Im naturwissenschaftlichen Sinne meint das Gleichgewicht die Ausgeglichenheit aller Potentiale und Flüsse in einem bestimmten System. In der Mechanik meint man mit „Gleichgewicht“ das Kräftegleichgewicht bzw. das Momentengleichgewicht.
Die optimale Wirksamkeit eines Systems ergibt sich aus dem Gleichgewicht. In der Kampfkunst und im Kampfsport kommt dem Gleichgewicht eine sehr entscheidende Rolle zu. Ein Kämpfer kann niemals wirksam sein, wenn er sich nicht im Gleichgewicht befindet. Dies ist im Übrigen bei jeder Bewegungskunst, ja sogar bei alltäglichen Bewegungen, der Fall.
Gleichgewicht im Taiji
Im Taiji wird das Gleichgewicht zwischen Yin und Yang angestrebt. Da die Begriffe „Yin“ und „Yang“ vielfältig definiert werden können, scheint es für das Streben nach dem Gleichgewicht keine Grenze zu geben. Es kann sich auf das Gleichgewicht zwischen angreifender und verteidigender Energie beziehen, auf das Gleichgewicht zwischen Spannung und Entspannung und auf das Gleichgewicht zwischen Ruhe und Bewegung etc.
Das Körpergleichgewicht
Im Sport ist das Körpergleichgewicht ein wichtiger Aspekt, der ständig trainiert werden sollte. Im Taiji geschieht dies vor allem durch das Ausführen langsamer Bewegungen. Dadurch wird der Gleichgewichtssinn geschult, der für präzise und sichere Bewegungen notwendig ist.
Ein Gleichgewicht im Körper lässt sich nur durch die korrekte Ausrichtung des Körpers erzielen. Füße, Beine, Rumpf und Kopf tragen alle zu einer Gleichgewichtsstellung bei, sofern sie richtig ausgerichtet sind. Erst wenn die Ausrichtung stimmig ist und der Körper im Gleichgewicht ist, kann er die gesamte Körperkraft übertragen. Dabei tragen die Füße in ihrer Stellung zueinander und zum Körper zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts bei. Für ein gutes Gleichgewicht ist es wichtig, die Füße direkt unter dem eigenen Körper zu halten, also nicht zu weit auseinander zu stehen. Würde man in einen weiten Stand gehen, dann würde die optimale Ausrichtung des Körpers verhindert werden. Ebenso ist ein zu enger Stand der Füße schlecht für das eigene Gleichgewicht, weil das Gewicht nicht optimal verteilt werden kann.
Funktion des Gleichgewichtssinns
Der Gleichgewichtssinn dient der Organisation des Körpers und der Orientierung des Menschen im Raum. Er setzt sich aus mehreren Einzelsinnen zusammen und kann entsprechend individuell trainiert werden. Folgende Einzelsinne bestimmen den Gleichgewichtssinn:
– Die vestibuläre Wahrnehmung (dient der Bestimmung der Richtung der Gravitation und Richtung von Beschleunigungen)
– Die visuelle Wahrnehmung (dient der Orientierung im Raum)
– Der Tastsinn (dient der Überprüfung des eigenen Standes bzw. der eigenen Bewegungen im Kontakt mit einer Oberfläche)
– Tiefensensibilität (dient dem Erkennen körperinterner Reize)
Die Tiefensensibilität im Taiji
Im Taiji und anderen Kampfkünsten, deren Ziel es ist, das Gleichgewicht des Gegners zu brechen und das eigene zu halten, kommt der Tiefensensibilität eine wichtige Bedeutung zu. Sowohl in Qi Gong-Übungen als auch in den Taiji-Formen geht es um das Wahrnehmen körperinterner Reize. Es geht darum, den eigenen Körper zu erforschen, ihn immer besser wahrzunehmen und dadurch immer besser auszurichten. Man spricht auch von der Eigenwahrnehmung des Körpers.
Zur Tiefensensibilität gehört der Lagesinn. Er liefert Informationen über die Position des Körpers im Raum sowie über die Stellung der Gelenke und des Kopfes. Weiterhin gibt es den Kraftsinn, mit dem man den Spannungszustand von Muskeln und Sehnen erkennen kann. Und der dritte Teil der Tiefensensibilität ist der Bewegungssinn. Er ermöglicht Bewegungsempfindungen und das Erkennen von Bewegungsrichtungen. Durch die „Innenschau“, also das Hineinspüren in den eigenen Körper, können so Widerstände und Fehlhaltungen aufgespürt werden, die ein optimales Gleichgewicht verhindern.
Mit der Tiefensensibilität steht die Oberflächensensibilität in Verbindung, die ebenfalls im Taiji sehr wichtig ist. Sie wird auch als taktile Wahrnehmung bezeichnet und ist ein Teil des Tastsinns. Die taktile Wahrnehmung erlaubt es, über die Hautrezeptoren Drucke, Berührungen und Vibrationen sowie Temperaturen und Schmerzen wahrzunehmen. Eine grundlegende Übung für die taktile Wahrnehmung ist das pushing hands.
Von Christoph Eydt