Meister des Wassers
Dr. Pingsiang Tao wurde in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts Schüler des legendären Professor Cheng Man Ch´ing in Taiwan. Zuvor hatte er intensiv „Äußere“ und „Innere“ Kampfkünste Xingyi Quan, Bagua Zhang und Liu He Ba Fa (Boxen im Wasserstil) studiert und war in allen diesen Künsten Schüler berühmter Meister. Niemand machte jedoch einen tieferen Eindruck auf ihn als Prof. Cheng. Nachdem er den Professor kennengelernt hatte, verschrieb sich Dr. Tao ganz dem Studium des Tai Chi Chuan. Noch heute mit mehr als achtzig Jahren widmet er sich achtsam, respektvoll und neugierig den prinzipiellen Aspekten des Tai Chi Chuan. Mit Bescheidenheit und Geduld vermittelt er in Workshops in Taiwan, Kanada, USA und Deutschland sein profundes Wissen an alle Interessierten. Sein beruflicher Hintergrund als Flugzeugingenieur lässt ihn Beschreibungen und Formulierungen aus der Physik finden, die dem nicht chinesischen Teilnehmer die Türen zu tieferem Verständnis öffnen können. Tai Chi Lehrer Nathan Menaged aus Ohio studiert bereits viele Jahre als indoor student bei Tao und begleitet ihn auf seinen Seminaren in Deutschland als Assistent.
Für Dr. Tao ist das sorgfältige Studium der Tai Chi Klassiker die wesentliche Verständnisgrundlage dieser Kunst. Für seine Schüler hat er diese Texte zu einem kleinen Buch lehrreich zusammengestellt und zitiert sie im Unterricht zur Erläuterung der gezeigten Prinzipien oder Bewegungsabläufen. Bewusst hat er auf eine Kommentierung der Originaltexte verzichtet, um der Gefahr deren vollkommenen Gehalt durch eigene Gedanken zu verwässern zu entgehen. Er hat die zitierten Stellen unterschiedlicher Texte jedoch persönlich zu einem Text zusammengestellt und auf diese Weise seinem persönlichen Verständnis des inneren Zusammenhangs Ausdruck verliehen.
Auf seinen Seminaren in Deutschland lehrt Dr. Tao vor allem die Prinzipien des Tai Chi Chuan, wie sie in seinem Partnertraining (tui shou) erfahrbar sind. Sicher machen das auch andere Tai Chi LehrerInnen und doch hat seine Arbeit eine einzigartige Charakteristik. Als ich Meister Tao vor sieben Jahren das erste Mal erlebte, war ich tief berührt und betroffen von dieser einzigartigen Push hands Erfahrung. Nach zehn Jahren Tai Chi Chuan und dem täglichen Bemühen die Prinzipien zu spüren, zu verstehen, zeigte mir damals seine Einfachheit, sein völliger Verzicht auf jeglichen Widerstand und jede noch so geringe Kraft, wie unendlich weit ich vom Kern des Tai Chi entfernt war. Das bedeutete allerdings auch, dass ich diesen Kern endlich wahrnehmen konnte, es gab meinem Üben eine neue Richtung.
Tui shou (Partnertraining)
Zu Beginn des Unterrichts macht Dr. Tao einige einfache Aufwärmübungen mit der Gruppe, dann folgen push hands Routinen wie der ein- und beidhändige Kreis. Hier werden die vier Basistechniken Abwehren, Zurückrollen, Pressen und Schieben (peng, lu, ji, an) in Endlosschleifen verknüpft. Auf sanfte, entspannte und korrekte Ausführung legt er hier großen Wert und vor allem auf eine wache Achtsamkeit. Letztere sprengt den Begriff der Routine und macht sie zu Einfühlübungen. Sie bereiten auf die freien tui shou Abläufe mental und körperlich vor. Seine Art diese Grundübungen zu unterrichten macht sie zu einem Schatz, der bereits sein gesamtes Verständnis des Tai Chi Chuan beinhaltet.
Die Formulierung „push hands“ trifft auf das Verständnis Dr. Taos nicht zu. Der push (an) spielt in dieser Arbeit keine Rolle. Er spricht dagegen oft von „Fühlenden Händen“ (sensing hands). Die erste Aktion des Kontaktaufnehmens mit der Bewegung Abwehren(Peng) betont nicht die sich ausdehnende Energie. Sie dient mehr als „Spion“ und soll möglichst viele Informationen über Zentrum, Richtung, Geschwindigkeit, Kraft und Absicht des Partners sammeln. Daher darf sie auch nicht den geringsten Widerstand bieten, sonst liefert sie eher Informationen über uns. Die bedeutendste Handlung ist für ihn das sanfte Zurückrollen (Lu). Auf eine Vielzahl von Ausführungsvarianten dieses Zurückrollens führt er das technische, taktische und geistige Grundprinzip des tui shou zurück.
Wer Dr. Tao zum ersten Mal sieht, ist völlig überrascht einem Kampfkunstmeister von so zierlicher Gestalt zu begegnen. Anekdotisch wird von seiner Begegnung mit Prof. Cheng berichtet, dass dieser zu Tao gesagt habe er solle seine Brust jungfräulich, meint unberührt halten. Cheng forderte Tao also auf, seine Techniken des Ausweichens, Nachgebens und Neutralisierens so zu vervollkommnen, dass er gar nicht erst von einem Schlag oder Angriff getroffen würde. Professor Cheng hob immer wieder hervor, dass dies nur bei völliger Entspannung möglich wäre. Als Tao eines Tages nach einem push hands Training mit schmerzlichen Niederlagen in Chengs Haus kam und klagte wie hart und ruppig seine Gegner mit ihm umgegangen seien, konfrontierte ihn der Professor mit einer Frage: Woher weißt du, dass der andere hart war ? Und setzte nach einer Pause auf Taos ungläubigen Blick hin fort: wenn du wirklich weich und entspannt warst.
Dr. Tao hat im Laufe beharrlichen Übens aus seinem Nachteil klein und zierlich zu sein, einen Vorteil gemacht, nämlich flink und geschmeidig wie das Wasser zu sein. Nur so konnte Tao in der damals noch recht hartgesottenen Welt chinesischer Kampfkünstler erfolgreich überstehen.
Wasser
Das Symbol des Wassers steht mehr als irgendein anderes für seine Kunst und ist zu einem Leitbild für seine Schüler geworden.
Bei der Vermittlung der Kunst wie das Wasser zu sein betont immer wieder das Kontakt aufnehmen (linking together) mit der Energie des Partners und das Verschmelzen mit ihrer Richtung und Intensität (blending). Dieser Energie ist ohne Einschränkung nachzugeben und auszuweichen. Gleichwohl darf man sich nicht vor ihr wegziehen und damit den Kontakt verlieren. Tabu ist gleichzeitig jegliches dagegen Schieben und jeder Widerstand (don´t push back, don´t pull away).
Wenn man der Energie nachgegeben hat wartet man auf die weiteren Aktionen des Partners (yielding,waiting). Mit denen wird gleichermaßen verfahren, bis der Partner sich selbst aus dem Gleichgewicht gebracht hat und nicht mehr zentriert ist. Das ist der Moment wo man die Richtung ändern kann und den Partner nicht mehr sein Gleichgewicht wiedergewinnen lässt. Ohne oder mit minimalem Hinzutun wird der Partner völlig destabilisiert und fällt. Körperliche Kraft (li) kommt zu keinem Zeitpunkt ins Spiel.
Nachgeben als Form des Führens
Dr. Tao gibt dem Nachgeben und Gewähren lassen (yielding) unbedingten Vorrang vor allen anderen Möglichkeiten mit Energie umzugehen. Das ist Voraussetzung für seine Art des Führens (leading). Wer Dr. Tao pusht spürt ihn gerade genug, um den Versuch ihn zu Schieben weiter zu verfolgen und wird weiter gelockt. Doch ist Tao dort zu jedem Zeitpunkt vollkommen leer. Dies bemerkt man erst, wenn man in diese Leere fällt und keinen Halt, keine Gleichgewichtskontrolle mehr hat. Diese Hingabe an den Energieimpuls des Partners erfordert Leichtigkeit der Körper- und Fußbewegungen. Die Füße werden nicht am Boden fixiert, sondern dienen, wenn notwendig dem Nachgeben und Ausweichen. Diese Fußbewegungen versteht Tao nicht als Schritte, sondern sie sind nur Teil des Folgens und Nachgebens und keine eigenständige Aktion.
Voraussetzung für diese Fähigkeiten ist die Vervollkommnung des Energie Hörens (ting jing) und Verstehens (dong jing) und ein hohes Maß an Weichheit. Der Wechsel der Energierichtung oder –intensität muss unmittelbar im gleichen Augenblick die eigene Bewegungsantwort hervorrufen. Gelingt dies nicht, erspürt der Partner einen kleinen Widerstand und kann diesen zum Vorteil für sich nutzen.
Gleichsam sollte man dem Partner nicht erlauben, bei frontaler Körperstellung zueinander an zwei Punkten Kontakt mit dem Körper aufzubauen.( two points, too late). Dieser Fehler gibt dem Partner die Kontrolle über unser Zentrum und macht ein müheloses Nachgeben unmöglich.
Tai Chi in der 5. Dimension
Dr. Tao nennt fünf Dimensionen in denen jede Aktion abläuft: Die drei Dimensionen des Raumes, die der Zeit und die des Geistes.
Er benutzt zur Darstellung der räumlichen Qualität oft das Modell eines an einem Faden hängenden „Balls“. (Grafik 1) In dessen Mitte befindet sich das Zentrum des Tai Chi Spielers und es gibt zahllose Umlaufbahnen der Hände (Energie) in verschiedenen Abständen, Richtungen und Geschwindigkeiten. Nachgeben und Folgen werden zu Drehungen des Körperzentrums in unterschiedlichsten Achsen (Grafik linke Seite). Aktionen eines Gegners, die scheinbar einen geraden Verlauf haben (Schlag/push…), sind aufgrund biomechanischer Gegebenheiten Bewegungen um ein Zentrum (Gelenk/ Körperzentrum/Standpunkt) und dementsprechend eigentlich Kreisausschnitte – mit großem Radius. Diese Kreisbahnen zu erspüren und zu nutzen ist ein bedeutender Vorteil. Wirkt eine fremde Kraft auf einen Punkt dieses Balls, gerät der ganze Ball in eine rotierende Bewegung. So wird dann der Kontaktpunkt dieser fremden Energie zu einem Punkt auf der Oberfläche dieses Balls. Sein Umfang wird durch den Taiji-Spieler dem Radius der gegnerischen Bewegung angepasst, nachdem er sein Zentrum ein wenig aus der direkten Linie des Angriffs bewegt hat. Der Gegner hat das Gefühl erfolgreich vorzudrängen und will den Kontakt noch verstärken. Hat er sich so weit vorgewagt, dass er kaum noch im Gleichgewicht ist, wird auch sein Körperzentrum zu einem Punkt des sich drehenden Balles. Schließlich ergibt sich ein komplex verknüpftes Netz von Punkten, die nachgeben oder vordrängen. Auf diese Weise ergibt sich ein dreidimensionales Körper- und Bewegungsbild, das den Partner integriert und seine Führung -zunächst unbemerkt- übernimmt.
Der Energieeinsatz des Partners bringt uns in Bewegung. Wir nutzen diese Energie zur Entwicklung eines Momentum. Das ist das Produkt von Masse und Geschwindigkeit (Grafik rechte Seite) Am Beispiel des Pendels lässt sich dies einfach verdeutlichen. Das Pendel (Masse) wird vom Gegner aus der Ruheposition in Bewegung gebracht und beschleunigt, der Taiji Spieler gibt nach und sobald die vordringende Kraft ihr Maximum überschritten hat leitet er die daraus entstehende Schwungkraft mit einem sparsamen Einsatz eigener Energie um. Dieses Momentum kann nun auf den destabilisierten Partner zurückwirken. In genau dem Augenblick , in dem die Kraft des Gegners ganz schwach wird, verfügt der Taiji-Spieler über die größte potentielle Energie (Umkehrpunkt des Pendels)
Timing
Der Raum-Zeitverlauf spielt bei Taos Aktionen eine herausragende Rolle. Als Schüler erlebt man den Zeitfaktor oft ein wenig schmerzlich in Taos Formulierung „too late“. Unsere Veränderung im Raum war in Ordnung, aber ihr zeitlicher Verlauf machte sie unangemessen. Sein tui shou ist wahrhaftig auch eine Kunst des richtigen Augenblicks. Immer wieder demonstriert er die Wirkung dieser Grundsätze auch mit den kräftigsten und schwersten Partnern.
Anwendbarkeit
Stets erinnern er und sein Assistent Nathan Menaged die SchülerInnen daran, während Lernphasen mit einfachen Bewegungen, die klar und in ihrer Richtung eindeutig sind, zu üben. Selbst Fortgeschrittene können nur so die Prinzipien deutlich und bewusst einsetzen. Das Lernen scheitert am Raffinierten und entfernt sich von der Realität eines Kampfes. Ein ernsthafter Angriff wird mit viel Wucht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet (z.B. Schlag zum Kopf). Duckt sich der andere angemessen, verfehlt der Schlag sein Ziel und geht ins Leere. Diese Aktion lässt sich vom Angreifer während der Ausführung nicht mehr wirkungsvoll umlenken. Beim langsamen Üben des push hands setzen viele auf ständige Richtungswechsel. Nathan Menaged beschreibt dies als „heat seeking“, eine Technik aus der Raketenabwehr, bei der eine Flugabwehrrakete auf Hitze, die aus dem Triebwerk kommt, programmiert ist und so dem Ziel auch bei allen Flugmanövern folgt, bis sie es erreicht. Dr. Tao meint solche Manöver und Finten können im Freien push hands Siege bedingen, aber erschweren den grundlegenden Lern- und Verstehensprozess dieser Kampfkunst beider Partner.
Wuwei – Handeln durch Nicht-Handeln
Der Geist – die fünfte Dimension – bringt im Wechsel Ruhe, Bewegung, Entspanntheit und Energie hervor, seine Absichtslosigkeit lässt die angemessene Form spontan entstehen.
Den theoretischen Ansatz in den praktischen Anwendungen zu erleben, ist ein unbeschreibliches Vergnügen. Ein Vergnügen am eigenen Scheitern, am gelegentlichen, unverhofften Gelingen und an der Geduld des Meister Tao.
Nichts zu erzwingen, nicht sich und seine Absicht in den Mittelpunkt stellen und durchsetzen sind auch Hinweise auf persönliche Grundhaltungen, die sein Tai Chi Verständnis und seine Lebenshaltung prägen.
„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“- frei von Zwang, möchte ich ergänzend zu Erich Kästner hinzufügen.
Autor: Detlef Klossow
Fotos: Nils Klug und Detlef Klossow