Qigong und Taiji-Formen werden mit einer gewissen Langsamkeit gemacht. Diese Langsamkeit ist für sich alleine schon sehr wertvoll, wie folgende wahre Begebenheit zeigt:
In einem Kurs hatte ich einen älteren Mann als Teilnehmer. Er hatte die Figuren immer mit einer gewissen Tollpatschigkeit und Unsicherheit gemacht. Er beherrschte nicht den formellen Ablauf, von den Details der Bewegung will ich mal gar nicht reden. Von außen betrachtet hätte ein mäkelnder Geist sagen können, dass er die Figuren ausgesprochen schlecht gemacht hatte. Ein Beobachter hätte an alles Mögliche denken können, nur nicht an Qi Gong!
In der letzten Stunde kam er auf mich zu und sagte: „Herr Raab, ich muß Ihnen mal ein Feedback geben! Diese Erfahrung der Langsamkeit, die ich in Ihrem Kurs machen konnte, hat so viel in meinem Leben verändert, das kann ich Ihnen gar nicht sagen! Auch auf ganz anderen Gebieten! Das können Sie sich gar nicht vorstellen!“ Dabei wären ihm fast die Tränen gekommen!
Leider wollte er mir nichts Näheres über seine Erfahrungen erzählen. Er verließ den Kurs und ich habe ihn nie wieder gesehen.
Erst später fiel mir auf, dass das SEIN mir hier eine paradoxe Situation vorführte. Denn einerseits waren seine Qi Gong Figuren ausgesprochen „schlecht“ in dem Sinne, dass sie in keinster Weise den formalen Bewegungen entsprachen. Aber andererseits hatte er vermutlich am meisten davon! Diese Erfahrung der Langsamkeit muss für ihn eine echte Offenbarung gewesen sein!
Der schlechteste Schüler kommt der Erleuchtung am nächsten! So oder so ähnlich hätte man im ZEN diese Geschichte abgeschlossen.
Diese Begebenheit hatte mich lange beschäftigt, denn das Tempo der Figuren war für mich bis dahin eher Nebensache. Einige meiner Lehrer hatten großen Wert auf technische Perfektion gelegt. Mein Geist war beim Üben eher mit Meridian-Dehnungen und spiraligen Bewegungen beschäftigt.
Diese Erfahrung wirft die Frage auf, welchen Stellenwert denn die technische Perfektion nun hat? Ich kann mich an Taiji-Spieler erinnern, die ihre Figuren mit technischer Perfektion machten, aber bei denen man kein nennenswertes Qi bemerken konnte.
Wenn man Qi Gong und Taiji hauptsächlich als Meditation in Bewegung begreift, dann ist das Wirkungsprinzip „ruhige Bewegungen machen einen ruhigen Geist“ vielleicht wichtiger als alles andere?
Bei Kursen für Anfänger und im business-Qigong stelle ich diesen Aspekt seither stark in den Vordergrund. Alles Weitere findet sich dann, wenn die Zeit reif dafür ist.
Autor: Michael Raab, Karlsruhe
Fotos: Taiji Forum