Erdung („Rooting“) im Tai Chi und Push Hands
Das regelmäßige Üben einer Taijiform führt, sofern sie korrekt ausgeführt wird, zu einem anderen Körperbewusstsein und zu anderen Bewegungen als man sie bisher gewohnt war. Der Wechsel zwischen Spannung und Entspannung in verschiedenen Muskelgruppen wird deutlicher und man kann ökonomischer mit der eigenen Energie arbeiten, da diese nur so stark eingesetzt wird wie für eine bestimmte Situation erforderlich. Dieses „Umdenken“ von Körper und Geist ist im Taiji Mittel und Zweck zugleich, denn das neue Körperempfinden ist die Grundlage für weitere Fertigkeiten, die man im Taiji erwerben kann.
Im Internet kursieren zahlreiche Videos, in denen gute und weniger gute Taiji-Praktizierende ihre Fähigkeiten demonstrieren. Oft kann nur ein geschultes Auge den Unterschied zwischen einer guten Bewegung und einer weniger guten Bewegung erkennen. Dieser Unterschied ist nur minimal und oft nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber wer selbst ein gewisses Niveau im Taiji erreicht hat, kann auch die Bewegungen anderer Menschen genau analysieren und sehen, ob es sich bei einer Bewegung um Taiji handelt oder nicht.
Die Form ist die wichtigste Grundlage für das Erlernen des Bewegungsprinzips, welches im Taiji vermittelt wird. Bei der Form handelt es sich um eine Folge von verschiedenen Bewegungen, die in einen mehr oder weniger logischen Zusammenhang gesetzt sind und durch einen Wechsel im Tempo, im Rhythmus und in der Höhe variiert werden können. Es scheint unendlich viele Formen zu geben. Blickt man allein auf den Yang-Stil – der meist verbreitete Taiji-Stil weltweit – so gibt es in diesem lange Formen und kurze Formen. Darüber hinaus findet man verschiedene Neuerungen, angepasste Versionen und stilübergreifende Bewegungsmuster. Der Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt. Ganz gleich welche Form man übt, soll das Üben früher oder später dazu führen, die neue Beweglichkeit zu erproben.
Tuishou – Taiji in der Praxis
Im Taiji gibt es zahlreiche Partnerübungen, die dazu dienen, Taiji-Fertigkeiten zu entwickeln bzw. die bereits erworbenen Fähigkeiten zu überprüfen. Die bekannteste Übung ist das sogenannte Tuishou. Das Wort „Tuishou“ stammt aus dem Chinesischen und wird in der Regel mit „schiebende Hände“ übersetzt. Synonym spricht man auch vom „Pushen“ oder vom „Push hands“. Tuishou ist eine Übung, die nicht nur im Taiji praktiziert wird, sondern auch in anderen Kampfkünsten geübt wird.
Beim Push hands stehen sich zwei Partner gegenüber. Sie berühren sich an den Armen und an den Handgelenken bzw. an den Händen. Durch einen Impuls wird eine Bewegung in Gang gesetzt, die nicht unterbrochen werden soll. Tuishou ist also durch eine Bewegungsschleife gekennzeichnet, bei der es darauf ankommt, einen Druck vom Partner aufzunehmen und umzulenken. Beide Partner sind an der Bewegung beteiligt, so dass keine getrennte Bewegung stattfindet, sondern die besagte Bewegungsschleife erhalten bleibt.
Tuishou ermöglicht es, den eigenen Stand zu kontrollieren, die eigene Bewegung zu begutachten, das eigene Entspannen zu überwachen und das eigene Reagieren auf einen äußeren Druck zu beobachten und bewusst zu verändern. Durch den kontinuierlichen Kontakt zum Partner, kann man auch die Absicht des Gegenübers bereits vor dessen Handlungsaktion erkennen und rechtzeitig reagieren. Push hands ermöglicht das Erspüren des gegnerischen Schwerpunktes und eröffnet zahlreiche Handlungsalternativen, die allesamt auf eine spielerische Art und Weise erprobt werden können. Meist handelt es sich um bestimmte Druckimpulse, die in eine gezielte Richtung abgegeben werden, um den Partner aus dem Gleichgewicht zu werfen. Je nach Stärke des Druckes kann der Partner mehrere Meter weit weg geworfen werden – kraft- und mühelos.
Nur ein Baum mit starken Wurzeln bleibt stehen
Eine sehr wichtige Voraussetzung für gutes Tuishou ist der eigene Stand. Man muss sehr sicher stehen können, ehe man sich einem äußeren Druck aussetzt und auf diesen reagieren will. Ein guter Stand wird einerseits durch die Form und ergänzende Einzelübungen entwickelt; er entwickelt sich aber auch andererseits durch das Push hands. Je nach Übungsmöglichkeiten kann das Pushen sogar wesentlich ertragreicher für die Standfestigkeit („Verwurzelung“) sein, da man seinen eigenen Körper in Relation zu einem anderen erfährt. Durch den eindringenden Druck des Partners kann man schneller auf eigene Schwachpunkte aufmerksam gemacht werden. Der Partner kann einem zeigen, wo man selbst das Gleichgewicht verliert und wo man sicher steht; dies ist in Einzelübungen und in der Form nur sehr bedingt möglich.
Man kann also von folgenden Prämissen ausgehen:
1. Push hands gelingt nur mit einem sicheren Stand.
2. Ein sicherer Stand wird vor allem durch das Pushen ermöglicht.
Dies scheint zunächst nach dem Dilemma des Hauptmanns von Köpenick zu klingen: Keine Aufenthaltsgenehmigung ohne Arbeit; keine Arbeit ohne Aufenthaltsgenehmigung. Wo kann man also einen guten Ansatzpunkt finden, der beide Prämissen berücksichtigt?
Zunächst ist es natürlich wichtig, die Form zu laufen. Weiterhin kann man auf einzelne Standübungen zurückgreifen. Hierbei fehlt der Druck von außen, so dass man kaum eine Möglichkeit hat, seinen Stand zu prüfen. Statt nun sogleich mit dem Tuishou zu beginnen, bietet es sich an, die Taiji-Fertigkeiten im Stand zu überprüfen. Durch die Kombination von Tuishou-Prinzipien mit Einzelübungen erhält man einen guten und vor allem sicheren Zugang zum Push hands. Man kann in aller Ruhe den Umgang mit äußerer Energie erproben. Hierfür nimmt man eine beliebige Haltung ein und ein Partner übt einen langsamen aber stetigen Druck auf den Körper aus. Wenn man gut steht, gelingt es einem, den Druck in den Boden abzuleiten.
Die Wurzelfähigkeit überprüfen
Ist man erst mal mit der Form vertraut, können die einzelnen Positionen kontrolliert werden. Man wählt am besten eine Position, in der man sich wohl fühlt. Die wichtigste Voraussetzung für das Wurzeln ist die richtige Verteilung des Körpergewichts auf den ganzen Körper. Wenn diese Verteilung nicht stimmt, bricht der Körper weg und man fällt entweder hin oder leistet einen Widerstand, der auf roher Muskelkraft gründet, was nicht im Sinne des Taiji ist.
Wenn man einen sicheren Stand gefunden hat, kann der eigentliche Test beginnen. Der Partner nimmt Kontakt auf und überprüft die Gewichtsverteilung durch Drücken, Schieben oder Ziehen des Oberkörpers. Die Druckstärke kann erhöht werden, wenn die Wurzelfähigkeit zunimmt. Bei einer guten Wurzel bleibt der Körper stabil und die Gewichtsverteilung und die Ausrichtung des Körpers fallen korrekt aus. Diese einfache Basisübung ermöglicht nicht nur das Überprüfen des eigenen Standes, sondern fördert zugleich die Entwicklung einer flexiblen Reaktion, da der Körper immer wieder dem äußeren Druck angepasst werden muss.
Man sollte regelmäßig die eigene Körperposition kontrollieren, um mögliche Fehler rechtzeitig entdecken zu können. Hierfür ist man nicht zwangsläufig auf einen Lehrer angewiesen. Das sachte Druckausüben können auch der Ehepartner, der Bruder, eine Freundin, der Vater oder die Trainingskollegen übernehmen.
Ist man in der Übung fortgeschritten, kann man auch die Bewegung, also den Wechsel von einer Position zur nächsten, unter diesen Bedingungen überprüfen. Diese Überprüfungen sind eine hervorragende Möglichkeit, sich auf das Push hands einzustimmen, welches meist noch freier und spontaner abläuft als dies in der eben beschriebenen Übung möglich ist.
Autor: Christoph Eydt
Fotos: taiji-forum.de