Mit Erfahrungen, Gedanken und chinesischen Schriftzeichen von Ingolf Peters nach Vorlagen von Wang Ning
Das altchinesische Zeichen für WU zeigt oben eine Hiebaxt und unten einen Fuß, was sich als Gehen – Marschieren mit einer Waffe deuten lässt. Später wurden die Zeichen für Gehen nicht mit einem, sondern mit zwei Füßen dargestellt. Dies lässt nun bei einem Fuß auch die Interpretation des Stehens – Nichtgehens mit einer Waffe im Sinne dessen, dass das Kämpfen aufhört, zu.
WU – Kampf und Gehen mit einer Waffe bedeutet gleichzeitig Nichtkampf und Nichtgehen mit einer Waffe. Das ist der Weg. WU kann uns den Weg weisen.
Sunzi schreibt in seinem „Buch der Kriegskunst“ sinngemäß, dass es das Beste vom Besten ist, zu siegen, ohne seine Waffe zu benutzen.
WU bedeutet lexikalisch – militärisch und steht auch für alle Kampfarten.
Weitere Zeichen wie WUDE – Tugend des Kampfes, WUSHU – Kampfkunst, WUSHI – Krieger und WUSHIDAO – Weg des Kriegers können hier abgeleitet werden.
So wie Yin und Yang sich gegensätzlich zueinander bedingen um zur Einheit zu kommen, ergänzen sich WU und REN.
Das Zeichen REN wird mit einer Messerschneide, die in ein Herz schneidet, dargestellt. Geduld üben, dulden, aushalten und ertragen sind seine Bedeutung.
Das Eindringen der Messerschneide in das Herz lässt Schmerzen erkennen, die es gilt auszuhalten. Ohne entsprechende Einsicht dafür, wird es meiner Meinung nach nicht möglich sein, über eine genügende psychische Stabilität zu verfügen, um den Weg der Tugend in der Kampfkunst zu gehen. Mir ist auch kein ernstzunehmender, ehrlicher Weg bekannt, weder im Daoismus, Buddhismus, Christentum oder anderen hier nicht genannten Wegen, der nicht Geduld erfordert. Ohne Geduld, kann WU als Nichtkämpfen sich nicht entwickeln. Wu als Nichtkampf und/oder als Kampf weist den Weg und REN – das Geduldüben bereitet uns Menschen darauf psychisch vor.
Ein weiteres „gegensätzliches“ Zeichen zu WU ist das Zeichen WEN.
WEN wird hier so wie REN als Gegensatz zum WU benutzt, um in seiner Gegensätzlichkeit dann zur Einheit zu führen, so wie Yin und Yang.
WU steht hier für wild, blutig, stark, tapfer, grob, direkt und für einen gesunden Körper.
WEN für zivil, friedlich, sanft, intelligent, fein, geschickt und einen gesunden Geist.
WU steht für Schwert – Jian. WEN für den Pinsel – BI. Das Schwert niederzulegen um den Pinsel aufzuheben, ist eine praktische Möglichkeit des Kämpfers, sich weiter zu kultivieren und mit dem Kämpfen aufzuhören.
Großmeister Chen Xiaowang 19. Generation, gibt für mich hier das beste Beispiel dafür, durch seinen Weg vom größten Kampfkunstmeister den ich kenne, zum zweithöchsten Kalligrafie-Meister von China. Seine außergewöhnlich hohen Kampfkunstfähigkeiten, Gong Fu, drücken sich nun auch in seinen Kalligrafien aus. Die finanziellen Einnahmen für den Verkauf seiner Kalligrafien verwendet er für Chenjiagou – den Ursprungsort des Taijiquan, wo in Folge viel Altes und Neues entstanden ist. Dieser Ort, seine Menschen, die Taijiquanschule und der Chen Wangtingtempel haben mich zutiefst beeindruckt und mir das Gefühl von endlich ANGEKOMMEN gegeben.
DE – ist die Handlung – das Wirken auf dem Weg und wird als Zeichen mit zwei Füßen für den Weg und zwei Menschen für die Handlung, mit zwei Augen die von reinem Herzen geradeaus schauen, in Tugend handelnd, dargestellt. Das Zeichen sagt, wie das Herz zu steuern und der richtige Weg zu fokussieren ist. Diese ist die häufigste Darstellung des DE. Es gibt auch eine zweite Schreibweise, wo die zwei Füße nicht dargestellt werden. DE ist die Regel und der Maßstab für Moral und Tugend. Nicht nur für von Menschen gemachte Gesetzmäßigkeiten, sondern auch für höchste Niveaus menschlicher Entwicklungen. WUDE ist die Tugend des Kampfes und höchste Regel des Kampfes – der Kampfkunst.
Um WUDE zu entwickeln muss das Herz bearbeitet und der richtige Weg gefunden werden. Für das Herz wird Ting – Zuhören gebraucht. Um den richtigen Weg zu finden, brauchen wir die Augen. WUDE ist wie eine Aufnahmeprüfung die darüber entscheidet, ob ich das was ich dann in der Kampfkunst sehen und hören darf, richtig verstehe und praktizieren kann. Nach Prüfung der Regeln das Ver- halten zu regeln ist die ständige Aufnahmeprüfung dafür, was ich aufnehmen darf und kann und was nicht. Unser eigenes Verhalten – WUDE bestimmt hier als uns betreffendes kontinuierliches Zulassungs- und Ausschlussverfahren zum WUDAO.
Das Zeichen Ting wird aus dem Ohr, der schwangeren Frau, dem gerade schauenden Auge und dem Herzen gebildet. Das heißt, wenn die Augen nicht ausreichen, müssen die Ohren das Bild in das Herz bringen. Dies bedarf der besonderen Sensibilität einer Schwangeren. Also mit ganzem Herzen und vollstem Bewusstsein dem Gehörtem klar, wach und einfühlsam die ungeteilte Aufmerksamkeit widmen.
Im Zeichen für DAO sind wieder zwei Füße enthalten, um den Weg, der das Ziel ist, zu gehen.
Im Zeichen für DAO ist ein Kopf zu erkennen, oben mit Kopfhaar und darunter mit Augen und zwei Füßen. Die Augen schauen klar den Weg, denn der Weg ist das Ziel. Die zwei Füße symbolisieren, dass dieser Weg zu gehen ist. Wenn das DAO so groß ist, dass es nicht beschreibbar ist und alles was wir aussprechen können, nicht das DAO ist und wenn der, der glaubt es verstanden zu haben, es nicht bekommt, wie oder warum, können wir diesen Weg dann gehen? Ich glaube, dass wir diesen Weg als Menschen gehen können, weil das große DAO den Naturgesetzen und das kleine DAO den menschlichen Gesetzen entspricht. Was bedeutet, dass wir als Menschen unseren Weg auf der Erde gehen und wenn wir den Naturgesetzen der Erde folgen, folgen wir den Naturgesetzen des Himmels.
So wie die Gesetze des Himmels auf die Erde wirken, so folgen die wirklich Praktizierenden dann den Gesetzen des Himmels. Um hier folgen und den richtigen Weg gehen zu können, bedarf es der Entstehung eines wahren Herzens, dort, wo es nicht anhaften kann. Dieses Herz steuert das tugendhafte Verhalten und die Augen erkennen gerade den Weg. DE als tugendhaftes Verhalten ist also die Wirkung des DAO auf dem Weg. Der Weg ist das Ziel. Ohne DE kein DAO – ohne DAO kein DE. Gewöhnliches Verhalten, ohne TING – Hören und ohne DE- Tugend und das Praktizieren von gewöhnlichen Techniken führen nur dazu einen eigenen gewöhnlichen Weg zu gehen und nicht den Weg des DAO. Ich habe Menschen erlebt, die das sehr bewusst nach außen hin vertreten haben. Die auf ihren eigenen Weg sehr stolz waren und mich versuchten davon zu überzeugen, dass dies viel besser wäre für meine Entwicklung, also nur meinen „eigenen“ Weg zu gehen, als einem traditionellen Großmeister zu folgen. Diesen Ansichten und Wegen folgte ich nicht und bin dafür „reich“ belohnt worden.
Allein für sich zum DAO zu wollen, kann nur zur Unvollständigkeit führen. Wer nur Andere auf den Weg zum DAO bringen möchte, ohne ihn selber zu gehen, bleibt auch unvollständig. Ein wirklicher traditioneller Lehrer, im Sinne des DAO, geht mit den Regeln und den entsprechenden körperlichen – geistigen Übungen seiner bewährten und nachvollziehbaren Tradition, mit seinen Schülern zusammen den Weg des DAO. DAO ist überall, aber nicht alles ist DAO, auch wenn das DAO alles durchdringt. Wenn ich mir zum Beispiel erlaube zu sagen, dass DAO wie Wasser überall ist und ich mir jetzt ein neues Bett beschaffe und im Holz des Bettes noch kleinste Reste von Wassermolekülen sind, habe ich dann schon ein Wasserbett? Was ist zu tun und was sollte ich nicht tun, also welche Wege sollte ich gehen und welche Wege sollte ich nicht gehen, wenn ich mein Ziel ein Wasserbett zu erhalten, erreichen will? Die Anwesenheit von Wassermolekülen im Holz reichen dafür sicher nicht aus. Wenn das DAO nicht begreifbar und erklärbar ist, so deutlicher und hilfreicher wird durch die richtige Praxis aber die Wahrnehmung für wahres TING, DE, REN und WUDE und auch dafür, was sie nicht sind. Für das DAO sind genaue Antworten nicht wichtig und wer glaubt alles verstanden zu haben liegt falsch. Sehr hilfreich ist die Unterscheidung von dem ,was es nicht ist, also – kein Wasserbett. Dies macht den richtigen Weg klarer. Ein guter Lehrer und Praktizierender überprüft ständig, ob das Handeln seiner Schüler und sein Eigenes, in Einklang – Tugend DE mit dem DAO ist und wird auf seine Schüler und sich selber diesbezüglich immer Einfluss nehmen. Gewöhnliche Menschen verstehen dies nicht und würden sich hier ungerecht behandelt und belästigt fühlen.
WUDE – Die Tugend in der Kampfkunst ist unerlässlich dafür, zum WUDAO zu kommen.
Über den Weg der Kampfkunst zum DAO zu kommen – WUDAO, oder umgedreht, über das DAO zur Kampfkunst zu kommen, bewirkt, dass Ängste kleiner werden, Mut und ein starker Wille sich vergrößern, sich Körper und Geist erneuern und daraus folgt Weisheit.
Als Kampfkunstpraktizierende absolvieren wir hier verschiedene Niveaus. Von unteren technischen Ebenen der nur körperlichen Kampfanwendungen können wir in höhere Ebenen der Anwendungen mit Qi kommen, über die dann Herz und Weisheit siegen, bis dass DAO über die Weisheit siegt. Wer das DAO hat, ist unbesiegbar.
Großmeister Chen Xiaowang, 19. Generation der Chentaijiquanfamilie, wird schon heute für sein außergewöhnlich hohes Gong Fu-Level, seine Kampfkunst- und Kalligrafie-Fähigkeiten in China und vielen Ländern unserer Erde sehr geschätzt. Seine Kampfkunsttugend WUDE, ist für mich eine sehr lehrreiche Praxis, die ich seit über 10 Jahren mehrmals im Jahr in verschiedenen Ländern innerhalb und außerhalb des Unterrichts miterleben darf. Mein japanischer Karatedo Doshinkan – Lehrer Hanshi 10. Dan Isao Ichikawa, verstorben 1996, betonte immer wieder, dass ohne Höflichkeit und Respekt, eine höhere Entwicklung nicht möglich ist. Da ich bei Großmeister Chen Xiaowang alles gefunden habe, was ich vorher in verschiedenen Kampfkünsten suchte, praktiziere und unterrichte ich seit vielen Jahren keine anderen Kampfkünste mehr. Es geht nicht darum andere Kampfkünste schlecht zu machen und ich respektiere alle Kampfkünste die mit WUDE den Weg zum DAO – WUDAO gehen. Schon vorher als Schüler und besonders jetzt als einer seiner von ihm persönlich angenommenen Meisterschüler, ist es auch für mich ein Teil von WUDE, ohne unnötige Umwege und Ablenkungen, seinem Lehrsystem zu folgen. Dies versuche ich auch als Lehrer zu vermitteln, wie eine Brücke zwischen unserem Großmeister und meinen Schülern. So etwas wünsche ich allen Praktizierenden und erlaube mir den Hinweis, dass ich glaube, dass die ständige Suche nach der Wahrheit eher zum richtigen Meister führt, als eine nur vom eigenem Egoismus geprägte Suche. Dann reicht es auch nicht aus, sich auf einen großen Namen und ein paar erworbene erfolgreiche Kampfkunsttechniken zu berufen. Das Recht des Stärkeren kann manchmal das größte Unrecht sein. Zur Fähigkeit als Lehrer andere Menschen führen zu können, gehört auch die Fähigkeit sich selber führen zu lassen. Nicht nur wenn es angenehm und leicht ist, auch wenn es mal schwer ist und weh tut. Als Praktizierende brauchen wir REN – Geduld und TING – das richtige Hören um richtig zu verstehen, wenn Schmerzen, unangenehme, oder auch angenehme Dinge und falsche Verlockungen uns vom Weg abbringen. In den Zeichen DE – Tugend und TING – Hören finden wir rechts oben das gerade schauende Auge, dass wir brauchen um den richtigen Weg zu erkennen, denn der Weg ist das Ziel. Also falscher Weg – falsches Ziel. Hier fühle ich mich im Chentaijiquan nach Großmeister Chen Xiaowang bestens aufgehoben. Im Taijiquan praktizieren wir die drei inneren Zusammenschlüsse, Nei San He, und als erstes „Herz und Aufmerksamkeit (Bewusstsein) verbinden sich“. Sein Lehrsystem ist vollständig und sehr klar in den Anweisungen, was und wie zu üben ist. Für den Anfänger und bis zur höchsten Stufe. Als Lehrer ist er für uns Schüler seit über 10 Jahren mehrmals im Jahr erreichbar, da er ständig zum Unterrichten zwischen Ländern und Kontinenten hin und her reist. Einen großen Teil seiner finanziellen Einnahmen verwendet er zum Wiederaufbau – Aufbau von Chenjiagou, dem Ursprungsort des Taijiquan, seiner Tempelanlagen und der Chentaijiquanschule. Das ist für mich WUDE und WUDAO in der praktischen Anwendung. Als Lehrer für Chentaijiquan ist es für mich selbstverständlich, dass auch ich mich entsprechend meiner Möglichkeiten hier finanziell einbringe. Besonders Lehrkräfte, die mit Chentaijiquan Geld einnehmen, sollten hier ihre Möglichkeiten nicht verpassen.
Buchtipps:
Zu meinen bisherigen Ausführungen empfehle ich die Unterrichte, Kalligrafien, theoretischen Abhandlungen und das große Bildbandbuch ISBN 978-7-5009- 3413-4 von Großmeister Chen Xiaowang.
Als Hilfe zur Feststellung der eigenen Kampfkunstfähigkeiten und der damit verbundenen eigenen Einordnung in das entsprechende WU – Level empfehle ich das Buch „Die 5 Level des Taijiquan nach Großmeister Chen Xiaowang“ kommentiert von Meister Jan Silberstorff, Lotus Press ISBN 3-935367-08-2
Quelle: Lotus-Press, Chen Magazin 2011, Jan Silberstorff und Wang Ning