Meister William C.C. Chen, der von einer der bekanntesten Kampfkunst – Fachzeitschriften in den USA, dem Inside Kung-Fu, zum “Kampfkünstler des Jahres 2000“ gewählt wurde,ist in Deutschland noch immer ein Geheimtipp bei „Taijiquan – Insidern„.Vielleicht weil Taijiquan eher etwas für Individualisten ist, wie die Redakteure der Fernsehsendung „Buten und Binnen“ in einem Beitrag über William Chen und sein Taijiquan feststellten. Kaum zu glauben, dass Meister Chen seit bald 20 Jahren von seinen Senior – SchülerInnen Linda Lehrhaupt und Luis Molera nach Deutschland eingeladen wird! Kaum ein Wochenende vergeht an dem Meister Chen nicht sein Taijiquan an AnfängerInnen und Fortgeschrittene jeden Alters vermittelt – und dies seit bald 50 Jahren in Asien, Europa und den USA! Dreimal im Jahr kommt Meister Chen zu Workshops nach Deutschland. So hat er auch hier viele Taijiquan – LehrerInnen der neuen Generation ausgebildet, die sich 1999 im William C.C. Chen – Forum organisiert haben. Sein Lehrer und Förderer Professor Cheng Man Ch`ing wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden! Ein guter Zeitpunkt, finden wir, ihn und sein Taijiquan einmal genauer vorzustellen…
„Taijiquan soll die Menschen glücklicher und gesünder machen!“
Als ich 1987 William C.C. Chen zum ersten Mal in Düsseldorf begegnete, sah ich einen Meister und Lehrer der mich von Anfang an begeisterte. Freundlich lächelnd begann er den Unterricht, ermunterte, erklärte und sprach jeden Schüler und jede Schülerin persönlich an. In den Pausen trank er einen Becher Tee und beantwortete alle Fragen mit grenzenloser Geduld. In all den Jahren habe ich es nie erlebt, dass Meister Chen jemand anderen herabsetzte, um sich und seinen Weg des Taijiquan zu erhöhen. Selbst AnfängerInnen ohne Erfahrungen in den Kampfkünsten konnte er im Unterricht zu einer freudvollen Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen und Möglichkeiten anregen. Was war nach all den anderen Lehrern die ich bis dahin schon getroffen hatte so besonders an William C.C. Chen? Für mich gibt es nur eine Antwort: Es ist die Bescheidenheit und Klarheit mit der Meister Chen Taijiquan vermittelt und seine SchülerInnen anspricht. „Ich lerne und lehre seit bald 60 Jahren Taijiquan. Ich bin glücklich weiterhin zu unterrichten, so dass ich selbst noch Erfahrungen sammeln und mit vielen Menschen die Vorteile dieser Kampfkunst teilen kann. Dabei unterscheide ich nicht zwischen AnfängerInnen und Fortgeschrittenen. Ich unterrichte alle Stufen gern. Den praktischen Teilen und den Aspekten der Kampfkunst im Taijiquan galt immer mein Hauptinteresse. Jedoch ist Taijiquan nicht so einfach zu erlernen und es gibt Leute, die verstehen es nicht, obwohl sie sich bemühen. Daher ist es mein Ziel im Unterricht Taijiquan einfach, natürlich und mit viel Freude zu vermitteln, sodass ich viele Menschen erreichen kann. Taijiquan soll die Menschen glücklicher und gesünder machen. Mir selbst hat es geholfen, in vielen Situationen meines Lebens zu entspannen und den eigenen Energiefluss zu pflegen.“
„Taijiquan ist wichtig, weil es uns lehrt zu entspannen!“
Meister Chen, geboren 1935 in der Provinz Chekiang in der Volksrepublik China, interessierte sich schon als Jugendlicher für die chinesischen Kampfkünste. Nach dem zweiten Weltkrieg ging er nach Taiwan und wurde Schüler von Professor Cheng Man Ch´ing. Mehrere Jahre lebte er im Hause des Professors und assisstierte Cheng Man Ch´ing bei seinen Kursen und seinem inneren Training. Durch seinen Unterricht und seine Art zu kämpfen erwarb sich Meister Chen schon in jungen Jahren den Ruf eines unvergleichlichen Praktikers und begeisternden Lehrers dieser alten Kunst der Selbstverteidigung und Meditation. So ist er einer der wenigen heute noch lehrenden Taijiquan – Meister die in Vollkontakt-Tournaments (z.B. 1956 in Taipeh) Preise gewannen. 1965 eröffnete er seine eigene Schule in New York, die zu einem Anziehungspunkt für Taijiquan – Interessierte aus aller Welt geworden ist. „Mein ganzes Leben und das meiner Familie ist geprägt von Taijiquan. Vor allem bin ich Professor Cheng Man Ch`ing dankbar für alles, was er für mich getan hat. Das ist wirklich das größte Geschenk in meinem ganzen Leben. Bis heute pflegt meine Familie den Kontakt zu Cheng Man Ch`ings Familie.“
Meister Chens Unterricht beinhaltet Formtraining, Anwendungsunterricht, Push Hands (Tui Shou)- und Boxtraining (San Shou) sowie das Erlernen und Üben der Schwertform mit ihren Anwendungsaspekten und dem freien Schwertkampf. Sein klare Ausrichtung auf die Anwendbarkeit von Taijiquan als Kampfkunst zieht sich wie ein roter Faden durch alle seine Ideen und Konzepte, mit denen er sein Taijiquan weiterentwickelt hat. Meister Chens besondere Aufmerksamkeit gilt daher dem ungestörten Wirken von Körperkoordination und Energiefluß, weil sie die Hauptquellen der Kraft sind. Für ihn beschäftigt sich diese „Körpermechanik (Body Mechanics)“ mit dem menschlichen Körper unter Anwendung von gegebenen Kräften. Seine Ideen basieren auf praktischer Physik, wie den Hebelansätzen des Körpers und den hydraulischen Drücken, die in unsrerem Körper existieren. „ Die Chi – Energie wirkt in uns wie hydraulisches Öl, Wasser oder Luft, welches durchgehend in unserem Körper zirkuliert. Oft sind wir angespannt. das zerstört den Chi – Fluß. Sind wir entspannt, kann unser Geist als Lenker des Chi – Flusses das Chi besser leiten. Viele Menschen können nicht entspannen, aber jeder weiß wie man anspannt. Taijiquan ist wichtig, weil es uns lehrt zu entspannen.“
„Alles beginnt in den drei Nägeln und endet in den drei Fingern!“
In seinem Unterricht arbeitet Meister Chen mit verschiedenen Konzepten, die uns zum Denken über eigene Bewegungsabläufe anregen und die innere Koordination zwischen Geist, Körper und Chi – Energie erklären. So vergleicht er den Tan Tien (unser Energiezentrum im Unterbauch) mit einem „Kompressor“, welcher das Chi als „hydraulischen Druck verdichtet.“ Entscheidend für die innere Koordination ist, dass der Geist die Energie lenkt und mit den Wurzeln, den „drei Nägeln“ verbindet. Die „drei Nägel“ sind drei Punkte auf der Innenseite des Fußes, welche unseren Körper mit dem Boden verankern: der dicke Zeh, der innere Teil des Ballens und der Ferse. Der in diesen „drei Nägeln“ im Boden verwurzelte Fuß kontrolliert und aktiviert die Drehungen und Bewegungen des Körpers im Taijiquan. Ohne diese starke Wurzel, welche ein stabiles Fundament schafft, könnten wir uns nicht entspannt und sicher bewegen. In den Taijiquan – Bewegungen sind diese drei Punkte mit der gewichttragenden Zentrallinie des Oberkörpers verbunden und übertragen alle Bewegungsimpulse durch die Oberschenkel über die Hüfte zu den Armen und den „drei Fingern“. Daumen, Zeigefinger und Ringfinger als Konzentrationspunkte ermöglichen uns, die Chi – Energie genau da zu spüren, wo wir sie haben wollen. Meister Chen beschreibt erklärend die „Drei – Finger als „Motor des Flugzeugs“ und den Arm als „Körper des Flugzeugs.“ Die „drei Nägel“ sind bei allen Alltagsbewegungen aktiv und spielen eine zentrale Rolle. „Sobald die drei „Nägel“ stark im Boden gesichert sind, werden Körper und Geist entspannt sein. Ein entspannter „leerer“ Körper und ein friedvoller Geist öffnen die neun Gelenke, machen die Muskeln geschmeidig und öffnen die Gefäße und Meridiane. Dies erlaubt der inneren Energie mühelos zu fließen und dem Oberkörper sich frei zu bewegen,ohne die Wurzel zu verlieren. Damit helfen uns die „drei Nägel“ bei allen Bewegungen entspannt und stabil zu bleiben und flexibel zu reagieren.“
„Der Taiji-Kämpfer will nicht einen Pfennig zuviel bezahlen!“
Meister Chen lehrt uns im Angesicht von Aggression ruhig zu bleiben und einfach das Richtige zu tun – nicht zu viel und nicht zu wenig! Er möchte, dass wir zu einer natürlichen Bewegung zurückkehren, in der ein entspannter, friedvoller Geist das Chi von innen nach außen lenkt. Entspannt bleiben wir, wenn wir z.B. boxen oder stoßen als würden wir Tee servieren oder einem guten Freund die Hand geben. Wollen wir zuviel, werden wir unsere Muskeln anspannen und den Tee verschütten. Wollen wir zuwenig, wird unser Händedruck halbherzig bleiben und wir erreichen nicht unser Ziel. Bleiben wir dagegen entspannt im Geist. können wir ohne Anstrengung und Muskelkraft große Geschwindigkeit und Kraft erreichen. Oder um es mit Meister Chens Worten auszudrücken: „ Um 50 kg zu bewegen muss ich 50,1kg einsetzen, aber nicht 60 kg. Benutzt also nicht ein Gramm zuviel und bezahlt nicht 51 Pfennige für etwas, das 50 Pfennige kostet!“ Dies gilt auch für die Art und Weise, wie wir auf uns wirkende Energie z. B. beim gestoßen werden im Tui Shou neutralisieren und umlenken. Hier spricht William Chen vom „leer werden (empty up)“, welches uns ermöglicht, der Kraft, die auf uns wirkt und der Richtung, wie sie auf uns wirkt, so zu folgen und nachzugeben, dass unser Gegenspieler aus dem Gleichgewicht kommt.
Sowohl beim Üben der Taijiquan – Form wie auch beim Tui Shou oder San Shou bleibt die Energiequalität in den verschiedenen Phasen der Bewegung nicht gleich. Zwischen jedem Taiji – Bild in der Form (der Yangphase) gibt es eine Entspannungsphase (die Yinphase), in der wir mit Hilfe des Geistes das Chi nach unten senken. Durch diese „Reflexion des Geistes (reflection of the mind)“ aktivieren wir die „Taijiquan – Gedächtnismuster (memory shapes)“ , d.h. die natürlichen Reflexe „(mind reflexes)“, welche wir durch das Üben von Taijiquan entwickelt und verinnerlicht haben. Die „drei Näge“l erhalten dann Impulse von den „Taijiquan – Gedächtnismustern“ und verwandeln diese wie elektronische Impulswandler (electric guns)“ in einem Fernsehgerät, welche Satellitensignale empfangen und zu Bildern auf dem Monitor verwandeln, in Taiji – Bilder. So lenkt unser Geist unsere Energie in der Yangphase, in der Aktion, von den „drei Nägeln“ direkt in die „drei Finger“ und hilft uns, alle Bewegungen mühelos und mit dem geringsten Kraftaufwand auszuführen. Chi – Kraft ist also weniger Muskelkraft. Nicht der Armmuskel bewegt den Arm (obwohl er sich natürlich bewegt), sondern der Geist und das Chi bewegen die Finger und unser Arm, unsere Muskeln, unser Körper folgen. Das heißt wir „schlagen ohne zu schlagen und boxen ohne eine Faust“! Meister Chen verdeutlicht sehr einprägsam und einfach, was er mit diesen Ideen erreichen möchte, indem er vor seinen SchülerInnen auf einen Stuhl steigt und hinunter springt. Das mühelose Auffangen des Körpers, bei dem Beinmuskeln und Knie ohne Anstrengung und Anspannung in flexibler Anpassung an Höhe und den Widerstand, auf den sie auftreffen arbeiten, ist für ihn das beste Beispiel für eine von innen gelenkte, natürliche Bewegung.
„Der Taiji – Kämpfer versteht es Eisenschläge in Baumwolle zu kleiden!“
Meister Chen betont, dass das Verständnis seiner Konzepte und Ideen nicht automatisch einen guten Kampfkünstler aus uns macht. „Kämpfen kann man damit nicht! Wer etwas über Kampfkunst wissen will, muss viel San Shou trainieren und seine Reflexe ausbilden. Theorien alleine helfen da nicht!“ Um die in „Baumwolle gekleideten Eisenschläge (Iron wrapped in cotton – punches)“ zu erreichen (Meister Chen ist ein wahrhaft überzeugender Meister dieser Schläge!) müssen wir lernen, wie wir die Geschwindigkeit und Kraft eines Schlages steigern können. Dies erreichen wir paradoxerweise am ehesten durch das Üben langsamer Taijiquan – Bewegungen, da wir damit die Muskelspannung verringern und „die Reibung zwischen den bewegenden Teilen vermindern. Dies ist notwendig um hohe Geschwindigkeiten zu erreichen. Eine gut geölte Maschine arbeitet ja auch schneller und besser.“ Im San Shou können wir das Gelernte mit einem Partner vertiefen. Wir üben uns darin, trotz erhöhter Anforderungen und zum Teil schnellen Bewegungen die Taiji – Grundsätze beizubehalten und entspannt zu bleiben. Da zum Schutz Boxhandschuhe getragen werden, kann man Situationen schaffen, in denen man sich gegenseitig angreift bzw. verteidigt, was der Selbstverteidigung und der Vervollkommnung der Kampfkunst dient.
Meister Chen erklärt, daß geringe Druckunterschiede, die langsam ansteigen oder abnehmen die weichen, sanften Bewegungen erzeugen. Größerer Druck und schnellerer Druckanstieg bedingen die schnelleren, explosiven Bewegungen. Somit hängt die Kraft eines Schlages von der Schnelligkeit und der Größe der Druckänderung und dem Widerstand ab, auf den er trifft. Für schnelle Tritte oder Schläge müssen wir in der Lage sein innerhalb des Bruchteils einer Sekunde von sehr entspannt zu stark angespannt zu wechseln und umgekehrt. Je höher der Grad der Spannungsänderung, umso größer ist die die Geschwindigkeit. Dies machen sich erfahrene Taiji – Praktizierende zu nutze, in dem sie nur die Muskeln anspannen, die wirklich benötigt werden und sie sofort wieder entspannen. „Taiji – Meistern können im Kampf ihren Körper weich wie Baumwolle machen, um im Moment der Ausführung eines Schlages plötzlich so hart wie Stahl zu sein. In einem Augenblick erscheinen sie bewegungslos wie ein Berg und im nächsten schnell wie eine Meeresströmung. Diese unvorhersehbaren Dynamikwechsel erreichen wir nur, in dem wir das Yin und das Yang üben, Lockerheit und Spannung, weich und hart, schnell und langsam.“
„Lege dein Herz hinein!“
Der entspannte Körper, in dem die Energie wie in einem fließenden Gewässer zirkulieren kann und der friedvolle Geist machen deutlich, welchen Gesundheitswert das Üben von Taijiquan hat. Viele Menschen beginnen genau aus diesem Grund Taijiquan zu erlernen. Auf unsere Frage, wie wir diese Menschen auch für die Kampfkunstseite des Taijiquan interessieren können, antwortet Meister Chen: „Man muss sie darüber aufklären, dass die langsamen und ruhigen Bewegungen und der damit verbundene ruhige Geist eine wesentliche Voraussetzung für einen guten Kampfkünstler sind, dass das Training dieser Bewegungen jedoch gleichzeitig einen hohen gesundheitlichen Nutzen beinhaltet. Jeder der regelmäßig übt profitiert durch das Üben der Taiji-Form in jedem Fall. Da Taijiquan mit Kompressionen arbeitet und weniger mit Muskelkraft ist es als Kampfkunst auch besonders interessant für Frauen.“
Meister Chen lehrt uns, unser Herz in jede Übung zu legen und mit unserer ganzen Aufmerksamkeit bei dem zu sein, was wir gerade tun. Dadurch lernen wir unseren Körper zu verstehen und zu respektieren, Vertrauen zu haben in unsere natürlichen Fähigkeiten und uns körperlich, geistig und spirituell weiterzuentwickeln. In der Art und Weise, wie er als Lehrer unsere Fragen aufnimmt und bereit ist, über den Weg der uns als SchülerInnen weiterbringt nachzudenken, zeigt sich William C.C.Chen als wahrer Mann des taoistischen Weges. Im Sinne von WU WEI- sich empfangend einlassen – lädt er uns zum Entdecken und gemeinsamen Üben ein.
In seinem 1973 erschienenem Buch „Körpermechanik des Taijiquan“ schreibt Meister Chen: „Die Grundsätze der Körpermechanik, die im Taijiquan zu finden sind, sind allen Menchen eigen. Diese Grundsätze fördern eine gute Gesundheit und beleben die täglichen Aktivitäten. Es gibt keinen Zweifel, daß sie Kampfkünstlern helfen, größtmögliche Geschwindigkeit und Kraft zu erlangen. So ist Taijiquan sowohl eine der besten chinesischen Kampfkünste als auch ein Jahrhunderte altes Mittel zur Erreichung körperlicher Fitness. Seit 50 Jahren hat mein Nachdruck immer auf sachlichen Anwendungen des Taijiquan gelegen. Tatsächlich ist das Konzept „Körpermechanik“ das Ergebnis meiner lebenslangen Hingabe und Beschäftigung. Einige Leute mögen denken, daß ich gegen die „übernatürlichen“ Kräfte des Taijiquan bin. Ich würde eher sagen: Ich bin glücklich und zufrieden mit seinen praktischen Seiten.“ (kw)
Lesen Sie hier einen Artikel über die „Drei Nägel Methode“ von William Chen.
Videos von und über William Chen
Trailer zu seiner neusten DVD
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