Menzius (Mengzi, Mencius)

Menzius, der Idealist

„Menzius sagte: In fetten Jahren ist die Jugend zum größten Teil träge; in dürren Jahren ist sie zum größten Teil rebellisch. Das kommt nicht etwa daher, dass der Himmel sie jeweils mit einem so verschiedenen Charakter ausgestattet hätte. Dass ihr Herz dem Übel erliegt und in Untugenden versinkt, bewirken vielmehr die Umstände.“ (Schwarz, S. 118, 6 A:7)

Menzius, Mengzi, Mencius
Menzius

In einen vorhergehenden Artikel wurde mit Konfuzius der erste große Philosoph Chinas vorgestellt. Zu Lebzeiten war Konfuzius in der Verbreitung seiner Lehre nicht sehr erfolgreich. Dies geschah erst weit nach seinem Tode im Jahr 479 v. Chr.. Das Shiji gibt Auskunft:

„Nach dem Tod des Konfuzius verteilten sich seine 70 Schüler und reisten zu den Feudalherren. Die Wichtigeren unter ihnen wurden Lehrer oder Minister. Die Geringeren wurden Freunde oder Lehrer von Beamten oder zogen sich zurück und wurden nicht mehr gesehen. […] Während der Regierung des Königs Wei (357 – 329 v. Chr.) und Xuan (319 – 301 v. Chr.) von Qi gab es Personen wie Menzius und Xunzi, welche der Lehre des Meisters (Konfuzius) folgten, sie weiterentwickelten und für ihre Gelehrsamkeit berühmt wurden.“ (Fung, S. 106)

Konfuzius war der erste, der das Lehren zu einem Beruf machte. Spätere Konfuzianer folgten diesem Beispiel. Einer der Großen unter ihnen wurde Menzius. Seine genauen Lebensdaten sind unbekannt, aber es heißt, dass er 371 v. Chr. geboren und 289 v. Chr. verstorben sei. Seine Ausbildung erhielt er von den Schülern eines Enkels des Konfuzius. Stark geprägt wurde Menzius in seiner Lehre durch die Umstände seiner Zeit: Die alte Gesellschaftsordnung der Zhou-Dynastie war endgültig zerbrochen. Die ehemalige patriarchalische Hierarchie wurde durch die Herrschaft von Despoten ersetzt. Diese nannten sich selbst nun Könige und führten untereinander erbitterte Kriege. Menzius verstand sich selbst als einen Mann, der das Chaos dieser Zeit durch Verbreitung eines idealistischen Konfuzianismus ordnen könnte. Dazu bearbeitete er das konfuzianische Ideenmaterial und wurde politischer als seine Vorgänger. Ausgehend von der Frage nach der Natur des Menschen entwickelte er die Vorstellung von der „humanen Regierung“. Dies bereitete den Boden dafür, dass der Konfuzianismus in der Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) zur geistigen Grundlage des chinesischen Staatswesens werden konnte. In der Song-Zeit (960 – 1279 n. Chr.) kam es dann zu einer richtigen Menzius-Verehrung und das Buch Menzius wurde zu einem der „Vier Bücher“, welche die Grundlage eines jeden Beamtenwissens darstellten.

Die Natur (xing) des Menschen

Menzius entwickelte seine Philosophie auf der Grundlage der Gedanken des Konfuzius. Aber in der zentralen Frage nach der Natur (xing) des Menschen brachte Menzius den Konfuzianismus einen großen Schritt nach vorne. Während Konfuzius nur erklärt, dass sich die Menschen von Natur aus nahe stehen, erklärt Menzius, dass die Natur des Menschen gut sei (Mencius, 6 A:2):

„Gaozi sagte: „Die Natur des Menschen ist wie wirbelndes Wasser. Wenn man eine Ausgang nach Osten in den Teich macht, wird das Wasser nach Osten fließen. Wenn der Ausgang im Westen ist, wird es nach Westen fließen. Die Natur des Menschen ist weder auf gut oder schlecht festgelegt, wie das  Wasser gegenüber Ost und West.“

Menzius sagte: „Wasser ist tatsächlich gegenüber Ost und West nicht festgelegt, aber ist es gegenüber hoch und tief festgelegt? Die Natur des Menschen ist natürlicherweise gut, so wie das Wasser nach unten fließt. Es gibt keinen Menschen ohne diese gute Natur; sowie es kein Wasser gibt, das nicht nach unten fließt. Du kannst in das Wasser schlagen, so dass es hoch über deinen Kopf spritzt und durch Eindämmen und Leiten kann es aufwärts gezwungen werden. Ist das die Natur des Wassers? Es sind die erzwungenen Umstände, die es dazu bringen. Man kann Menschen dazu bringen Böses zu tun, weil man seine Natur ähnlich behandelt.“ (Chan, S. 52)

Menzius formulierte als erster die Idee der guten Natur des Menschen und dies sollte die Grundlage seiner Philosophie werden. Er folgert daraus, dass es angeborene Anlagen, nämlich angeborene Fähigkeiten (liang neng) und angeborenes Wissen (liang zhi) geben muss (Mencius 7 A:15):

„Menzius sprach: Die angeborenen Fähigkeiten des Menschen sind das, was sie können, ohne es gelernt zu haben. Das angeborenes Wissen der Menschen ist das, was sie wissen, ohne nachzudenken. Jedes Kind weiß genug, um seine Eltern zu lieben und wenn es größer geworden ist, weiß es genug um seine älteren Bruder zu achten. Die Liebe zu den Eltern ist echte Mitmenschlichkeit und die Achtung für die Älteren ist das wirklich Rechte.“ (Bary de, S. 91)

Mitmenschlichkeit und das Rechte

Aus der angeborenen Liebe zu den Eltern folgt, dass auch die Mitmenschlichkeit (ren) eine angeborene Qualität ist. Damit wird die konfuzianische Moral zur allgemeinen Menschheitsmoral. Der Ordnung im Inneren des Menschen entspricht die Ordnung zwischen den Menschen. Die Mitmenschlichkeit ist zwar angeboren, kann aber durchaus verloren gehen. Daraus entsteht ein mehr oder weniger an Moral. Der Mensch ist somit aufgefordert, sich um moralische Selbstvervollkommnung zu bemühen und so das verlorene Angeborene zurück zu erlangen.

Zur Regelung der Praxis der Mitmenschlichkeit rückt Menzius als erster das Rechte (yi) in den Vordergrund. Unter dem Rechten kann man das verstehen, was sich gehört. Bei Menzius drückt es sich vor allem in der Hierarchisierung der Beziehungen der Menschen untereinander aus (Mencius 3 A:4):

„Bezüglich des Weges der Menschen; wenn sie gut ernährt, warm gekleidet und angenehm untergebracht, aber ohne Erziehung sind, dann werden sie fast wie Tiere. Der Weise (Herrscher Shun) machte sich darüber sorgen und machte Xie zu seinem Minister für Erziehung und beauftragte ihn, die Menschen über die menschlichen Beziehungen zu unterrichten, die da sind: Zwischen Vater und Sohn, geprägt durch Zuneigung; zwischen Herrscher und Minister [Untertan], geprägt durch das Rechte; zwischen Mann und Frau, geprägt durch klare Rollenverteilung; zwischen Alt und Jung, geprägt durch richtige Ordnung und zwischen Freund und Freund, geprägt durch Treue.“ (Chan, S. 69 f)

Menzius als Propagandist konfuzianischer Gesellschaftsordnung

Menzius folgert aus der Forderung nach Mitmenschlichkeit und dem Rechten das Ideal einer „humanen Regierung (renzheng)“. Als Vorbild für die „humane Regierung“ diente ihm die alte Klassengesellschaft mit einem Weisen als wahrem König. Der wahre König hat sich in höchstem Maße moralisch vervollkommnet und  wird als „Vater und Mutter des Volkes“ gedacht. Er enthält sich der Willkür und ist maßvoll. Die Sorge um sein Volk ist seine Pflicht und ein Ausdruck der Mitmenschlichkeit und dem Rechten. So richtet sich Menzius auch in seinem Werk in großem Maße an den Herrschenden, um zu erläutern, wie ein wahrer König zu regieren hat. (Mencius 2 A:5):

„Menzius sagt: Wenn der Herrscher die Würdigen ehrt und die Fähigen anstellt, so dass die Ämter mit den Besten besetzt sind, dann werden Gelehrte aus aller Welt mit Freude an seinen Hof wirken. Wenn er in der Stadt eine Pacht erhebt, aber keine Steuer auf die Waren, oder wenn er zuverlässige Regeln zur Geltung bringt, aber keine Pacht erhebt, dann wird es Händler aus der ganzen Welt eine Freude sein, ihre Waren in der Stadt zu lagern. Wenn es an seinen Grenzen Kontrollen aber keine Steuern gibt, dann werden Reisende aus aller Welt mit Freude auf seinen Straßen reisen. Wenn die Bauern ihre Hilfe zur Bewirtschaftung der Gemeinschaftsfelder geben müssen, aber dafür keine Steuern zahlen, werden sie mit Freude sein Land bewirtschaften.  Wenn es keine Strafgeld für den Müßigen oder die Familie, die es nicht schafft, eine bestimmte Menge an Stoff herzustellen gibt, dann werden Menschen aus aller Welt mit Freude seine Untertanen sein. Wenn ein Herrscher diese fünf Punkte verwirklichen kann, werden die Menschen in den Nachbarstaaten zu ihm wie zu einen Vater aufschauen. So wird solch ein Herrscher in der Welt keine Feinde haben und ohne Feinde in der Welt wird er ein Beamter im Namen des Himmels sein. Es gab niemals solch eine Person, welche nicht ein wahrer König des Reiches wurde.“ (Chan, S. 64 f)

Wenn der wahre König alt wird, muss er vor seinem Tod einen jüngeren Weisen auswählen. Diesen präsentiert er dem Himmel und wenn der König stirbt, wird der jüngere Weise neuer König. „Aber der Wille des Himmels ist unergründlich, nur den Willen der Menschen kann man kennen. Wenn daher die Menschen sich dem jungen Weisen zuwenden ist es ein Zeichen, dass der Himmel ihm das Königreich gegeben hat. In anderen Worten, ihn dem Himmel präsentieren bedeutet eigentlich, ihn den Menschen präsentieren.“ (Fung, S. 117) Damit hebt Menzius in seiner Lehre die Bedeutung des Volkes gegenüber des Herrschers deutlich hervor.

Die Hervorhebung des Volkes

Wenn alle Menschen von Natur aus gut sind und alle Menschen potentiell moralisch sind, kann jeder durch moralische Vervollkommnung ein Weiser werden. Für Menzius werden die Menschen dadurch zum wichtigsten Faktor des Regierens (Mencius 7 B:14):

„Menzius sagte: Das Volk ist das wertvollste im Staat, die Geister der Erde und des Getreides folgen an zweiter Stelle; am leichtesten wiegt der Fürst.“ (Schwarz, S. 123)

Trotzdem ist Volksherrschaft keine Vorstellung des Menzius. Der Herrscher, der unmittelbar vom Himmel das Mandat zum Herrschen bekommt, ist notwendig. Jedoch muss er eine  „Humane Regierung“ ausüben und das schließt die Wertschätzung des Volkes ein (Mencius 4 A:9):

„Dies ist der Weg ein Königreich zu gewinnen: Gewinne die Menschen und du gewinnst das Königreich. Hier ist der Weg, die Menschen zu gewinnen: Gewinne ihre Herzen und du gewinnst die Menschen. Hier ist der Weg ihre Herzen zu gewinnen: Gib ihnen und teile mit ihnen, was sie mögen. Und tue ihnen nichts an, was sie nicht mögen.“ (Bary de, S. 93)

Für Menzius ist die Einheit zwischen Herrscher und Volk eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität der Gesellschaft. Diese Einheit in Ungleichheit ist eine Ordnung, die auf moralischen Verhalten beruht. Folglich kann ein Herrscher, der den an gesetzten moralischen Anspruch nicht gerecht wird, auch abgesetzt werden (Mencius 2):

„Menzius sprach zu König Xuan von Qi: „Angenommen, einer Eurer Minister vertraut – weil er in einen anderen Staat reist – Frau und Kinder einem Freunde an, und nach seiner Rückkehr stellt er fest, dass sie frieren und hungern mussten – was soll man mit einem solchen Freund machen?“ Der König antwortete: „Mit ihm brechen.“ Menzius daraufhin: „Angenommen, der oberste Richter vermag nicht, die Justizbeamten unter Kontrolle zu halten – was soll mit ihm geschehen?“ Der König antwortete: „ Man muss ihn entfernen.“ Menzius sprach daraufhin: „Angenommen, ein Staat wird nicht ordentlich regiert – was soll da geschehen?“ Der König wandte sich daraufhin dem Gefolge zu und sprach über andere Dinge.“ (Moritz, S. 146)

Dies ist ein wahrhaft revolutionärer Gedanke, der sogar dazu Geführt hat, dass das Buch Menzius unter einigen Kaisern als gefährliches Buch betrachtet wurde.

Menzius und Tai Chi Chuan

Mit seiner Idee der angeboren Anlagen beeinflusste Menzius direkt die Kosmologie des Tai Chi Chuan. Aber auch seine Äußerungen zum qi finden im Tai Chi Chuan starke Parallelen.

Menzius:

“Der Wille lenkt das qi. Das qi füllt den Körper.

Wo der Wille hingeht, dahin folgt das qi.

Daher sage ich:

Halte fest deinen Willen

und tue deinem qi keine Gewalt an.”

(Boedicker 2006, S. 29)

Im Tai Chi-Klassiker „Mentale Erklärungen zum Ausführen der 13 Grundbewegungen“:

„Mit dem Herz/Bewusstsein das Qi leiten. Das Qi sinken lassen. Dann kann es sich in den Knochen sammeln. Mit dem Qi den Körper bewegen. Den Körper folgen lassen. Dann kann er dem Herz/Bewusstsein gehorchen. Wenn die Lebenskraft aufsteigen kann, ist man frei von Sorge um Plumpheit und Schwerfälligkeit.“ (Bödicker, S. 25)

Literatur

Philosophisches Lesebuch zum Tai Chi Chuan

Bary de Theodore ed., Sources of Chinese Tradition, Columbia University

Press, New York 1965

Bödicker, Martin, Das Tai Chi-Klassiker Lesebuch, Boedicker, 2013

Bödicker, Freya und Martin, Philosophisches Lesebuch zum Tai Chi Chuan 2, Boedicker, 2006

Chan Wing-Tsit, A Source Book in Chinese Philosophy, Princeton University Press, Princeton 1969

Fung Yu-Lan, A History Of Chinese Philosophy, Princeton University Press, Princeton 1952

Moritz Ralf, Die Philosophie im alten China, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1990

Schwarz Ernst, So sprach der Meister, Kösel, München 1994

Autor: Martin Bödicker

Foto: Archiv Bödicker

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