Tai Chi Aspekte und Meditation in Bewegung
Tai Chi Aspekte sind einzelne Bilder und Vorstellungen, auf die man sich beim Laufen der Form konzentrieren kann. Sie sind Werkzeuge zur Verfeinerung der Form. Mit der Zeit setzt sich aus ihnen kaleidoskopartig ein bewegtes Gesamtbild zusammen.
Der Fluss des Übens – Üben im Fluss
Am Ende soll Tai Chi also doch ein großes Ganzes sein. Warum also mutwillig einzelne Aspekte isolieren und herausstellen?
Eine fließende Bewegung ist unumstritten eines der Hauptziele beim Laufen der Form. Die Frage ist jedoch: was fließt? Eine kleine Gebirgsquelle, ein Bach, ein Strom, ein Meer? Der Weg von der Quelle zum Meer ist ein Bild für den Weg des Übens. Betrachet man dieses Bild als Darstellung des Vertiefens und Erweiterns der eigenen Form, kann man drei Abschnitte des Übens beschreiben, die sich gegenseitig beeinflussen und überlappen: Das Erlernen der Form, das Vertiefen der Bewegungen und die Meditation in Bewegung.
Die Quelle: Das Erlernen der Form
Wenn man die Choreographie der Form gelernt hat und den groben Ablauf kennt, hat man die ersten Schritte im Tai Chi gemeistert. Man kann sich nun langsam und fließend bewegen, wenn man sich auf die Bilder und die Bewegungen konzentriert. Auf dieser Grundlage kann man nun sein Augenmerk auf eine Vielzahl von Tai Chi Aspekten lenken.
Der Mittellauf: (Zu Hause) selbstständig (weiter) üben
Zur Vertiefung der Bewegungen läuft man die Form konzentriert auf einen einzigen Tai Chi Aspekt. Dies macht man so lange, bis letzterer zur Gewohnheit wird. Ist er auf diese Weise verinnerlicht, lässt man ihn fallen und wendet sich einem anderen Aspekt zu. So arbeitet man nach und nach an verschiedenen Aspekten.
Im Laufe der Zeit wird dabei beispielsweise die Atmung tiefer und ruhiger, die Bewegungen werden lockerer und zugleich präziser. – Körperhaltung und Bewegungsweise werden in kleinen Schritten nach und nach optimiert. Im Laufe dieses Prozesses werden auch die einzelnen Bilder der Form immer klarer. Sie verankern sich in Körper, Herz und Gehirn in Form von Erfahrungen und Gefühlen, Willensausdrücken und Gedächtnisformen.
An der Mündung ins Meer: Meditation in Bewegung
Diese intensive Beschäftigung mit einzelnen Aspekten ist zugleich der erste Schritt hin zu Tai Chi als „Meditation in Bewegung“. Ist man mit dem Üben eines Tai Chi Aspekts fertig – sei es im einzelnen Übungsabschnitt oder am Ende einer längeren Phase – sollte man sich kurz Zeit nehmen, alles wieder zu vergessen, und einfach nur aus Freude am Tun die Form laufen.
Veränderung und Perfektion – Tai Chi Aspekte als Werkzeuge
Im (rein theoretischen) Idealfall einer „perfekten Form“ sollten alle Tai Chi Aspekte gleichzeitig vollständig verwirklicht werden, indem man die durch langes Üben vervollständigten Bilder der Form, immer eins nach dem anderen, mit seinem Körper im Raum Realität werden lässt: Die Bilder ziehen vor dem inneren Auge vorbei und werden intuitiv geformt. Der Strom der Bilder ist der geistige Fluss, dem man sich aus vollem Herzen und mit all seiner Kraft widmet. Dies ist das Ausschlaggebende für eine erfüllte, lebendige Übung.
Die Tai Chi Aspekte ermöglichen es, diese Art von Flow zu erleben, indem man lernt, seine ungeteilte Aufmerksamkeit und sein Körpergefühl zunächst einem einzelnen Aspekt zu widmen. Diese Übungsweise umgeht zugleich ein hinderliches Streben nach Perfektion, ein Messen an Idealen oder ein jahrelanges „Vorsichhinüben“ einer Bewegungsfolge mit abstrakten Konzepten im Kopf in der Hoffnung, dass sich mit den Jahren die Ergebnisse und Einsichten von alleine einstellen. Anstelle dessen fördern die Tai Chi Aspekte von Beginn an einen offenen und lebendigen Geist beim Üben. Fortschritte und Herausforderungen können erfahren, benannt und diskutiert werden.
Die Tai Chi Aspekte begleiten Übende auf ihrem Weg als Hinweise, Aufgaben, Gedankenübungen. Sie sind somit didaktische Werkzeuge zum Erlernen und Vertiefen der Form.
Tai Chi als Bewegungsweise – Praktische und theoretische Grundlagen der Tai Chi Aspekte
Die „Tai Chi Aspekte“-Videos beschäftigen sich mit Übungsaspekten der grundsätzlichen Bewegungsweise des Tai Chi. Die Überlegungen zur Bewegungsweise basieren dabei auf einer praktischen Herangehensweise. Die Funktionalität – wenn man so will die „Anwendungsbezogenheit“ – der Bewegungen gibt dabei den Weg vor, die äußere Form zu verfeinern. Dies geschieht auf natürliche Weise, d.h. unter Berücksichtigung der materiellen Beschaffenheit des menschlichen Körpers, und insbesondere dessen strukturellen Aufbaus (Knochen, Sehnen, Muskeln, Bindegewebe und deren Verbindungen). Der Körper wird dabei als in sich geschlossenes, bewegliches System begriffen. Diese Übungs- und Betrachtungsweise ermöglicht einen Brückenschlag zwischen den Erkenntnissen der westlichen Medizin (Anatomie, Funktionalität einzelner Teile und Systeme) einerseits, und der chinesischen Erfahrungsmedizin, die den Körper als lebendiges, mit der Umwelt in Wechselwirkung stehendes System versteht, andererseits.
Auf Grundlage dieser Herangehensweise lassen sich viele Aspekte beschreiben, die am Ende ineinandergreifen und ein Ganzes bilden. Es entsteht mit der Zeit eine Vielfalt an Übungsaspekten und Vertiefungsmöglichkeiten für das eigene Formtraining.
Allgemeingültigkeit und Sinn der Tai Chi Aspekte
Kann eine solche Beschreibung von Tai Chi Aspekten, die sich nicht so sehr auf überliefertes Wissen und historische Praktiken beruft, sondern sich an den natürlichen körperlichen Grundlagen und der praktischen Funktionalität der Formbewegungen orientiert, Allgemeingültigkeit beanspruchen? Dies ist sicherlich insofern der Fall, als dass das Lernen dieser Art von Bewegungsweise allein einen durchschnittlichen menschlichen Körper und eine durchschnittliche Konzentrationsfähigkeit voraussetzt.
Die praktische Bedeutung der Tai Chi Aspekte für Yang-Stil-Formen
Die Tai Chi-Tradition, die zur Entwicklung der vorliegenden Tai Chi-Aspekte geführt hat, ist dem Yang-Stil des Taijiquan, wie er von Cheng Man Ching praktiziert wurde, zuzuordnen.
Für das praktische Üben bedeutet dies, dass alle Tai Chi Formen in der Linie nach Yang Chengfu/Cheng Man Ching/William C. C. Chen problemlos in Bezug auf die Tai Chi Aspekte gelaufen werden können. Diese Formen sind neben der 8er Form die 20er Form (60er Form, erster Teil), die 60er Form (Fusion aus 37er Cheng Man Ching Form mit Yang-Stil Langform nach Yang Chengfu), die 37er Form (Cheng Man Ching Kurzform), die Langform (Yang-Stil 132er Form nach Yang Chengfu) und auch die Schwertform (Yang-Stil 64er Form).
Mit abnehmendem Verwandtschaftsverhältnis der Formen sind dabei zunehmend größere Änderungen an der äußeren Form nötig, wenn man einzelne oder alle Tai Chi Aspekte in seine eigene Praxis integrieren will.
Die Bedeutung der Tai Chi Aspekte für andere Stile
Läuft man eine ganz andere Tai Chi Form, wie bspw. eine Form eines anderen Familienstils, stellt sich folglich nicht so sehr die Frage der Umsetzbarkeit im eigenen System, sondern die Frage, ob und wie das eigene System den angesprochenen Aspekt beantwortet oder warum dieser gerade keine Rolle spielt. Insofern sind die Tai Chi Aspekte in Bezug auf die Vielfalt der praktizierten Stile weniger als allgemeines Tai Chi Handbuch des Wahren und Richtigen, sondern eher als selbstständiger Beitrag zum Üben und Ausprobieren sowie als Ideenquelle für Querdenkende gedacht. Die Tai Chi Aspekte verstehen sich somit ausdrücklich auch als Beitrag zum stilübergreifenden Austausch.
Für alle, die die Tai Chi Aspekte ausprobieren möchten, ohne bereits eine verwandte Form zu laufen, können wir die 8er Form empfehlen. Diese kurze Form ist leicht im Online-Studium erlernbar und wurde speziell für die Vermittlung der Tai Chi Aspekte entwickelt.
Bindeglied zwischen Formenlauf und Kampfkunst – Der Platz der Tai Chi Aspekte
Laufe die Form, wie du kämpfst, und kämpfe, wie du die Form läufst!
Was das wohl bedeuten soll? Jedenfalls bedeutet es nicht, dass man durch jahreslanges Formtraining zum Kämpfer werden kann – außer vielleicht innerhalb des eigenen Kopfes oder der eigenen Bezugsgruppe, die sich strikt an gemeinsam erübte Angriffs- und Reaktionsmuster hält.
Wenn man Tai Chi nicht allein zur Gesundheitspflege sondern auch als als Kampfkunst betreiben will, muss man es auch als Letztere üben. Dies geht nur mit Partnerübungen, die durch nichts Anderes ersetzt werden können. Die Tai Chi Aspekte helfen dabei, eine Bewegungsweise zu entwickeln, die dem Körper die grundsätzliche Möglichkeit gibt, flexibel und funktional zu reagieren.
Wann und wie man in einer Kampfsituation hingegen reagiert, kann nur die eigene Erfahrung lehren. – Sei es Formanwendung, Push Hands, Boxen oder freier Kampf „ohne Regeln“: Was man können will, muss man üben. Das geistige Nachvollziehen im Kopf allein reicht nicht aus.
Allen Tai Chi-Fans, die sich für den Kampfkunstaspekt des Tai Chi interessieren, empfehlen wir deshalb wärmstens unseren #martialmonday, wo wir Einblicke in die Partnerarbeit in unserer Schule geben.
Autor: Tai Chi Studio
Fotos: Nils Klug
Grafik: Gabi Kannenberg
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