Das Schreiben – eine Bewegungskunst
Während es im ersten Teil zum Thema Kalligraphie um die Entstehung und Weiterentwicklung der chinesischen Schriftzeichen ging, geht Wang Ning im zweiten Teil auf das Schreiben selbst ein. Das Schreiben mit einem Pinsel erfordert eine gewissenhafte Vorbereitung, schult die genaue Wahrnehmung und eine sehr bewusste Bewegungsweise. Damit wird es gleichermaßen zur Kunst wie zur Meditation.
In der letzten Ausgabe habe ich über Schriftzeichen und ihre Entwicklung geschrieben. Wie auch immer die eindrucksvolle Darstellung eines Schriftzeichens ist, geht es diesmal im Wesentlichen um das Schreiben selbst. Auch bei diesem Thema wird nicht an erster Stelle eine Technik oder eine hohe Kunstfertigkeit verlangt, sondern der persönliche Charakter als Voraussetzung berücksichtigt. Denn schließlich geht es hier um »den Weg oder die Gesetzmäßigkeit des Schreibens« – einen hohen philosophischen Denkansatz.
Die Entstehung der Schriftzeichen hat uns Platz und Zeit gelassen, um die Zeichen weiterzuentwickeln. Jedes Schriftzeichen betrachte ich als noch nicht vollendetes Objekt, das im Laufe der Zeit sich ergänzt und eine Form und ein Format annimmt. Das Bild verschwindet in diesem Prozess, es entsteht eine mit festen Regeln und Bewegungsabläufen verbundene Konstruktion. Wir können nach Epochen verschiedene Schriftarten zusammenfassen:
- Jiaguwen – Orakelschrift – die Zeichen sind auf Knochen und Schildkrötenpanzer geritzt; 1600 – 1000 v. Chr. oder noch früher,
- Zhongdingwen – Bronzeschrift – diese Schrift wurde auf Bronzegefäße gegossen; 1300 – 200 v. Chr.,
- Zhuanshu – Siegelschrift – hier wurde auf Bambusstäbchen, Seidentücher und Papier ge- schrieben, 200 v. Chr. – 100 n. Chr.
Zwischen 100 und 250 n. Chr. sind weitere Schrift- arten entstanden, die alle mit Tusche geschrieben wurden:
- Lishu – Kanzleischrift,
- Kaishu – Musterschrift,
- Xingshu –Kursivschrift,
- Caoshu – Grasschrift.
Die Schriftzeichen waren im zweiten Jahrhundert der Östlichen Han-Dynastie (25 – 220 n. Chr.) ausgereift und bildeten mit der Siegelschrift fünf Grundlagen für Kalligraphien, die bis heute als Maßstab gelten. Die Han-Dynastie war in mehre- rer Hinsicht von großer Bedeutung für die Kalligraphie: Das erste Geschichtsbuch »Shiji« wurde geschrieben, das Papier wurde erfunden und das erste Wörterbuch zur »Wort- und Zeichenerklärung« herausgegeben.
Aus der obigen Zusammenfassung können wir deutlich erkennen, dass sich das Zeichen ab dem Zeitpunkt der Erfindung des Papiers immer mehr und schneller weiterentwickelt, bis es sich end- gültig vom Bildmalen entfernt hat zugunsten der Pinselführung. Man sagte, die Schriftzeichen wirk- ten wie »abstrakte Bilder«, weil sie aus bildlichen Darstellungen entstanden sind.
Zu dieser Zeit sind alle Voraussetzungen erfüllt, neben einer ausreichenden Anzahl von Schriftzeichen gehörte zu den wichtigsten Faktoren die Erfindung des Papiers, wodurch das Schreiben auf Bambusstäbchen und Seidentüchern abgelöst und die Verbreitung der Schrift erleichtert wurde. Auch Pinsel, Tusche und Reibstein wurden bereits dem heutigen Standard entsprechend sowohl in der Form und als auch in ihrer Qualität erreicht. Wer sie erfunden hat, ist nicht mehr ausfindig zu machen. Sie gehören mit dem Papier zu den »vier Schätzen der Studierstube« (Wen Fang Si Bao). Nun haben wir die Schriftzeichen und die vier Schätze als Schreibutensilien. Die Kalligraphie, also der Weg des Schreibens, nimmt seinen Lauf.
Balance und Zentrierung
Die Regeln entstanden, die wir heutzutage immer noch befolgen. Sie unterliegen den Lebensweisheiten Chinas. Das grundlegende Prinzip des Lebens ist Yin und Yang (Daoismus), daher tun und betrachten wir alle Dinge einschließlich der Kalligraphie aus diesem Blickwinkel, womit Symmetrie gemeint ist oder mit einem anderen Begriff Harmonie. Noch einfacher gesagt, geht es um Balance und Zentrierung.
Als einfache Methode, das zu erkennen, betrachtet man die Zeichen von links nach rechts, von oben nach unten sowie von innen nach außen, ob das Zeichen seine Balance hat. Wer auch immer mit Kalligraphie anfängt, lernt die Zeichen aus den Steintafeln von Altmeistern. Hierbei ist die Musterschrift zur Standardschrift gemacht worden. Sie ist ordentlich und besitzt eine klare Struktur. Sie bietet die Basis zum Erlernen der chinesischen Schrift.
Die spätere Druckschrift ist aus diesen Erkenntnissen entstanden. Sie ist die schwierigste Schriftart, weil sie zum einen aus acht Grundstrichen, also den meisten Grundstrichen besteht und zum anderen der Ablauf des Schreibens unveränderbar streng ist und eine ausdauernde Konzentration verlangt. Anders gesagt heißt das, dass man sie viel langsamer schreiben muss.
Die acht Grundstriche der Kalligraphie
Was wir meistens hier zu sehen bekommen und sehen mögen, ist die schnellere Art zu schreiben, sie ist sehr ausdrucksvoll und präsent. Der Ausdruck, die Gefühle sowie die Wahrnehmung, wie der Pinsel – möglichst ein großer Pinsel – übers Papier gleitet, sind wichtiger geworden als das Zeichen selbst. Dennoch fangen wir immer mit der Musterschrift an. Somit lernen wir zuerst die acht Grundstriche:
Es gibt einige Variationen zu jeder Strichform, in manchen Übungsbüchern stehen alle Varianten, aber diese sind keine neuen Striche, sondern gehören zu den jeweiligen Grundstrichen.
Die »Vier Schätze der Studierstube«
Das Schreiben ist eine »edle« Sache, daher nennt man die Schreibutensilien die »vier Schätze der Studierstube«. Es sind Bi – Pinsel, Mo – Tusche, Zhi – Papier und Yan – Reibstein. Nur wenige Menschen können es sich leisten, das Schönschreiben zu lernen. Man liest oft, dass es früher in einem Dorf nur einen Dorflehrer gab, der schreiben konnte.
Heute lernen viel mehr Menschen in der Schule mit Bleistift oder Kugelschreiber sowie Füller zu schreiben, aber nur wenige wollen mit dem Pinsel schreiben. Also bleibt die Ausübung der Kalligraphie nach wie vor wenigen Menschen vorbehalten.
Bi – Pinsel
Der Pinsel steht für Bewegung, er ist das Werkzeug wie beispielsweise ein Schwert für einen Kämpfer oder ein Löffel für einen Koch. Kontrolliert man die Bewegung, so kontrolliert man seine Kraft. Das bedeutet, dass perfektes Handeln mit bester Technik und bestem Werkzeug erlangt wird. Durch diese Übung erhöht man enorm seine Wahrnehmung, schließlich ist die Bewegung im Vergleich zu einer Figur im Taijiquan oder im Qigong winzig klein und der weiche Pinsel ist so super »empfindlich«. Mit einer geringen Veränderung der Geschwindigkeit oder der Druckausübung werden die Striche dicker oder dünner, ebenfalls werden die Länge der Striche und die Bewegungsrichtung verändert, letztendlich verändert das Schriftzeichen dadurch seinen Charakter.
Mo – Tusche
Die Tusche steht für die Spur, sie zeigt das Resultat und die Qualität. So wie beim Bau eines Hauses wird gefragt, ob man das beste Material verwendet – wenn man die Tusche richtig reibt, so dass sie richtig schwarz ist – und ob das Haus richtig steht. Dabei werden Denken und Planen verlangt. Letztendlich steht das Schriftzeichen vor uns: Ist es richtig und schön? Das vermittelt den Eindruck und den Stil.
Zhi – Papier
Papier steht für den Platz der Übertragung beziehungsweise die Richtung der Abläufe. Man lernt sehr schwer, seine Qualität einzuschätzen. Der Gedanke muss vorausgehen und abwägen, wie die Tusche auf dem Papier läuft. In der Zeit, in der viele Menschen nur auf Zeitungspapier übten, weil das richtige Papier zu teuer war, lernte man den Unterschied kennen. Dann geht man sorgfältig mit dem Papier um. Vergleichen wir es mit dem Hausbau, wo das Haus auf dem Grundstück steht, ist immer die erste Frage, was für ein Haus es sein soll. Letztendlich ist das Schriftzeichen das Ziel des gesamten Vorhabens. Und um das zu zeigen, sollte man sich gut vorbereiten.
Yan – Reibstein
Der Reibstein steht für die geistige Welt der Kalligraphien. Er hat einen Spitznamen, der lautet Mo Hai – Meer der Tusche. Nicht nur, dass die gesamten Werke aus dem Meer der Tusche entstehen, sondern auch die Ewigkeit des Schreibens ist da- ran zu erkennen. Haben Sie schon mal ein ausgetrocknetes Meer erlebt? Wenn nicht, dann soll die Tusche auch nicht im Reibstein verdunsten. Daher wird das Ausüben der Kalligraphie nach wie vor als die beste Methode des »Xiu Shen Yang Xing« bezeichnet, was nichts anderes heißt als »den Leib ordnen, reparieren oder kultivieren und den Geist pflegen«. Das gleicht der Meditation. Nun bereite ich das Schreiben vor:
Ich sitze an meinem Tisch. Auf der Filzmatte breite ich das Papier aus, den Pinsel stecke ich in einen mit Wasser gefüllten Krug und weiche ihn ein, ein paar Wassertropfen gebe ich in den Reibstein und fange an, mit der Tuschestange zu reiben. Ich höre schon das Geräusch, das aus der Bewegung entsteht, ein Duft von der Tusche dringt in meine Nase, die Augen prüfen nach, der Kopf bewegt sich zwischen diesen Zeichen: Shou – Langes Leben, Hong – der große Bergsee, Li – die Kraft, He – die Harmonie …
Dann streife ich mit dem Pinsel über die Tusche, spitze ihn an und hebe den Arm, bewege ihn in einer Kurve und setze ihn auf das Papier, ziehe waagerecht in der Mitte des dafür vorgesehenen Quadrats einen Strich. Ich senke den Ellenbogen und führe den Unterarm in einer Kreisbewegung zurück. An diesem Strich »Eins« weiß ich, dass ich weiterschreiben kann.
Autor: Wang Ning
Kalligraphien: Wang Ning