Chi ist ein zentraler Begriff der ost-asiatischen Kampfkünste
Der Chi-Begriff nimmt in vielen ost-asiatischen Kampfkünsten eine zentrale Rolle ein. Im Internet kursieren dubiose Videos über Chi-Demonstrationen, die die angebliche Überlegenheit eines Kämpfers zeigen sollen. Dabei beruhen die Dinge, die als Chi-Effekte beschrieben werden, auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten.
„Chi“ ist ein zentraler Begriff in der Gedankenwelt der Asiaten. Er reicht weit über die Kampfkunst hinaus, was auch an seiner Übersetzungsvielfalt zum Ausdruck kommt. „Chi“ kann mit Energie, Atem, Dampf, Hauch, Fluidum, Luft, Gas, Kraft, Äther oder Atmosphäre übersetzt werden. In der Kampfkunst wird „Chi“ gerne benutzt, um energetische Phänomene zu beschreiben und zu erklären. Dabei ist aber eine wesentliche Unterscheidung zu beachten: Chi als philosophische Kategorie und Chi als Begriff zur Beschreibung von Bewegungen, der mit der philosophischen Kategorie verbunden ist.
Chi in den Bewegungen
Wenn in den verschiedenen Kampfsportarten oder Kampfkünsten von „Chi“ die Rede ist, dann ist damit stets eine bestimmte energetische Qualität gemeint, die auch mit anderen Begriffen ausgedrückt werden kann. Dabei kommt es jedoch häufig zu Missverständnissen – vor allem dann, wenn der Chi-Begriff auf eine verkürzte und kastrierte Weise benutzt wird. Ein Beispielsatz, der solche Missverständnisse auf den Punkt bringt, ist folgender: „Die Technik wird mit Chi ausgeführt.“ Gerade Anfänger neigen dazu, Chi als eine Art Substanz zu interpretieren, die im eigenen Körper zirkulieren würde und die man abgeben könnte. Dieser Idee nach gilt eine Technik als besonders effektvoll, wenn sie „mit Chi“ ausgeführt wird. Berücksichtigt man jedoch den taoistischen Hintergrund, vor welchem der Chi-Begriff benutzt wird, dann löst sich das Missverständnis dadurch auf, dass im Grunde genommen jede Technik, jede Bewegung, jedes Gefühl und jeder Gedanke nur dank Chi möglich sind. Das bedeutet, dass es die Unterscheidung „Technik mit Chi“ und „Technik ohne Chi“ nicht gibt. Alles ist Energie. Alles ist Chi. Das ist die taoistische Grundannahme.
Wenn wir uns also in der Kampfkunst bewegen, müssen wir nicht nach irgendwas suchen, das wir als Chi benennen können. Chi ist gemäß der taoistischen Weltanschauung schon längst da – es war immer da und wird immer da sein. Ein einfaches Beispiel, um den Kern des Chi-Begriffs annäherungsweise zu erkennen, ist der menschliche Körper selbst. Wir leben, weil unsere Zellen mit Sauerstoff versorgt werden, weil wir atmen, und weil unser Blut im gesamten Körper fließt. Die Frage, wie wir Sauerstoff erhalten, ist noch einfach zu beantworten: Durch die Atmung und durch die Arbeit unserer Lungen. Und das Blut? Das erhalten wir natürlich durch unser Herz, das regelmäßig schlägt. Aber wie kommt der Herzschlag zustande? Wer sorgt dafür, dass unser Herz schlägt? Was steckt hinter unserer Lungenarbeit? Wer steuert unseren Atem? Hier beginnt das Metaphysische. Wir können es, auch wenn sicher noch andere Begriffe für das Unnennbare vorhanden sind, Chi nennen. Wenn man also Chi in der Kampfkunst verorten will, so sollte man von dem Versuch abkommen, damit irgendwelche überragenden Fähigkeiten beschreiben zu wollen. Es führt unnötigerweise in die Irre.
Chi ist nicht Jin
Kampfkunstphänomene, wie im Tai Chi beispielsweise der Push, werden mit Chi beschrieben, obwohl hierfür der Begriff „Jin“ angemessener erscheint. Bei einem Push wird ein Gegner scheinbar aufwandslos mehrere Meter weit zurückgestoßen. Dass diese Bewegung zu Legendenbildungen geführt hat, ist nicht verwunderlich, wirkt es doch fast wie ein bisschen Zauberei. Und so wird auch der Chi-Begriff benutzt, um den Push erklären zu wollen: „Er hat sich mit Chi bewegt.“ oder „Er konnte das Chi des Gegners manipulieren“ sind nur zwei beispielhafte Sätze, um eigenes Unwissen zu beschreiben.
Was bei einer Push-Bewegung geschieht, kann sowohl mithilfe von physikalischen und biomechanischen Ansätzen erklärt werden als auch mit den traditionellen Erklärungsmustern der chinesischen Kampfkunst. Hierbei ist der Begriff „Jin“ das Ausschlaggebende. Denn dieser Begriff beschreibt eine besondere Form von Kraft, die im eigenen Körper über Sehnen und Bänder generiert werden kann. Sie ist elastischer als die bloße Muskelkraft und bewirkt dadurch andere Effekte. Durch das Ausrichten des eigenen Skeletts und einer korrekten Gewichtsverteilung im gesamten Körper können entgegenkommende Kräfte eines Gegners aufgenommen und umgeleitet werden. Weil der eigene muskuläre Widerstand auf ein Minimum reduziert wird, fühlt es sich für den Gegner an, als würde er in ein Loch stürzen. Sein Gleichgewicht kann kontrolliert werden, was letztlich zu den aufwandslosen Bewegungen befähigt.
Autor: Christoph Eydt
Foto: taiji-forum.de
Kalligraphie: Wang Ning