Von Freya und Dr. Martin Bödicker
„Innere Übung (neiye)“ ist einer der ältesten daoistischen Texte zur inneren Kultivierung und ein wichtiger Vorläufer zur Praxis der Lebenspflege (yangshen). Er findet sich in einer Textsammlung, die mit Guanzi bezeichnet wird und etwa aus dem Jahr 300 v. Chr. stammen soll. Der Text selber scheint aber sehr viel älter zu sein. Die „Innere Übung“ stützt sich auf die daoistische Kosmologie und gibt Anleitung zur Entwicklung von Körper und Geist, zur Ernährung, zur Atmung und zur Anwendung des qi. Eine strikte Trennung zwischen körperlichen und mentalen Aspekten findet sich dabei nicht. So bezieht sich z.B. der Begriff „ausrichten“ auf das Herz/Bewusstsein (xin) und das qi, aber auch auf den Körper oder die Gliedmaßen. Die übende Person wird als Ganzes betrachtet und das Üben bezieht sich auf Körper und Geist. Diese Tradition der Lebenspflege (yangsheng) ist in das Tai Chi Chuan eingeflossen. Liest man die „Innere Übung“, so hat man manchmal den Eindruck, man würde einen Tai Chi-Klassiker vor sich haben. Ein wirklich spannender Text mit vielen Anregungen für den Tai Chi-Übenden.
Nur wenn man ausgerichtet und ruhig ist,
kann man auch gefestigt sein.
Ein gefestigtes Herz/Bewusstsein (xin) in der Mitte.
Augen und Ohren scharf und klar,
die vier Gliedmaßen stark und fest.
So kann man die Essenz (jing) beherbergen.
Die Essenz (jing) ist das Feine des qi.
Wenn das qi frei fließt, dann gibt es Leben.
Wenn es Leben gibt, dann gibt es Nachdenken.
Wenn es Nachdenken gibt, dann gibt es Wissen.
Wenn es Wissen gibt, dann muss man anhalten.
Wenn im Herz/Bewusstsein (xin) zuviel Wissen ist, verliert man sein Leben.
Wenn die äußere Form nicht ausgerichtet ist,
dann kann sich die innere Kraft (de) nicht entwickeln.
Wenn man in der Mitte nicht ruhig ist,
kann das Herz/Bewusstsein (xin) nicht geordnet sein.
Richte die äußere Form aus und achte auf die innere Kraft (de).
So wird man es nach und nach erlangen.
Wenn man ausgerichtet und ruhig ist,
dann wird die Haut gesund und geschmeidig sein.
Augen und Ohren sind scharf und klar.
Die Muskeln sind locker und die Knochen hart.
So kann man den großen Kreis [des Himmels] stützen.
Philosophisches Lesebuch zu Tai Chi Chuan
Dieser Artikel ist ein Auszug aus Freya und Martin Bodickers erstem „Philosophischem Lesebuch zu Tai Chi Chuan“. Sie finden beide Ausgaben in unserem Tai Chi Shop.