Interpretation und Kommentar zum ersten Kapitel des Tao Te King
Kapitel 1
Der SINN, der sich aussprechen läßt,
ist nicht der ewige SINN.
Der Name, der sich nennen läßt,
ist nicht der ewige Name.
»Nichtsein« nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
»Sein« nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
und nur verschieden durch den Namen.
In seiner Einheit heißt es das Geheimnis.
Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis
ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.
(Quelle: http://www.iging.com/laotse/LaotseD.htm)
Das erste Kapitel spielt auf einen scheinbaren Widerspruch an. Laotse schreibt von dem Sinn bzw. von dem Tao, welches sowohl benannt wie namenlos existiert. Ein Widerspruch ist nicht zwangsweise verkehrt. Es geht darum, mit diesem Widerspruch richtig umzugehen. Im östlichen Denken ist das Konzept von Yin und Yang die Grundlage für viele Weltanschauungen. Die Gegensatzpaare ergänzen einander und beeinflussen sich. Yin und Yang sind Kategorien, die sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig hervorbringen. Es ist kein Entweder – Oder, sondern ein Sowohl – Als auch.
Das erste Kapitel lädt dazu ein, festgefahrene Denkweisen abzulegen und Widersprüche anzunehmen. Das Tao ist unsichtbar und nicht zu greifen. Es steckt in allen Dingen der Welt. Der Versuch, es zu fassen, scheitert an dem dualistischen Denken bzw. daran, die Erfahrungen kategorisieren zu wollen. Wer versucht, das Unsichtbare sehen zu wollen, sieht nur das Sichtbare und nicht das Unsichtbare und damit bleibt ihm die Erkenntnis verschlossen.
Die Kategorien, also die Begriffsgruppen, mit denen wir die Welt erklären und Phänomene bewerten, nennt Laotse „Zehntausend Dinge“. Diese Dinge sind jedoch nur Erscheinungsformen und nicht die Essenz des Tao. Dieses entzieht sich jedem Versuch der Einordnung.
Erlauben wir uns mehr paradoxes Denken und Fühlen!
Die Welt und der Mensch sind nicht „schwarz“ oder „weiß“. Widersprüche gibt es überall. Sie zu akzeptieren, ist ein wichtiges Ziel, um einen Zustand der heiteren Gelassenheit zu erfahren. Paradoxien werden in Wünschen offensichtlich. Der erste Schritt auf das Tao zu könnte darin bestehen, auf die eigenen Wünsche zu achten. Wir können uns darin üben, zu erkennen, dass wünschen (Wille) und wunschlos sein (Zulassen) widersprüchlich sind, aber dennoch gleich sind.
Wer sich etwas wünscht, der schafft sich Umweltbedingungen, in denen er seinen Wunsch Wirklichkeit werden lassen kann. Er bereitet seine Welt also auf ein Empfangen vor. Dieses Empfangen kann jedoch nur durch ein Zulassen Gestalt annehmen. Das Zulassen führt zur Realisierung des Wunsches.
Der Wunsch hilft uns, die zehntausend Dinge zu erkennen. Das Zulassen (wunschlos sein) hilft uns, das Geheimnis hinter den Dingen zu spüren.
In Sambia sagt man: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.Das bedeutet, dass wir durchaus Wünsche haben dürfen; zum Beispiel einen schönen Rasen. Aber dass man auch in Ruhe das Gras beim Wachsen beobachten sollte und nicht überstürzt versucht, das natürliche Wachstum zu beschleunigen.
Der Wunsch ist die Grundlage für das wunschlose Sein. Es ist ein Unterschied, ob ich Klavier spielen will oder Klavier spiele, ob ich einschlafen will oder einschlafe, ob ich lieben will oder liebe. Wenn wir zum Beispiel Taiji lernen, dann kann man dies in zwei „Akte“ gliedern. Im ersten Akt wollen wir es lernen und wir machen uns mit den Bewegungen vertraut; wir versuchen also. Im zweiten Akt lässt man es einfach nur noch geschehen, weil man ein Stadium der Mühelosigkeit erreicht hat.
Die zehntausend Dinge sind – wie bereits erwähnt – eine Metapher für die Kategorisierungen, die die Menschen vornehmen. Mit den Kategorien können wir die Welt beschreiben und erklären. Kategorien helfen in der Kommunikation, da man sich auf bestimmte Begriffe geeinigt hat und die Zuhörer dann wissen, worüber der Sprecher redet. Man darf aber nicht dem Trugschluss verfallen, dass diese Kategorien die Welt bzw. die einzelnen Phänomene sind. Das Geheimnis des Tao besteht also weiterhin trotz aller Definitionen.
Auch dies ist paradox: Man definiert einen Begriff und verfehlt damit die Wirklichkeit, um über die Wirklichkeit sprechen zu können. An dieser Stelle sei auf das Höhlengleichnis von Platon verwiesen, der ebenfalls auf den Unterschied zwischen Wirklichkeit und scheinbarer Wirklichkeit aufmerksam gemacht hat.
Um das Geheimnis zu erkennen, darf man es nicht definieren und nicht zwanghaft suchen.
Freuen wir uns auf eine widersprüchliche Welt. Freuen wir uns auf unsere wechselhaften Gefühle. Es kann Spaß machen, sich auf Widersprüche einzulassen und sie als Ganzes zu begreifen. Wir müssen nicht immer alles und jeden verstehen und einordnen. Es reicht auch, auf eine einfache und nüchterne Art zu beobachten. Vor allem sollten wir uns selbst beobachten: Was geht in uns vor wenn wir uns bestimmten Äußerlichkeiten stellen?
Statt krampfhaft Erfolg haben zu wollen und einen Tunnelblick zu haben, können wir auch versuchen, die momentane Lage bestmöglich zu nutzen und dabei gelassen den Dingen beim Wachsen zuzusehen. Erwartungen, Hoffnungen usw. verlieren an Bedeutung und damit an ihren Einengungen. Man kann sich auf die Gegenwart konzentrieren und diese zum Nährboden einer schönen Zukunft machen ohne dabei voller Zwang an die Zukunft denken zu müssen.
Statt zu beurteilen, einfach beobachten.
Autor: Christoph Eydt
Foto: Liebermann