Ein Erfahrungsbericht von Giles Rosbander aus dem Jahr 1999
Vom 20. bis zum 29. März 1999 dieses Jahres hat Meister Tao Ping Siang einen Tui-Shou-Workshop in Hannover gegeben. Es war das erste Mal seit vielen/ Jahren, daß er nach Deutschland gekommen ist und nie zuvor hatte er sich bereit erklärt, so lange an einem Ort zu unterrichten.
Dr. Tao (er hat in früheren Jahren auch Flugzeugbau (!) studiert, und hat eine durchaus ‚wissenschaftliche‘ Herangehensweise an Taiji) war langjähriger Schüler von Professor Cheng Man Ching. In den fünfziger Jahren lebte er mehrere Jahren in seinem Haus und lernte dessen Taiji als „indoor student“; zuvor hatte er schon verschiedene äußere und innere Stile gelernt. Sein Ruf war im Westen bisher relativ gering, da er von seiner Art eher bescheiden ist und lange Zeit auf Taiwan blieb, ohne im Westen zu unterrichten. Heutzutage verbringt er jeweils sechs Monate des Jahres in Amerika und sechs Monate auf Taiwan. Er ist jetzt im Alter von 80 Jahren.
Im folgenden Bericht gebe ich meine persönliche Eindrücke und Erfahrungen vom Workshop wieder. Es ist durchaus möglich (und richtig), daß andere Teilnehmer eine andere Geschichte zu erzählen hätten.
Als ich zum Workshop fuhr, waren meine Gedanken im etwa: „Ich glaube, ich sollte es mal erleben, aber bloß nicht zu viel erwarten!“. Allerdings kannte ich schon Nathan Menaged, der für Dr. Tao assistieren sollte: seine Art, ein sehr sensibeles Taiji mit „handfester“ und durchaus überzeugender Kampfkunsttechnik zu kombinieren (+ viel Humor!), hatte mich im vorigen Jahr begeistert. Nach einer Stunde Unterricht von Nathan, betrat dann Dr. Tao den Raum. Er ist klein, eher schmächtiger vom Statur und, obwohl er eine lebendige und freundliche Ausstrahlung hat, sieht man ihm seine Jahre an. Als erstes fragte ich mich, ob ein Stereotyp lebendig geworden sei: der „nette, alte Taiji-Großvater“, der trotzdem über großes Gongfu verfügt und mit jungen, starken Männern spielend fertig wird. „Mal abwarten“, dachte ich mir. Wie es sich in den nächsten Tagen zeigen sollte, war jedoch meine Skepsis hier unangebracht. Er hatte es wirklich darauf! Um etwas vorweg zu greifen: in den folgenden Tagen zeigte er mehrmals, wie er jeden Übungspartner – besonders wenn dieser ihn unbedingt ‚kriegen‘ wollte – innerhalb weniger Sekunden mit ein paar kleinen Bewegungen und Schritten so weit neutralisieren konnte, daß der Partner entweder auf die Knien fiel oder so sehr aus dem Gleichgewicht war, daß Dr. Tao ihn mühelos weit weg befördern könnte. (Oder gelegentlich, mit einem schelmischen Grinsen, zeigte er wie ein netter, kleiner Schlag, Hebel oder Augenstich auch zu den Möglichkeiten gehörten). Dabei sollte gesagt werden, daß manche Teilnehmer schon einiges an Kampfgeist und -können mitbrachten, auch aus Stilen wie Wing Chun und Xing-Yi, und zögerten nicht, das Gongfu von Dr. Tao erstmal auf die Probe zu stellen.
Es wird erzählt, daß als Dr. Tao sich zum ersten Mal mit Cheng Man Ching traf, schaute dieser ihn an und sagte ihm: „Laß dich niemals von jemandem an der Brust berühren“. Damit bezog sich Cheng Man Ching auf Taos eher zarten Körperbau und meinte, es wäre für ihn zu gefährlich. „Damals“ ging es auch beim Tui-Shou oft ruppig zu und aus einem vorsichtigen „Push“ konnte plötzlich ein ansatzloser (und verwüstender) Schlag werden. Einer von festerem Statur, und von Neigong Übungen gestärkt, könnte so was vielleicht überstehen, aber einer wie Dr. Tao eher nicht. Also entwickelte er unter Anleitung von seinem Lehrer besonders betont das Neutralisieren von einwirkenden Kräften. Und zum Neutralisieren gehören natürlich die ‚zuhörende‘ und ‚verstehende‘ Energien: das Ting Jing und Dong Jing, wobei man die Bewegung/Energie des Partners so fein wie möglich wahrnimmt und folgt – natürlich ohne die eigene ‚Souveränität‘ zu verlieren! Also was heißt das konkret? Eigentlich sehr einfach: „DON’T PUSH BACK, DON’T PULL AWAY“. Mehr nicht? Im wesentlichen nicht, aber dieses muß man etwas näher betrachten…
Als erstes muß ich betonen, daß Dr. Tao auf traditioneller, chinesischer Art unterrichtet. Das bedeutet das – etwas vereinfacht – daß der Lehrer nicht ausgebreitet erklärt, sondern einfach seine Botschaft mitteilt, und wiederholt, und wiederholt… Das hat sowohl Vorteile als Nachteile, besonders für Westler, aber in diesem Falle fand ich es richtig. Er hat auch unterstützende Tipps gegeben, und vor allem dieses Prinzip in der Praxis viel (und verblüffend überzeugend) gezeigt, aber es führte hier kein Weg herum, daß man selbst viel ausprobieren mußte. Am Anfang konnte man denken (wenn man schon eine Prise Erfahrung und Können mitbrachte): „Ja, ja, ich bin schon weich“. Aber je mehr man sich auf seine Botschaft einließ, und die Sensibilität für die Partnerarbeit steigerte, desto mehr wurde es einem klar, wie tiefgründig diese Aufforderung ist. Wenn der Partner zu dir schiebt, deine Arme, Rumpf oder sonst was ‚pushen‘ will, wie schnell fängt man an, Gegenkraft auszuüben. Blitzschnell ist man dann im Kräftemessen verfangen, wie zwei Stiere ineinander verkeilt (auch wenn die Gegenkraft nur ‚gering‘ ist). (DON’T PUSH BACK!) Oder man bemüht sich, die Gewohnheit des Kraft-Benutzens doch zu meiden, und dabei ‚flüchtet‘ man aber vor dem Vorstoß, verliert Kontakt und, kollabierend, zieht die Energie des Partners in die eigene Mitte anstatt sie umzulenken und zu nützen. (DON’T PULL AWAY!). Sondern dafür sorgen, daß der Druck auf deinen Körper ganz gering und gleichmäßig bleibt. Es gehört schon einiges dazu, diesen Prinzipien auch nur einigermaßen konsequent zu folgen. Wie Dr. Tao immer wieder zeigte, muß man unter anderem sehr viel (und als Erstes!) in den Hüften und Rumpf arbeiten, nachgeben, und nicht einfach mit den Armen ‚kreisen‘. Als weiteres Element: man schafft im Geiste einen Kugel, der die eigene Energie und die des Partners umschließt. Gelingt es einem, den Mittelpunkt dieser Kugel im eigenen Dan T’ien zu plazieren und zu behalten, ist man dann schon ‚auf dem Weg‘ und kann produktiv weiterüben.
Die Arbeit war also richtig intensiv: für den Körper und noch mehr für den Geist. Sie erforderte höchste Konzentration und eine gehörige Bereitschaft, ‚in dem Verlieren zu investieren‘, immer wieder fand man sich in einer Lage, wo man Gegenkraft doch ausübte oder den richtigen Moment des Neutralisierens verpaßt hatte und daher ‚gepusht‘ wurde. „TLFDT“ („too late for Dr. Tao“) riefen wir oft, als man erkannte, man war wieder zu spät und vom Partner schon ‚festgenagelt‘. Natürlich könnte man sich dann wahrscheinlich auf andere Art ‚befreien‘, aber nur mit Einsatz von Gegenkraft. Wenn man aber die filigrane Qualität von dieser Arbeit erlernen will, muß man erstmals konsequent auf solche ‚Rettungsmanöver‘ verzichten. Stattdessen sich ‚geschlagen geben‘ und einfach wieder anfangen.
Also warum überhaupt? Wozu die ganze Mühe (und Frust)? Weil ganz allmählich man ein Gefühl dafür bekommt; gelegentlich klappt es so weit, daß man erahnt, welche Möglichkeiten in diesem Ansatz verborgen liegen. Und diese sind sehr schön, sehr spannend. Ab und zu (meistens wenn man die Hoffnung schon aufgegeben hat, man würde irgendwelche Kunststücke fertigbringen) hat man das Gefühl, „nichts zu tun“ und der Partner fällt plötzlich auf die Knien oder springt weg. „Wie, was?“ denken beide dann. Probiert man diesen ‚Erfolg‘ direkt zu wiederholen, klappt es garantiert nicht. Also einfach weiter entspannen, nichts wollen außer die eigene Mitte behalten und weiter auf das unmittelbare Geschehen konzentrieren. Und zum hundertsten Mal: „Don’t push back, don’t pull away“. Zum Glück machte das Üben auf dieser Art trotzdem meistens großen Spaß, auch wenn es nicht leicht war.
Dr. Tao selbst war sehr engagiert am unterrichten. Manchmal erklärte er theoretische Aspekte der Arbeit, wobei er eher ’nüchterne‘ Aspekte wie Kraftlinien und Zeit betonte statt sich auf das etwas amorphes Konzept von ‚Qi‘ zu berufen. Dann übten wir weiter und er ging herum, betrachtete jedes Paar und – wenn er sah, wie jemand in Schwierigkeiten geriet – griff er sanft ein und zeigte, wie man die bestimmte Situation lösen konnte. Dabei übte er ein paar Momente mit dem Teilnehmer, manchmal ‚im Stillen‘ und manchmal indem wir alle ein Moment zuschauten. Im Laufe der Zeit bekam also jeder seine Technik und Energie sanft zu spüren. Obwohl manche im Workshop vielleicht sich dessen nicht bewußt waren, war das etwas ganz Besonderes: es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß ein Meister seiner Größe und seiner Generation es überhaupt zuläßt, daß ’normale‘ Schüler ihn berühren. Solches Privileg (mit dazugehörendem Lerneffekt) ist oft allein den Meisterschülern vorbehalten. Aber hier war Dr. Tao stark engagiert, sehr großzügig mit seinem Wissen, und hatte offensichtlich seinen Spaß daran!
Auch möchte ich Nathan Menaged noch erwähnen, der fleißig und humorvoll assistierte und manche Stunden selbst übernahm. Er konnte, als ‚Westler‘, die Prinzipien von Dr. Taos Arbeit zusätzlich erklären und veranschaulichen. Oft leitete er mehr ’strukturierte‘ Übungen ein und zeigte dabei sehr überzeugend, wie die Sensibilität und Weichheit ein unverzichtbarer Teil von (effektiven) Kampfanwendungen sind. Ganz praktisch: sonst klappen sie nicht!
Mehrmals betonte er, daß wir uns während des Workshops in einer ‚Forschungsphase‘ befanden. Es ging nicht darum, beim Pushen zu gewinnen – auch nicht wenn man das auf eher ‚weiche‘ Art vollbringen könnte – sondern um auszuprobieren, untersuchen und auszutauschen. Man würde viel mehr von den Tagen profitieren, wenn man sich so viel wie möglich auf Dr. Taos Angebot einlassen würde. Das bedeutete nicht, daß man sonstige Fähigkeiten und Vorlieben abschwören sollte, nur für eine kurze Weile ‚vor der Tür‘ lassen. Und wir merkten alle, würde ich sagen, wie schwer das eigentlich ist, wenn auch nur für fünf Minuten. Wie fest klammern wir uns manchmal an unseren Krücken, und dabei nicht entdecken, ob wir vielleicht doch ohne laufen können. (Ich jedenfalls!).
Allmählich, als die Tage vorbeigingen, merkte ich, daß sich eine gewisse Veränderung bei mir vollzog. Mein Gespür wurde feiner, mein Körper weicher. Ein paar Mal wurde das Pushen mit dem Partner zum echten Energiespiel, wo wir für mehrere Minuten schnell und ‚frei‘ miteinander pushen konnten, schon schnell und direkt auf den anderen zielend und trotzdem weich und rund neutralisierend. Man war konzentriert, aber nicht fixiert; man überlegte nicht, man tat es einfach. Das Gefühl dabei war ausgesprochen schön, fast wie im Meer zu schwimmen und zu tummeln. Man spürte sich selbst sehr gut und war dabei auch in intensiver Kommunikation mit dem Partner. Dann war das Gefühl wieder weg (manchmal ein ganzer Tag lang!) und man kam sich wieder wie ein Rhinozeros vor.
Auf dieser Art Tui Shou zu üben ist nicht nur sehr erfrischend und schön, sondern auch, meiner Auffassung nach, auch als Kampfkunstübung sehr sinnvoll. Verläßt man sich auf Kraft und Schnelligkeit, trifft man sicherlich irgendwann auf einen, der kräftiger und schneller ist. Natürlich ist es äußerst schwierig, ‚im Ernstfall‘ so fließend, zentriert und sensibel zu bleiben. Ich bin mit Sicherheit längst nicht so weit. Aber es ist nicht unmöglich: ich bin schon einigen Menschen begegnet, die dieses können. Und zu diesem Punkt gelangt man am Besten, glaube ich, wenn man diese Qualitäten sehr sauber und konsequent übt, in Zusammenarbeit mit Partnern, die die gleiche Ziele haben. Dann kann man langsam Schnelligkeit und Kraft steigern, ohne daß man die Sensibilität und Weichheit im spannenden Gerangel wieder verliert. Und ich erlebe jetzt schon, wie schnell man die guten Vorsätze vergißt, und dabei wieder abstumpft!
Es ist natürlich nicht so, daß diese Herangehensweise bezüglich Tui Shou die einzige ist, und auch nicht ‚die beste‘. Andere Ansätze haben genauso ihre Gültigkeit, ihre Vorteile und ihre Effektivität, und manche bringen sicherlich ein schnelleren ‚Erfolg‘ wenn es darum geht, gegen den anderen zu ‚gewinnen‘. Frühere Erfahrungen hatten mir jedoch schon gedeutet, daß der Weg der Weichheit auf Dauer viel interessanter und sogar ‚effektiver‘ ist, als sich nur auf Kraft, Schnelligkeit und ‚Kniffe‘ zu konzentrieren. Dieser Workshop mit dem großzügigen Dr. Tao hat mein Interesse in dieser Richtung noch mehr gestärkt.
Allerdings muß ich anmerken, daß die Prinzipien, die in diesem Workshop vermittelt wurden, sonstige Taiji-Grundlagen natürlich nicht ersetzen können. Basisarbeit wie richtige Struktur, Aufrichtung, Verwurzelung usw. sind eine absolute Voraussetzung dafür, daß man diese feinen Techniken überhaupt anwenden kann. Sonst bricht man einfach zusammen, oder ist gezwungen, sich doch wieder hart zu machen. In diesem Sinne war es kein Anfängerworkshop. Einige Teilnehmer brachten vielleicht nicht ausreichenden körperlich/technischen Voraussetzungen mit, um richtig von der Arbeit zu profitieren. Weichheit und Sensibilität sind kein Ersatz für fleißige Basisarbeit und brennende Beinmuskeln, sondern eine Ergänzung. Aber das würde sicherlich auch Dr. Tao sagen, würde man ihn fragen!
Zum Schluß ein großer Dank an Nils Klug, der den Workshop sehr effizient und angenehm organisierte und sein Studio zur Verfügung stellte. Nice one, Nils!
Der Autor, Giles Rosbander ist Tai Chi Chuan Lehrer und unterrichtet in Berlin.
Video 4 Postures
Die 4 Postures (Pattern) waren die wichtigste Grundlage der Tai Chi Push Hands Dr. Tao’s Workshops. Dieses Video zeigt die 4 Postures, wie Meister Tao Ping Sing sie unterrichtet hat. Er ist 2006 in den USA verstorben.
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Videos mit Dr. Tao
Dr Tao Ping Siang spricht über die Zusammenhänge von chinesischer Medizin und Tai Chi Chuan.