Qi Gong – Der Natur im Menschen Raum geben

Qi Gong ist im Vormarsch

Spätestens seit den Gesundheitsförderungsaktivitäten der Krankenkassen 1990 – 1996 ist Qi Gong in Deutschland aus der gesellschaftlichen Nische in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt:

Qigong- Übungen im Wald

Volkshochschulen bieten Qi Gong-Kurse an, Ärzte empfehlen Qi Gong als Begleittherapie, Hochleistungssportler nutzen es als mentales Training; Qi Gong auf Video, im Fernsehen, in Frauenzeitschriften, im Management, als esoterische Technik oder letzte Heilungschance. Das deutsche Qi Gong-Bild ist uneinheitlich und reicht von Wunderheilungen über Stressmanagement bis hin zu Atemgymnastik

In der neueren chinesischen Qi Gong – Literatur kursieren derzeit Zahlen zwischen 1000 und 10000 verschiedenen in Schrift oder Bild dokumentierten Übungsmethoden. Bei dieser Vielfalt ist es nicht einfach, zu verstehen was Qi Gong ist.

Was meint Qi Gong?

„Qi Gong“ wurde nach 1950 als Sammelbegriff für verschiedene, über ganz China verstreute Übungstraditionen (z.B. Daoyin – Dehnen und Leiten, Tuna – Auswerfen und Assimilieren, Yangsheng – Gesundheitspflege usw.) eingeführt .

Das Wort „Gong“ (auch K‘ung) meint Methode, Übung, Arbeit, langes Bemühen etc.

Aber um was bemühe ich mich?

„Qi“ (in anderer Umschrift Ch‘i) ist einer der schillerndsten Begriffe der chinesischen Kultur, der kein Äquivalent in europäischen Sprachen hat. Das Begriffsfeld ist eigentümlich unscharf.

Eine chinesische Enzyklopädie führt über 20 verschiedene Bedeutungen für das Schriftzeichen Qi auf – vom Charakter eines Menschen über Klima, Luft, Gas, Geruch, Wind, Wolken, bis hin zu den Antriebskräften der Welt. Die Bedeutung war ursprünglich auf jegliche Lebensaktivität bezogen – Bewegen, Sprechen, Denken etc.-, die mit dem Tod endet.

Welche Vielfalt von Interpretationen des Qi-Gedankens in der chinesischen Kultur bis heute existierten, lässt sich inzwischen in einer sehr sorgfältigen Forschungsarbeit auf über 500 Seiten nachlesen (Kubny).

Manche Qi Gong – Lehrer bezeichnen Qi als Feinststoff, der bisher dank ungenügender Geräte und Unschärfen der menschlichen Wahrnehmung noch nicht nachgewiesen werden konnte, dessen Existenz aber für jeden Menschen erfahrbar ist.

Mein Lehrer Prof. Lin Zhongpeng sieht Qi als Informationsfluss zwischen dem geistigen und körperlichen Aspekt des menschlichen Lebens. Qi beschreibt die Beziehungsqualität von Bewußtseinsstrom, Unbewußtem und Körperlichkeit im Menschen.

Ebenso steht Qi für die Beziehung zwischen den Werten einer Gesellschaft und ihrer materiellen Realität, für die Beziehung der Lebensgesetze zu deren Umsetzung in die materielle Welt, sowie die Qualität der Verknüpfung zwischen diesen drei Ebenen.

Weiterführen kann uns die Betrachtung das Schriftzeichens für Qi.

Es zeigt das Bild für Dampf/Nebel/Luft über dem Bild für Reis oder Getreide.

Dazu lassen sich verschiedene Assoziationsketten bilden:

… zum einen könnte im Betrachter das Bild eines Reisfeldes entstehen, über dem
der Dunst steht – ein Bild von Wärme, Feuchtigkeit und Fruchtbarkeit.

… oder Dampf über geerntetem Getreide – hier ist ebenfalls Feuchtigkeit, Wärme und Fruchtbarkeit im Spiel – das Getreide würde wohl bald beginnen zu keimen.

… oder aufsteigender Dampf über gekochten Getreide – Nahrung für Menschen, um
zu leben.

Was für mich bleibt ist ein Bild von keimender Kraft, von Fruchtbarkeit, von gestaltenden und verbindenden Kräften im Leben.

Zusammengefasst übersetze ich Qi Gong gerne als

„Methoden zum Umgang mit Lebenskräften“ oder

„Methoden zur Pflege des Lebens“

Das „Alte Qi Gong“

Die Ursprünge der Lebenspflegeübungen werden in der Zeit zwischen 5000 und 2000 v. Chr. vermutet. Woher die Übungen stammen und aus welchen Quellen sie gespeist wurden, lässt sich nur rudimentär verfolgen.

Als eine Art Ur-Qi Gong wird das „Eintreten in Stille des Bewusstseins“ gesehen.

Qigong Lehrer
Prof. Cong Yongchun

Lebensprozesse innen und außen wahrzunehmen und zu stützen setzt stilles Betrachten voraus – ohne Einmischung bewertender Bewusstseinsaktivitäten. Menschen in früherer Zeit kamen so immer wieder zu verwandten Erkenntnissen, wenn sie ihren Kräftehaushalt in Zusammenhang mit Tages- und Jahreszeiten, Umwelt und Innenwelt, Anstrengungs- und Ruhephasen, Traum- und Wachzeit beobachteten.

Diese Übungsausrichtung scheint einerseits sehr einfach, andererseits ist sie eine der anspruchsvollsten Aufgaben, wie jeder weiß, der schon einmal versucht hat, das „innere Geplapper“ von Gedanken, Erinnerungen, Bildern, Gefühlen und Sinneseindrücken zur Ruhe zu bringen.

Daneben waren andere Bereiche am Entstehen von Qi Gong beteiligt:

Im alten China lebte eine starke schamanische Tradition, die in der Shang-Dynastie (16. – 11. Jhdt v.Chr) und der folgenden Zhou-Dynastie bis in die oberen Gesellschaftsklassen verankert war. Damit verbunden waren Erkenntnisse über innere Wandlungsprozesse, heilende Kräfte und natürliche Regulationsfähigkeit. Die chinesische Heilkunde löste sich mit ihrer Theoriebildung erst im Laufe des 5. Jhdts v. Chr. vom Schamanismus.

Wurzeln liegen auch in magischen Ritualen, die aus genauer Naturbeobachtung entstanden. Menschen wollten die spezifischen Kräfte von Tieren erlangen, um so mutig wie ein Tiger, so geschickt wie ein Affe oder so kräftig wie ein Bär zu werden. Sie wollten sich die Kräfte der Erde und des Himmels geneigt machen, das Klima beeinflussen und reiche Getreideernte oder erfolgreiche Beutezüge durch symbolisches Handeln erbitten.

Ebenso haben sich Mythen geformt, um die Kräfte, die als Emotionen oder Stimmungen spürbar werden und das Machtgefüge von Gruppen bestimmt, verstehen zu können. Dies führte ebenfalls zu Ritualen mit Tänzen, Schauspiel und körperlichen Übungen.

Aber auch die über 200 historischen Schriften dokumentierten eine lange Geschichte:

Die älteste vollständige Übungsbeschreibung zeigt bereits genaue Kenntnisse. Auf einem ca. 3 cm großen Jadeanhänger, datiert 380 v. Chr., findet sich in 12 Reihen mit 45 Schriftzeichen eine Methode des Leitens von Qi. Im Text „Wie das Qi bewegt wird“ sind präzise Beobachtungen der Atembewegung und der daraus folgenden inneren Prozesse verborgen.

Hinweise auf Übungen finden sich zur gleichen Zeit in den Schriften des Zhuangzi, des Laozi und anderen Klassikern wie dem Yi Jing („Buch der Wandlungen“) und dem medizinischen Grundlagenwerk Huangdi Neijing Suwen („Unbefangene Fragen des inneren Klassikers des Gelben Kaisers“).

Als früheste bildhafte Darstellung von Übungen gilt ein Seidenbild mit 39 Übungspositionen, das 1973 bei der Ausgrabung des Grabes Mawangdui Nr. 3 (168 v. Chr.) gefunden wurde.

Für die Verknüpfung mit der ärztlichen Praxis steht das Buch „Allgemeine Abhandlung über Ursachen und Symptome von Erkrankungen“, in dem der kaiserliche Hofarzt Chao Yuanfang im Jahr 610 n. Chr. zu 213 Beschwerdebilder genauso viele Übungen beschreibt.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine Vielzahl von Übungen in einem Verschmelzungsprozess aus Natur- und Tierbeobachtung, religiösen Vorstellungen, Aberglauben, Arbeitstätigkeiten, Kampfkunst, Heilkunde, Kenntnis des „Qi-Körpers“ und der Körpermechanik.

Diese Elemente lassen sich bis heute in verschiedenen Qi Gong – Formen erkennen – vom „Spiel der 5 Tiere“ über „Mit Himmel und Erde in Verbindung kommen“ bis hin zu den „Seidenwickelübungen“ aus dem Chen-Stil Taiji Quan.

Mit immer komplizierteren Übungen formte sich mit der Zeit auch eine komplexe Theoriebildung, die sich vom einfachen, ursprünglichen Stillwerden entfernte und die magisch-mythische Erfahrungsebene in verschiedene theoretische Modelle kanalisierte.

Daoistische Religion ab dem 2. Jhdt. n. Chr. (nicht gleichzusetzen mit dem philosophischen Daoismus des Laozi!), Buddhismus ab dem 4. Jhdt n. Chr., Vorstellungen der chinesischen Alchemie, medizinische Meridiantheorie, Herrschaftsinteressen und Volksglauben führten zu unterschiedlichen Überlieferungen und Begründungsmodellen für Übungssysteme bis heute.

Das „Neue Qi Gong“

Qigongübung
Prof. Cong Yongchun bei einer Qigongübung

In diesem Jahrhundert hatte Qi Gong in China eine wechselvolle Geschichte.

Durch geheime Familientraditionen, Kampfkunstschulen, herrschaftliches Ärztewissen und klösterliche Einsamkeit ins 20. Jhdt überliefert, ist es heute zu einer auf öffentlichen Plätzen sichtbaren Massenbewegung geworden – man spricht sogar vom „Qi Gong – Fieber“ und von 80-100 Millionen Qi Gong – Übenden in der VR China.

Im Tauwetter seit Ende der Kulturrevolution hat Qi Gong damit die öffentliche Übung des Taiji Quan teilweise abgelöst, das Mitte der 50-er Jahre von Mao Zedong zur Stärkung der Volksgesundheit eingeführt worden war.

Manche sprechen auch von einer riesigen unterschwelligen Protestbewegung gegen die totalitären Machtansprüche des Staates, die spürbar nach den Juniprotesten 1989 am Platz des Himmlischen Friedens aufflammte. In einer Art ständiger Massenkundgebung wird die Individualität inmitten von Gleichgesinnten gepflegt.

Nach einer Zeit der Orientierung an westlichen Werten in der ausklingenden Kaiserzeit und den ersten Jahren der Republik von China (1911 – 1949) führte Qi Gong, wie vieles andere ein Schattendasein in China.

Die politischen Kräfte waren sich trotz ideologischer Unterschiede darin einig, daß mit den Traditionen gebrochen werden müsste. „Szientismus“ war das Zauberwort in einem Land, das versuchte nach Zeiten des kulturellen Zerfalls auf die Höhe der modernen, westlichen Welt zu kommen.

Nach der kommunistischen Machtübernahme 1949 in der Volksrepublik China wurde Qi Gong zaghaft aus der Ecke des gesellschaftlich unerwünschten alten Zopfes herausgeholt. Erfolge waren bei der Therapie von in Kämpfen traumatisierten Soldaten der Volksbefreiungssarmee bekannt geworden. Die Anerkennung im medizinischen Bereich wuchs und 1956 wurde unter Leitung von Liu Guizhen die erste Qi Gong-Klinik in Beidaihe gegründet, von der entscheidende Impulse des heilkundlichen Einsatzes von Qi Gong bis heute ausgehen.

In dieser Zeit begann auch der öffentliche Unterricht von Qi Gong durch traditionelle Meister, eine erste Qi Gong-Welle entwickelte sich.

Während der Kulturrevolution 1966 – 76 gab es einen deutlichen Knick

Qi Gong wurde, wie vieles andere auch, aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt. Qi Gong-Meister emigrierten, wurden umgebracht oder „umgeschult“. Eine Ausnahme bildete das sog. „medizinische Qi Gong“ z.B. das „Neue Qi Gong der Frau Guo Lin“, eine sehr effektive Methode der begleitenden Übung bei Krebs.

Der 11. Juli 1979 war ein deutlich spürbarer Meilenstein in der Verbreitung von Qi Gong. In Experimenten wurde der politischen Führungsspitze unter der Leitung von Prof. Lin Zhongpeng überzeugend demonstriert, welche Effekte sich mit Qi Gong erzielen lassen.

In der neuen Lesart wird inzwischen sogar von einer Schlüsselwissenschaft des 21. Jhdts. gesprochen, die die chinesische Kultur wieder an die Spitze der modernen Welt bringen wird.

Die öffentliche Anerkennung führte 1981 zur Gründung des „Chinesischen Institutes zur Erforschung von Qi“, zur Förderung von Qi Gong an Sporthochschulen und medizinischen Universitäten, zu allgemeinem öffentlichem Unterricht und 1985 zur Vernetzung der Traditionen von über 200 Qi Gong-Meistern im „Fortbildungsinstitut für fortgeschrittene Qi Gong – Studien“ in Beijing unter Leitung von Prof. Lin Zhongpeng.

Neben den dem sog. medizinischen Qi Gong und den alten Überlieferungslinien verbreiten sich ähnlich Modewellen neue oder „wiederentdeckte“ Methoden auf der Basis alter Überlieferungen wie z.B. „Fliegender Kranich Qi Gong“, „Chan Mi Gong“, „Duft Qi Gong“ u.a..

Die meisten populären Methoden sind gesundheitsfördernd, einige führen tief in die Stille, andere dienen mehr dem Geschäftssinn ihrer Begründer als der Stärkung von Lebenskräften der Übenden.

Daneben gibt es auch immer wieder Behauptungen vom besonders richtigen Qi Gong, wie z.B. beim „Falun Gong“, bei dem der Begründer es den Übenden sogar verbot, sich über zu andere Qi Gong-Arten zu informieren.

In den Jahren seit 1979 haben sich auch Probleme – sog. „Qi Gong Abweichungen“ – bei manchen Übenden eingestellt, die auf ungenügende Kenntnis von Übungswirkungen zurückgehen. Überzogene Medienberichte von Wunderheilungen oder über die Abgabe von Wai Qi („Äußeres Qi“) durch Qi Gong – Meister hatten zum rasanten Anwachsen der Qi Gong – Interessierten in kurzer Zeit geführt. So war es eine normale Folge, daß nicht in gleichem Maße kundige Lehrer zur Verfügung standen – ein weites Feld für Geschäftstüchtige und Scharlatane.

Auch entwickelte sich Qi Gong zu einem begehrten und lukrativen Exportgut in die westlichen Länder. Die Zusammenarbeit zwischen den Qi Gong-Richtungen und innerhalb der Organisationen wird durch das lange unterdrückte Geschäftsgebahren mit seinen Konkurrenz- und Machtmechanismen deutlich erschwert. Mancher Qi Gong-Übende wandelte sich auf dem langen Flug von Beijing nach Frankfurt zum Qi Gong-Meister. Eine Seminarreihe als chinesischer Qi Gong-Lehrer in Deutschland lässt ihn so viel Geld verdienen wie sonst nur in vielen Jahren regelmäßiger Arbeit in China.

All dies veranlasste den chinesischen Staat im Frühjahr 1998 zu staatlichen Erlassen in Bezug auf Ausbildung und Unterrichtserlaubnis. Inwieweit so eine massive Einschränkung einer vielfältigen Übungskultur erfolgen wird und wie viele Perlen wieder in der Versenkung verschwinden werden, bleibt abzuwarten.

Baum yinyang

Qi Gong in Deutschland

1929 erschien das Buch „Das Geheimnis der Goldenen Blüte“ – ein daoistischer Qi Gong-Text in der deutschen Übersetzung des Sinologen Richard Wilhelm mit einem ausführlichen Kommentar des Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung.

Deutschlands Kulturelite war in dieser Zeit dem Körperausdruck, den Seelenbewegungen und der Erkundung des Bewusstseins sehr zugewandt.

Das Buch konnte aber unter dem Trauma der Irrationalität der folgenden Jahre keine weitere Wirkung entfalten. So wie die Leipziger Schule der Gestaltpsychologie, der Ausdruckstanz, die Wurzeln manch moderner Bewegungs- und Atemschulen (Gindler, Middendorf, Jacobs, Rosen), die Anfänge sozialer und humanistischer Psychotherapie (Reich, Rank, Adler) und tiefgründige Kunstbewegungen (Bauhaus) verschwand das Qi Gong im deutschsprachigen Raum völlig unter den pseudomystischen Wirrungen der Nationalsozialismus.

Nach dem 2. Weltkrieg war die deutsche Kultur lange Jahre für Mystik, Bewusstseinsforschung, Körpererfahrung oder andere scheinbar irrationalen Bestrebungen völlig verschlossen. Erst Ende der 70-er Jahre fanden Qi Gong-Übungen durch Meditationskurse in Klöstern, Akupressur oder chinesische Kampfkünste nach Deutschland.

Noch 1984 war der Begriff Qi Gong kaum gebräuchlich, die wenigen Bücher sprachen von „Chinesischer Atem- und Heilgymnastik“, „Do In“ (jap. für Dao Yin), und „Chinesischem Yoga“ oder Qi Gong-Übungen wurden unter dem Titel „Taiji Quan“ unterrichtet.

Inzwischen hat sich die Situation grundlegend verändert

Eiche

1989 begann eine deutsche Krankenkasse mit dem „Aktiv-Poster: Bleib in Schwung mit Qi Gong“ die Zeiten der Gesundheitsförderung im deutschen Krankenversicherungssystem einzuläuten. In den Jahren bis 1996 boomte Qi Gong in allen Medien, unterstützt von den Krankenkassen. Immer mehr Menschen kamen in Kontakt mit Qi Gong. Die Zahl der Bücher vervielfachte sich und Qi Gong-Kurse wurden fast flächig angeboten.

In den 90er Jahren kamen immer mehr traditionelle und moderne Qi Gong-Formen über chinesische Lehrer nach Deutschland. Sie stehen zum größten Teil unverbunden nebeneinander und geben das bunte Bild von Qi Gong in China wieder. Der deutsche Betrachter findet darin nur schwer Orientierung, da auch Machtkämpfe um die besten, authentischsten, esoterischsten Lehrer und Übungsformen im Gange sind, die die Zusammenarbeit und gemeinsame Erforschung des Qi Gong erschweren.

Seit 2003 gibt es nun durch die Gründung des Deutschen Dachverbandes für Qigong und Taijiquan (DDQT) eine übergreifende Zusammenarbeit.

Auch wurde durch die Besuche von Prof. Lin Zhongpeng auf Einladung der DQG in Deutschland langsam eine allgemeine Theorie von Qi Gong erkennbar, so wie sie in China formuliert wurde.

Derzeit ist Qi Gong für mehrere Bereiche interessant:

Sport

Das achtsam lauschende Verständnis für Körperlichkeit entwickelt das Gespür für die eigene Bewegung und Haltung, unabhängig von Leistung oder Fitnessmoden. Die Bewegungskultur des Qi Gong mit ihrer Entschleunigung, Bewegungsökonomie und Weichheit stellt eine deutliche Herausforderung für den traditionellen Gesundheitssport dar.

Therapie

Im Rahmen von Akupunktur und Akupressur ist Qi Gong wichtig, um die heilkundliche Arbeit durch Methoden der Selbsthilfe ergänzen zu können. Auch in der psychotherapeutischen Praxis wird Qi Gong als stabilisierendes Element eingesetzt.

In Rehabilitationskliniken wird mit Qi Gong gearbeitet, um die PatientInnen mit sich selbst und ihrer Selbstregulationsfähigkeit in Kontakt kommen zu lassen.

Gesundheitsbildung / Gesundheitsförderung

Qi Gong passt mit seinem selbstregulativen Ansatz ideal in das Konzept „Gesundheitsförderung“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO), vor allem im Bereich der „Stärkung persönlicher Kompetenzen“ und „persönlicher Ermächtigung“ (empowerment) im Umgang mit Gesundheitsthemen. Gesundheitsförderung ist der Ausgangspunkt moderner Gesundheitsbildung und damit ist Qi Gong interessant als Thema für die Gesundheitsbildung.

Meditation und Esoterik

Qi Gong bietet durch seine Stille-Orientierung eine gute, nicht an religiöse Vorstellungen fest gebundene Übungsform für klösterliche Meditationshäuser, Zen-Buddhisten oder andere.

Ernsthaft Suchenden auf dem Weg kann Qi Gong ein ganzheitliches Angebot machen. Zu sehr auf geistige Erfahrung gerichtete Menschen werden an die körperliche Basis erinnert, zu sehr körpererfahrungsbezogene Menschen lernen ihre Bewusstseinsprozesse kennen.

Auch den esoterischen Moden bieten die Fremdheit der chinesischen Qi-Vorstellung und die in Übungen auftretenden Phänomene viel Spielraum zur Interpretation. Qi Gong kann gut als  Projektionsfläche genutzt werden, um selbstgeformte Weltsichten bestätigt zu sehen.

Prinzipien des Qi Gong

In der allgemeinen Qi Gong-Theorie, so wie sie von Prof. Cong Yongchun und Prof. Lin Zhongpeng in Deutschland verbreitet wird, wird auf die Ursprünge des Qi Gong zurückgegriffen und der Entwicklung innerer Stille der Vorrang vor der rein medizinisch oder religiös begründeten Orientierung gegeben.

Ich möchte sie in groben Zügen kurz darstellen:

Qi Gong wird nach Prof. Lin Zhongpeng definiert als

„Selbstübungsmethoden um die Gesundheit zu verbessern – sowohl körperlich als auch geistig – durch Schulung der Bewusstseinsprozesse.“

Ziel ist es ,

„die Aktivitäten des Späten Himmels zu ordnen,

die Aktivitäten des Frühen Himmels zu stützen,

damit der Mensch die volle Anzahl der ihm bestimmten Jahre

ohne Bitterkeit erleben kann.“

Mit anderen Worten, gilt es, die Selbstregulationskräfte des Organismus zu unterstützen, die meist unbewusst arbeiten und den menschlichen Organismus bewusst mit der Natur in ihm zu verbinden.

Selbstregulation ist die zentrale Funktion des „Ursprungs-Geistes“ (auch: vorgeburtlicher Geist, Früher Himmel). Ein Höchstmaß an Regulationskraft erreicht er z.B. in den Tiefschlafphasen. Der Ursprungs-Geist soll nun in seiner Aktivität der Gleichgewichtssuche und Koordination der vielfältigen Lebensprozesse wahrgenommen werden, um ihm im menschlichen Leben bewusst Platz einzuräumen.

Wahrnehmbar ist er für das Bewusstsein in der Regel bei völlige Leere und Stille von Bewusstseinsinhalten wie etwa Gefühlen, Intellekt, Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen o.ä.. Die Aktivitäten des Ursprungs-Geistes sind als feine Stimmungen, Ahnungen und Zwischentöne auf dem Hintergrund der Stille wahrnehmbar, die von einer Art innerem Zeugen beobachtet werden können.

Die Tätigkeiten des Ursprungs-Geistes werden meist von Aktivitäten des „Erworbenen Geistes“ (auch: nachgeburtlicher Geist, Später Himmel) überlagert. Hier sind die bewussten oder unbewussten Lernprozesse gemeint. Sie sind typischer Ausdruck für die enorme Lernfähigkeit des Menschen, also alle durch soziale oder individuelle Einflüsse entstandenen Anpassungsmuster, die oft für eine Situation hilfreich sind, für eine andere aber behindernd sein können.

Die Aktivitäten des Erworbenen Geistes gilt es nun zu „ordnen“ in die für die menschliche Natur und die Funktionsfähigkeit des Organismus nützlichen oder hinderlichen Anteile. Dieses Ordnen hat eine Entsprechung in den Traumphasen während des Schlafes, in der Erlebnisse des Wachbewusstseins und ins Unbewusste gerutschte Prozesse geordnet und verarbeitet werden. Wenn nun diese Verarbeitung gestört wird, so kann es zu einer Störung der Selbstregulationskräfte kommen; die Erfrischung, Stabilisierung und Kräftigung durch Schlaf kann nicht ausreichend stattfinden.

Qi Gong-Übungen ordnen den Erworbenen Geist in den 3 Regulationen:

• Regulation der Bewegung und Haltung

Die Ästhetik vieler Bewegter Übungen („Dong Gong“) wird oft beschrieben als „harmonisch, anmutig, weich, fließend, rund, ….“.

Dies wird im Qigong erreicht, indem nur die Teile des Körpers beansprucht werden, die für die Gestaltung einer Haltung oder Bewegung erforderlich sind – mit Ausnahme der kraftbetonenden Übungen.

Der menschliche Organismus ist in der Lage Bewegung und Aufrichtung mit dem geringstmöglichen Aufwand zu organisieren und anzupassen. Das ist seine Natur und entspricht den Fähigkeiten einer Katze oder eines Elefanten.

Im Qi Gong wird nach der für die Übung unbedingt notwendigen Kraft gesucht und alles andere bleibt locker (Fang Song = Loslassen). Dies meint nicht Laschheit, sondern Reduzierung auf die notwendige Grundspannung (Jing = wesentliche, elastische Kraft). Es ist bewusst gesuchte Bewegungsökonomie, die nachhaltig die Kräfte schont, die Beweglichkeit erhöht und Fehlhaltungen ausgleicht, ohne einzelne Muskeln, Bänder oder Gelenke isoliert zu belasten. Dies führt zu weitgehender Entspannung in der Bewegung und zu natürlichen, anmutigen Bewegungen.

• Regulation der Atmung

Im Qigong wird versucht, ruhig, gleichmäßig und natürlich zu atmen.

In jedem Fall wird Atemfrequenz und -tiefe an die momentanen, individuellen Fähigkeiten angepasst, um einen beruhigenden und zugleich erfrischenden Effekt körperlich und psychisch zu erzielen. Es geht nicht um eine besondere Form des Atems, sondern um eine möglichst wenig behinderte, freie Atmung in unterschiedlichen Situationen. Daneben gibt es auch spezielle Formen der Atmungsführung, die auf der natürlichen Atmung basieren.

Die Funktionsaktivitäten der Großhirnrinde werden durch die gleichmäßige Atemführung beruhigt, die Aktivitäten der inneren Organe durch die sanfte Massagewirkung der Zwerchfellbewegungen rhythmisiert und reguliert.

• Regulation der Aufmerksamkeit

Bewegung, Haltung und Atmung werden bewusst gestaltet und ausgeführt.

Qigong Üben

Es heißt auch:

„Der Körper ist die Basis, die Atmung der Motor,

die Aufmerksamkeit der Schlüssel.“

Die Verknüpfung Aufmerksamkeit-Bewegung-Atmung wird durch Entschleunigung / Verlangsamung der Bewegung intensiviert.

Um die angestrebte Bewegungs- oder Atmungsqualität zu entwickeln, gilt es, mit Sanftheit der Aufmerksamkeit vorzugehen, um die Entwicklung natürlicher Selbstregulationsmuster nicht zu stören.

Dazu ist der Einsatz von Vorstellungen nützlich. So heißt es zum Beispiel „Stehen wie ein Baum“, „ein Boot wegschieben“ oder „etwas im Körper wie einen Lichtstrahl lenken.“ Der Weg über stimmige Vorstellungsmuster (Yi Nian = Vorstellungskraft) verknüpft Aufmerksamkeit, Körper und Atmung und dämpft zugleich den direkten, „harten“ Willenszugriff auf die Muskulatur.

Den Bewegungen wird auch ein innerer Gehalt gegeben. Ähnlich Affirmationen oder der Simonton-Methode werden unterstützende Gedanken in Körper und Unterbewusstsein verankert.

Wenn eine grundsätzliche Ordnung angeregt, der Organismus „reguliert“ ist, der Mensch zwischen „Himmel und Erde seinem Platz eingenommen hat“, das Bewusstsein ein hohes Maß an Differenzierungsfähigkeit durch sorgfältiges Ordnen von Bewegung, Atmung und Aufmerksamkeit erfahren hat und die Bewegungs- und Atmungsmuster sich den natürlichen Möglichkeiten angenähert haben, so ist es leichter in bewusster Stiller Übung („Jing Gong)“ in Stille einzutreten („rujing“), und so der Selbstregulation im Leben Platz einzuräumen.

Nicht nur durch Schlaf, sondern auch durch bewusstes, eigenes Zutun ist Lebenspflege und Unterstützung der Natur im Menschen, der organismischen Homöostase, möglich.

Damit wäre das Ziel der Qi Gong-Übungen erreicht.

Christel Prokksch und Prof. Cong Yongchun

Fotos: Christian Auerbach & Taiji-Europa