Professor Cheng Man Ching war ein außerordentlicher Mensch. Er bewahrte das altchinesische kulturelle Erbe in einer Zeit, in der China großen Umwälzungen durch den Einfluss der westlichen Welt, der japanischen Kriegsführung, und des Kommunismus unterworfen war. Währenddessen trug Cheng Man Ching seine traditionelle Tracht weiterhin in Taipei und selbst noch in New York City. Er wurde als Virtuose in fünf traditionellen Künsten berühmt, während es kaum jemandem gelingt, mehr als zwei oder drei dieser Künste auszuüben. Auch in diesen Künsten blieb er der alten Tradition treu. Als Arzt praktizierte er eine alte Form der Kräuterheilkunde. Man nannte ihn „Cheng der ein oder zwei Einnahmen“, was sich darauf bezieht, dass er im Allgemeinen nur die ein- oder zweimalige Einnahme eines Medikamentes verordnete. Einige seiner direkten Schüler erzählen von der Verblüffung des ortsansässigen chinesischen Apothekers: „Oh, das ist ein sehr altes Rezept, keiner benutzt das noch.“ Nichtsdestotrotz war Cheng Man Ching sehr erfolgreich mit seinem traditionellen medizinischen Ansatz. Im Tai Chi Chuan brachte er es mit seinen Fähigkeiten so weit, dass er von drei Militärakademien als Lehrer eingeladen wurde, wo er seine Yang-Stil-Kurzform entwickelte. Zuletzt verbreitete sich sein Tai Chi Chuan über die ganze Welt, Festlandchina ausgenommen. Kalligraphie lernte er auf eine höchst traditionelle Art und Weise: Stundenlanges Üben, gerade Linien auf Papier zu malen, dann dasselbe noch mal mit Kreisen. Was die Dichtkunst angeht, war er isoliert, besonders in New York, wo nur wenig Chinesisch gesprochen wurde, was es besonders schwierig machte, auf altchinesische Art zu dichten. Das Malen war anscheinend für Cheng Man Ching ein Vergnügen. Er brauchte kein Modell – alles, was er malte, existierte bereits in seinem Kopf. Ed Young, einer seiner Dolmetscher, der gleichfalls malt, erzählte mir eine Geschichte, die die gewandte Leichtigkeit seines Malens veranschaulicht:
Das Gemälde ist schon in meinem Kopf
„Im Jahre 1971 war ich mit Cheng Man Ching in Taipei, und ich kam in sein Zimmer, um mit ihm zu sprechen. Cheng Man Ching war mit einem Pinsel zugange, und es sah aus, als ob er ihn auf einem Stück Papier reinigen würde. Ich sprach weiter, bis er mir das Gemälde zeigte, das eine schöne Blume darstellte.“ Ed entschuldigte sich: „Es tut mir so leid, dass ich fortwährend redete, während Sie gemalt haben.“ Cheng Man Ching erwiderte: „Das macht nichts, da das Gemälde schon in meinem Kopf ist.“ Ed wurde bewusst, dass Cheng Man Ching immer so malte – keine Korrekturen, kein Zögern, es floss einfach aus seinem Pinsel. Cheng Man Ching hatte Ein- Mann-Ausstellungen seiner Gemälde in Paris, New York, und Taipei. Trotz seiner traditionellen Lebensführung, kam er dennoch in einer so modernen Stadt wie New York City zurecht. Er bot sogar offenen Unterricht an, den alle besuchen durften, ein- schließlich Schüler westlicher Herkunft. Die chinesische Gemeinde New Yorks versuchte, Cheng Man Ching für sich zu behalten und schloss die Trainingshalle in Chinatown, aber Cheng Man Ching konnte diese Einschränkung nicht akzeptieren und eröffnete eine Schule in der Bowery Street. Man hat mir erzählt, dass Cheng Man Ching recht gut chinesisches Schach spielte, und dass er auch reiten konnte. Katy, seine Tochter, erzählte, dass es einmal ein sehr wildes Pferd gegeben hatte, das niemand reiten konnte. Ihr Vater aber, indem er mit ihm sprach, konnte es zähmen und reiten! Es scheint, dass Cheng Man Ching ein früher „Pferdeflüsterer“ war, der sich das Tier durch Sanftheit anstatt mit Gewalt unterwarf. Eine andere Geschichte erzählt, dass plötzlich ein Affe im Innenhof ihres Hauses in Taipei auftauchte, und alle fürchteten sich vor dem Tier. Cheng Man Ching ging zu dem Affen hin, und nach kurzer Zeit aßen sie zusammen Erdnüsse, und Cheng Man Ching gab ihm sogar ein bisschen Wein zum Trinken. Robert Smith erzählt eine Geschichte, in der Cheng Man Ching einem Tiger auf einem engen Pfad in den Bergen Chinas begegnet. Cheng Man Ching machte ein wenig den Weg frei, indem er sich über den Abhang rückwärts zurücklehnte, um den Tiger vorbeigehen zu lassen. Vielleicht sollten wir sagen, dass Cheng Man Ching 7 oder sogar 8 Künste beherrschte, denn er war sehr belesen in chinesischer Philosophie, besonders im Taoismus, im Konfuzianismus, und dem I Ging.
Der Stoß fühlte sich an wie Nichts oder wie Baumwolle oder eine Wolke
Im Westen hat Cheng Man Ching die größte Bekanntheit für seine Meisterschaft im Tai Chi Chuan erlangt. Er lernte die Kunst von Yang Cheng Fu, einem der berühmtesten Lehrer des Yang-Stils in China. In der Übung „Push-Hands“ wird deutlich, inwieweit man die internen Prinzipien des Tai Chi Chuans begriffen hat. Cheng Man Ching konnte seine Gegner mühelos weit fort pushen. Auffallend dabei ist, dass viele seiner Schüler berichten, dass sie nicht gemerkt haben, wie sie gepusht wurden. Dies nennt man ‚Weichheit‘ im Tai Chi Chuan. Cheng Man Ching benutzte manchmal die Wand beim Push-Hands um den Push nach einer Entfernung von ein bis zwei Metern zu Stoppen. Schüler erzählen davon, wie sie in die Luft flogen, an die Wand prallten, und dann auf ihren Füßen landeten. Der Stoß fühlte sich an wie Nichts oder wie Baumwolle oder eine Wolke. Andere wiederum erzählten, wie sie völlig in die Enge getrieben wurden, ohne Ausweg, bis sie schließlich in die Luft befördert wurden. Cheng Man Ching tat all dies auch im echten Kampf. Viele hielten ihn für den besten Kampfkünstler der inneren Stile auf Taiwan. Wong Chia Man, ein Meister der nordchinesischen Kampfkünste und ein echter Kämpfer (bekannt durch seinen Kampf mit Bruce Lee), sagte Peter Ralston, bevor dieser Free-Fight-Weltmeister wurde, dass er immer von den Besten lernen sollte. Wong behauptete, der Beste in seinem Stil zu sein, dennoch empfiehl er Peter, Tai Chi Chuan von Cheng Man Ching zu lernen, da er ihn für den Besten im Tai Chi Chuan hielt. Schüler sahen, wie Cheng Man Ching Schwarzgurte aus verschiedenen Kampfkünsten mühelos besiegte. Auch wenn alle diese Kämpfe auf freundschaftlicher Basis geführt wurden, ist es dennoch bemerkenswert, dass ein Mann im Alter von über siebzig Jahren sie gewinnen konnte. Auf einer Videoaufnahme sah ich, wie ein Schüler Cheng Man Ching herausforderte: „Wir sind beim Push-Hands immer so freundlich miteinander, aber was passiert, wenn wir anfangen zu schlagen?“ Cheng Man Ching lud den Schüler ein, ihn zu schlagen. Der Schüler gab alles, aber Cheng Man Ching steckte alle Körpertreffer mit einem Lächeln ein, und dann pushte er den Schüler weg, während dieser ihn noch schlug. William C.C. Chen besitzt auch diese Fähigkeit, Schläge einzustecken. Ich habe ihn einige Male mit und ohne Boxhandschuhe geschlagen, und ich habe dabei nie das Gefühl gehabt, ihn verletzen zu können. Bei meinem letzten Versuch war er 60 Jahre alt. Ich schlug ihn etwa zehnmal mit Boxhandschuhen ins Gesicht, während er sagte, „Nein, nicht richtig, mach nochmal, mach nochmal.“ Ben Lo ist bekannt dafür, im Abtausch von Handkantenschlägen zum Unterarm als Sieger hervorzugehen. Eine andere Geschichte erzählt von einem Schüler, der sich hinter einer Tür versteckte, und Cheng Man Ching von hinten angriff. Sobald er angriff, wurde er weggestoßen. Cheng Man Ching war über ihn verärgert, denn seine natürliche Reaktion in so einer Situation wäre es zu kontern, und er hätte dabei den Schüler ernsthaft verletzen können. Der Schüler wurde der Schule verwiesen. Diese Geschichte zeigte deutlich, welches Niveau Cheng Man Ching im Tai Chi Chuan erreicht hatte. Die wiederkehrende Kraft ist immer vorhanden. Techniken müssen spontan sein, nicht „wenn Du dies tust, dann tu ich das“. Man reagiert, ohne zu überlegen. Cheng Man Ching liebte das Fechten. In Filmaufnahmen von Cheng Man Ching kann man ihn sehen, wie er lächelt und lacht, während er sich in einer Art Push-Hands mit dem Schwert bewegt. In Interviews haben mir direkte Schüler von Cheng Man Ching unter- schiedlich beschrieben, wie es sich anfühlte, mit Cheng Man Ching zu fechten. Einige sprachen von einem sehr leichten Kontakt, von dem es kein Entkommen gab. Andere wiederum von einem sehr schweren Schwert, aber ebenfalls ohne Entkommen. Irgendwie kam dem Gegner immer sein Schwert entgegen, die einzige Ausweichmöglichkeit war rückwärts. Es war nicht möglich, das eigene Schwert von seinem Schwert zu lösen, da man von ihm getroffen worden wäre, bevor man hätte angreifen können. Nach Cheng Man Ching war es die höchste Kunst des Fechtens, den Gegner zu treffen, während man sich selbst defensiv bewegte. Ken van Sickle erzählte mir, dass die meisten Schwerter in der Trainingshalle gebrochen (und wieder zusammengeleimt) worden waren, da Cheng Man Ching es liebte, seinen Gegner zu entwaffnen, und das Schwert beim Aufschlag auf die Erde brach.
Beim Unterricht betonte Cheng Man Ching einige Punkte:
- Der wichtigste Punkt war es, so entspannt wie möglich zu sein.
- Wenn man ein Gespür für die Luft, die einen umgibt, entwickelt, ist das ein Anzeichen für Entspannung.
- Die Formulierungen „in der Luft zu schwimmen“, und „den Luftwiderstand zu spüren, als ob man im Wasser wäre“ kommen immer wieder in den Protokollen von seinen Stunden vor, die ich gelesen habe.
- Außerdem solle man sich von der Mitte aus bewegen.
Cheng Man Ching hatte einmal einen Traum, in dem ihm klar wurde, dass Push-Hands nichts mit seinen Händen zu tun hatte, und dieser Traum bewirkte einen großen Fortschritt in seinen Fähigkeiten im Push-Hands. Ich habe mal seinen Rat gelesen, von der Mitte der Wirbelsäule, von einer Stelle zwischen den Schulterblättern aus zu pushen. Man solle Hände haben wie die einer schönen Dame. Dies bedeutet, dass kein Knick im Handgelenk entstehen darf und die Finger nur leicht gekrümmt sind, und so entspannt wie möglich. Es ist mir nie ganz klar geworden, warum Cheng Man Ching diesen Punkt so stark betont hat. Natürlich gibt es das Gleichgewicht von Spannung und Entspannung, oder „Krümmung sucht Geradheit“, wie Robert Smith es nennt. Vielleicht bezieht sich „die Hände einer schönen Dame“ nicht nur auf die Hände, sondern auf ein Gefühl durch den ganzen Körper hindurch, so dass wir davon sprechen könnten, den ganzen Körper so auszurichten, wie die Hand einer schönen Dame. Andere meinen, dass ein Stoß innerhalb des Raumes stattfindet, der durch die Struktur entsteht, die die beschriebene Haltung bewirkt. Aufgrund dieser Haltung und der daraus entstehenden Struktur kann der Stoß mit weniger Kraft aus dem Körper vollzogen werden. Cheng Man Ching wurde mal gefragt, warum sein Lehrer Yang Cheng Fu mit gekrümmten Handgelenken auf Fotos abgebildet worden war. Seine Antwort lautete, dass Yang Cheng Fu seine Handgelenke so weit zurückbeugen konnte, dass sie den Unterarm fast berühr- ten. Deshalb war es ihm möglich, entspannt zu bleiben, auch wenn seine Handgelenke im 90-Grad-Winkel gebeugt waren. Einen geraden Rücken zu haben. Die Wirbelsäule nach der Schwerkraft auszurichten fördert die Entspannung des Körpers und ermöglicht es einem, sich in jede Richtung zu bewegen. Beim Push-Hands kann man sehen, wie sich Cheng Man Ching oft vorwärts und rückwärts bewegte. Es handelt sich beim geraden Rücken also um keinen strengen Lehrsatz. Zum Nachdenken: Kann man einen geraden Rücken haben, wenn man sich beugt? Zwischen Yin und Yang zu unterscheiden, ist das Prinzip, das am schwierigsten zu verstehen ist. Dieses Prinzip bezieht sich darauf, wie man spürt, wo sich zu jedem Zeitpunkt Leichtigkeit und Schwere im Körper befinden. Es geht nicht nur um die Verteilung des Gewichts zwischen den Füßen, sondern auch innerhalb einzelner Körperteile. Zum Beispiel, wenn man den Ellbogen senkt, sollte man unterscheiden können, welcher Teil des Ellbogens schwer ist, und welcher leicht. Am wichtigsten ist es, die Beziehung zwischen sich selbst und dem Gegner richtig ein- schätzen zu können. Begegnet man Kraft (Schwere) mit Kraft, oder kann man Yin und Yang in sich selbst und in der Beziehung zu einem anderen Menschen erkennen? Dieses zu begreifen, befähigt einen zu neutralisieren, oder die Kraft des Gegners aus der Erde heraus zurückzugeben. Cheng Man Ching hat eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung der traditionellen chinesischen Künste im Westen gespielt, besonders in Bezug auf die Verbreitung des Tai Chi Chuans. Für seine inneren Schüler war er weit mehr als nur ein Tai Chi Chuan-Lehrer. Er verbesserte ihre Gesundheit nachhaltig mit seiner Kräutermedizin. Mit Lebensweisheit und Einsicht stand er seinen Schülern bei, wann auch immer sie ihn brauchten.
Cheng Man Ching, Meister der fünf Kostbarkeiten, war wahrlich ein außerordentlicher Mensch.
Autor: Epi van de Pol
Fotos: Ken van Sickle