichts zu tun – Raum zu geben. Jasmin wehrte sich zuerst heftig gegen diesen „Spiegel“, sich von ihren Zielen zu trennen, erschien ihr wie ein Verrat an ihrem Lebenssinn. So wußte ich nicht, als sie sich verabschiedete, wie sie mit der Antwort umgehen würde. Doch einige Wochen später erzählte sie mir mit heiterer Stimme, daß sie sich von ihrem Zen-Training verabschiedet hatte, daß sie dabei sei, ihrem Leben mehr Gemütlichkeit zu schenken. Als ich sie nach einem halben Jahr sah, traute ich meinen Augen nicht: Aus der hauchdünnen und zarten Person war eine gesundaussehende, kräftige Frau geworden.
So wie Jasmin vertrauen lernte, daß sie, um gesund zu werden, alle ihre spirituellen Ziele erst einmal aufgeben muß, so kann man zu verschiedenen Formen von Verzicht oder aber auch zu energischem Handeln (z. Bsp. im Hex. 23, Das Durchbeißen, Hex. 18. Die Arbeit am Verdorbenen, Hex. 10, Das Auftreten) aufgefordert werden. Oder aber es ist eine Zeit der Besinnung und Einkehr angesagt, selbst wenn wir das Gefühl haben, unbedingt handeln und etwas bewegen zu müssen. So heißt es zum Beispiel in Hexagramm 48, der Brunnen, in einem Text:
Der Brunnen wird ausgemauert, kein Makel.

Wenn der Brunnen ausgemauert wird, so kann man ihn zwar solange nicht benützen, aber die Arbeit ist nicht vergebens; sie bewirkt, daß das Wasser klar bleibt. So gibt es im Leben auch Zeiten, in denen man sich selbst in Ordnung bringen muß. Während dieser Zeit kann man zwar nichts für andere leisten, aber sie ist dennoch wertvoll, weil man durch innere Ausbildung seine Kraft und Fähigkeiten steigert, so daß man nachher um so mehr leistet (Kommentar von R.Wilhelm)

Dr. Henrik Jäger

In den Wandel vertrauen zu lernen, heißt demnach vor allem auch, einen weiten Blick auf die Zusammenhänge und möglichen Entwicklungen einer Situation und letztlich des ganzen Lebens zu gewinnen. Es bedeutet, sich neuen Sichtweisen zu öffnen und durch diese Öffnung die Lebensenergie in neuen Bahnen und in neuer Intensität fließen zu lassen. Dies ist ein schöpferischer Prozeß, durch den zwar kein Gemälde und kein Buch entsteht, aber ein verantwortliches und vorausschauendes Leben im Gleichgewicht.
Genau hierin liegt der tiefere Sinn dieses Werkes, in dem die Erfahrungsweisheit von Jahrtausenden gespeichert ist: Auch wenn frühere Generationen in ganz anderen konkreten Umständen gelebt haben mögen, die grundlegenden Fragen und Sorgen, Ängste und Hoffnungen waren den unseren gleich. Und ebenso war ihre Sehnsucht nach einem guten Leben im Gleichgewicht der unseren ähnlich. Zu einem solchen Leben kann uns das Buch der Wandlungen wichtige Impulse geben – gleich, ob wir es als Weisheitsbuch lesen oder eine persönliche Frage stellen. Vielleicht bekommen wir dann unverhofft einmal folgenden Text zu lesen:

Keine Ebene, auf die nicht ein Abhang folgt,

kein Hingang, auf den nicht die Wiederkehr folgt.

Ohne Makel ist, wer beharrlich bleibt in Gefahr.

Beklage dich nicht über diese Wahrheit,

genieße das Glück, das du noch hast.


Autor: Henrik Jäger
Dr. Henrik Jäger ist promovierter Sinologe, Japanologe und Philosoph. Nach längeren Aufenthalten im asiatischen Raum war er am Institut für Sinologie an der Universität Trier beschäftigt; seit 1996 hält er Seminare und Vorträge zum Buch der Wandlungen. Seit 1993 widmet er sich der Übersetzung und Interpretation chinesischer Klassiker. Autor des Zhuangzi-Lesebuchs Mit den passenden Schuhen vergißt man die Füße und das Menzius-Lesebuch Den Menschen gerecht

Kaligraphie: Wang Ning