Von Christoph Eydt
Taiji kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und verstanden werden. Diese schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander.
Wer sich mit Taiji und den inneren Prinzipien befasst, kommt an den chinesischen Termini und damit einher an der chinesischen Anthropologie nicht vorbei. Der Mensch wird im Taiji aus einer taoistischen Weise definiert und mit entsprechenden Merkmalen versehen. Begriffe wie „Chi“, „Yi“, „Shen“ und „Xing“ sind dabei immer wiederkehrende Beschreibungen verschiedener Prozesse bzw. Zustände des menschlichen Körpers und Geistes.
Taiji kann unabhängig von der taoistischen Philosophie gelernt werden
Je nachdem, welchen Anspruch man an sich selbst stellt, kann Taiji auch ohne Kenntnisse der chinesischen Philosophie gelernt werden. In vielen Einsteigerkursen ergibt sich gar nicht die Möglichkeit, näher auf die theoretischen Grundlagen einzugehen. Dies ist auch nicht zwingend erforderlich, da Taiji im engeren Sinne ein Bewegungsprinzip ist und damit unabhängig von Philosophien und Weltanschauungen ausgeführt werden kann. Das einfache Ausführen von langsamen Bewegungen ist jedoch noch kein Taiji. Erst wenn man ein Verständnis für die zugrundeliegenden Bewegungsprinzipien entwickelt hat, kann man von Taiji sprechen. Da Taiji im Kontext einer spezifischen Weltanschauung, dem Taoismus, entwickelt wurde, ergibt sich allerdings die Frage, ob dieser die Grundlage für ein Verständnis des Taiji im engeren Sinne sein muss.
Taiji kann auch aus einer „westlichen“ Perspektive verstanden werden
Die Ideen, die sich hinter den typischen Taiji-Bewegungen verbergen, können auch aus einer anderen Sichtweise betrachtet werden und sind nicht zwingend von der chinesischen abhängig. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass jeder Mensch, ob Chinese oder nicht, Taiji erlernen kann. Es handelt sich also um kein kulturspezifisches Phänomen, welches nur einer begrenzten Menge an Menschen zuteilwird. Taiji kann aus der „westlichen“ Perspektive analysiert werden. Unter der „westlichen“ Sichtweise kann man den wissenschaftlichen Ansatz verstehen, der in Bezug auf Taiji vor allem in biomechanischen Prinzipien der Sportwissenschaft zum Ausdruck kommt.
Beispiel: Die Grundstellung
Am Beispiel der Grundhaltung soll deutlich gemacht werden, wie ein und dieselbe Stellung auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden kann und beide in ihrer eigenen Logik schlüssig sind.
Die Körpergrundhaltung dient als Ausgangspunkt für alle Bewegungsformen und ist stilübergreifend gültig. Die Grundstellung liefert einige Hinweise auf die Taiji-Prinzipien und ihre stilübergreifende Funktion macht es möglich, eine umfassende Darstellung zu liefern.
Die Füße sind die Grundlage für jede Bewegung des Körpers. Im Taiji dienen sie der strukturellen Organisation des gesamten Körpers und werden mit dem umschreibenden Wort „Wurzeln“ erläutert. Die Verwurzelung meint die bestmögliche Verbindung zwischen Fuß und Boden, damit eine maximale Stabilität gewährleistet werden kann. Eine Verwurzelung wird durch eine korrekte Ausrichtung der Füße erreicht. Landmann liefert einen Verweis auf eine klassische chinesische Erklärung:
„Die fünf Zehen greifen den Boden; nach oben spannt man den Bogen. Beim Ausführen eines Schrittes berühren die Fersen der Füße zuerst den Boden. Die zehn Zehen sollen den Boden greifen. Die Schritte sollen sicher sein. Der Körper soll würdevoll sein. Bei einem vollen Fuß sollen sowohl der vordere als auch der hintere Teil der Fußsohle mit Kraft gleich voll auf den Boden auftreten, der Punkt yong-quan soll leer sein.“
Das Greifen der Zehen ist wichtig, da die Greifbewegung zum Boden ein Aufspannen des medialen-, lateralen- und des Quergewölbes verursacht. Die Aussage, dass sich der Bogen nach oben spanne, ist ein Verweis auf das Erzeugen einer Bogenspannung und bezieht sich auf das Fußgewölbe, in welchem die Spannung jedoch nicht verharrt, sondern sich auf den gesamten Körper ausweitet. Diese Bogenkonstruktion ist für eine gute Kraftverteilung im Fuß wichtig. Die Verteilung des Druckes bleibt günstig, weil die auftretende Kraft besser über die elastische Spannung von Muskel- und Bandapparat auf die gesamte Fußfläche verteilt werden kann.
Der Yong-quan-Punkt spielt eine wichtige Rolle bei der Körperausrichtung. Dieser Punkt ist im Sinne der Traditionellen Chinesischen Medizin der Anfang des Nierenmeridians. Er befindet sich auf der Längsachse der Sohle am Rand des vorderen Drittels des Fußes in der Sohlenwölbung. Über diesen Punkt soll die Kraftübertragung des Körpergewichts in den Boden ermöglicht werden. In der Beschreibung heißt es, dass dieser Punkt „leer“ sein müsse. Dies bedeutet, dass sich der Punkt leicht vom Boden abzuheben hat. Das Abheben geschieht automatisch durch das Aufspannen des Fußgewölbes. In „westlichen“ Worten formuliert: Das Gewicht des Körpers ruht auf zwei einander ergänzenden Dreiecken an der Fußsohle. Das erste Dreieck befindet sich zwischen der Ferse, dem Außenfuß und dem Ballen unter dem großen Zeh. Das zweite Dreieck streckt sich zur Zehenpartie hin.
Schwierigkeiten einer eindeutigen Übertragbarkeit
Am obigen Beispiel wird deutlich, dass Taiji aus der „westlichen“ Sicht verstanden werden kann. Man hat also einen Zugang zur Thematik, der auf einem bestimmten Vorwissen aufbauen kann. Die wissenschaftlichen Erklärungen wirken oftmals näher und verständlicher als die fremdklingenden chinesischen Erläuterungen, die von einem doch recht fremden Weltverständnis ausgehen.
Eine eindeutige Übertragbarkeit ist dennoch nicht möglich. Dies liegt vor allem daran, dass man für eine vollständige Übertragbarkeit Taiji im weiteren Sinne, also unter Berücksichtigung der philosophischen Grundlagen, erfassen muss. Es wäre zu kurz gedacht, Taiji nur auf biomechanische Prozesse zu reduzieren. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Sprache begründet. Zwar kann man die Klassiker des Taiji heranziehen und die Texte weitgehend übersetzen, aber man muss berücksichtigen, dass der Umgang mit Sprache bei den Chinesen wesentlich lockerer war und ist als dies im Westen der Fall ist. Der Begriff „Chi“ hat sich im Laufe der Zeit so oft gewandelt, dass er mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt werden kann. Diese Vielseitigkeit erschwert eine Eindeutigkeit der Begriffe. Während man im Westen noch von der aristotelischen Denkweise ausgeht und Begriffe möglichst eindeutig definiert, ist dies in den chinesischen Denkrichtungen nicht der Fall.
Multiperspektivität als Bereicherung für Taiji-Übende
Die verschiedenen Sichtweisen auf Taiji sollen nicht im Sinne eines Dualismus verstanden werden, der zu einem „Entweder-oder“-Denken führt, sondern sie sollen dazu ermutigen, dass der Übende einen Perspektivwechsel vornimmt. Es geht nicht darum, mit einer Erklärung eine andere zu negieren, sondern es geht vielmehr darum, das „Sowohl – als auch“ verschiedener Ansätze zu erkennen. Man sollte nur nicht in einen vorschnellen Relativismus verfallen und meinen, dass es gleichgültig sei, ob man „westlich“ oder „östlich“ denke, denn der Werdegang der „westlichen“ Mentalität ist ein anderer als der der „östlichen“. Die Trennung zwischen „Ost“ und „West“ ist nur abstrakt und darf nicht im Sinne eine strickten Isolierung verstanden werden. Wer die philosophische Geschichte des Westens kennt, wird einige Parallelen zum Taoismus entdecken können. Ein Beispiel hierfür sind die Epikuräer mit ihrer Devise „Carpe diem“ oder die Stoiker, welche ein holistisches Weltbild kannten und die Gelassenheit als oberstes Ziel anstrebten.
Bei der Erklärung von Taiji-Prinzipien sollte darauf geachtet werden, die strikte Trennung von „westlichen“ und „östlichen“ Erklärungen einzuhalten, denn beide Erläuterungen sind nur dann sinnvoll, wenn sie in ihrem eigenen System gehalten werden und nicht miteinander vermischt werden.
Multiperspektivität ist ein wichtiges Prinzip, um einen möglichst großen Zugang zu einer Thematik zu finden. Die Vielseitigkeit, mit der ein und dasselbe Phänomen erklärt werden kann, zeigt sich nicht nur auf der theoretischen Ebene, sondern auch im praktischen Üben. Es existieren viele unterschiedliche Taiji-Stile, die alle demselben Prinzip folgen, es aber auf unterschiedliche Weise verstehen. Ebenso kann man dies auf alle Kampfkünste übertragen. Jede ist für sich ein in sich geschlossenes System und betrachtet den Menschen bzw. den Kampf auf seine Weise. Die Fragen, welcher Stil nun richtig und welcher falsch sei, welcher authentisch sei und welcher nicht, und welches Erklärungsmodell stimmig sei und welches nicht, können im Sinne der Ringparabel Lessings beantwortet werden: „Der Aberglauben schlimmster ist, den seinen für den erträglicheren zu halten.“
Verwendete Literatur
BUSS, Michael: Transfer des Taijiquan vom Osten in den Westen. Norderstedt: Books on Demand Gmbh, 2007. KAPTCHUK, Ted: Das große Buch der chinesischen Medizin. Die Medizin von Yin und Yang in Theorie und Praxis. Bern: O.W. Barth Verlag, 1988. LANDMANN, Rainer: Taijiquan. Konzepte und Prinzipieneiner Bewegungskunst. Analyse anhand der frühen Schriften. Hamburg: Institut für bewegungswissenschaftliche Anthropologie, 2002.
Foto Grundstellung Yang Chengfu: Matthias Wagner Grafik: William Chen