Kritik zum One Inch Punch

Der One Inch Punch gehört mittlerweile zu den häufigsten Demonstrationen in der Kampfkunst. Die Techniken sind oftmals grundverschieden, die Effekte sollen aber ähnlich sein. Es geht um einen Schlag auf kurze Distanz, der aber so stark in den Gegner hineinwirkt, dass dieser nicht nur geschlagen wird, sondern dass auch dessen Struktur zusammenbricht und er im Optimalfall mehrere Meter weit zurücktaumelt.

Übliche Ausführungsformen

  1. Die häufigsten Techniken zum One Inch Punch sind:Kritik zum One Inch Punch
  2. Stoß ausschließlich mit dem sich aufwärts bewegenden Handgelenk.
  3. Stoß mit einem Vorschub der Schulter.
  4. Stoß mit einem Vorschub der Hüfte.
  5. Schlag als Peitscheneffekt I: Der gesamte Körper wird ausgehend von einem Fuß aus in Bewegung gesetzt und die Bewegung wird auf den Körper des Partners übertragen; der Impuls entsteht durch ein Abdrücken des eigenen Körpers vom Boden nach oben und in Richtung des Partners.
  6. Schlag als Peitscheneffekt II: Der eigene Körper „sinkt“, zeitgleich wird die Hüfte nach vorne geschoben und ruckartig zurückgeschnallt, so dass sich ein kurzer schneller Schlag ergibt.

Diese Techniken sind gewiss nicht verkehrt, zählt u. a. die Kampfkunstlegende Bruce Lee zu jenen, die sie auf diese Weise gezeigt haben. Allerdings, und das ist die Kritik, wird der Körper ausschließlich linear bewegt, was letztlich bedeutet, dass muskuläre Kraft gegen Kraft wirkt, auch wenn am Anfang und am Ende der Bewegung der Körper entspannt ist. Oft ist zu beobachten, dass die Ausführenden ihren gesamten Körper oder wenigstens den schlagenden / stoßenden Arm anspannen, da noch immer das Konzept „Hartes und Weiches“ verbinden dahingehend interpretiert wird, dass sich der Aufbau eines Schlags / Stoßes entspannt vollzieht, der Schlag / Stoß selbst angespannt geschieht und danach wieder eine Entspannung erreicht werden soll.
Abgesehen von dem Wechsel zwischen Spannung (hart) und Entspannung (weich) sind brüchige Bewegungen allein durch den Aufbau der Techniken vorzufinden, was Kraftverschleiß, Verlangsamung, Berechenbarkeit, Starrheit und Druck erzeugt. Doch gerade auf naher Distanz ist ein Druck in jeglicher Form zu vermeiden. Der One Inch Punch soll also drucklos vorgenommen werden. Was heißt das?

Die (Taiji-)Alternative

Es darf kein Druck auf den Partner ausgeübt werden. Da es das Ziel ist, diesen wegzustoßen, steht oft die Idee im Zentrum, man müsse Kraft übertragen, um den Partner in Bewegung zu versetzen. Der Druck aber ist aus zwei Gründen nachteilig:

  1. Er wirkt unmittelbar auf einen selbst zurück, so dass man die Kollisionsenergie aufnehmen und neutralisieren muss.
  2. Er signalisiert dem Partner sehr deutlich, welche Art des Angriffs erfolgt bzw. wo und wie man im Raum organisiert ist.

Das ist nur der Druck, der mit dem Partner korreliert. Ein zweiter Druckpunkt ist der Boden – gerade bei jener Technik, bei welcher man sich vom Boden abdrückt, um Kraft zu generieren, denn dieses Abdrücken verrät nicht nur die Richtung, in welche man sich bewegt, sondern blockiert den Körper in freien Bewegungen, ist nämlich das Abdrücken vom Boden nach oben / vorne vorhanden, muss – will man rechtzeitig auf Manöver des Partners reagieren – diese Bewegung erst wieder gestoppt werden, um eine neue anzuwenden.
Ein Abdrücken der eigenen Masse gegen die Schwerkraft ist um jeden Preis zu verhindern. Damit bleiben die „inneren“ Prinzipien des Sinkens und Entspannens übrig. Der One Inch Punch ist vor diesem Hintergrund wie folgt zu organisieren (Gleichzeitigkeit! Die folgende Schrittfolge dient nur der Übersicht.):

  1. Entspannen und Sinken, Folge: automatischer Aufbau optimaler Körperstruktur.
  2. Verlagerung des eigenen Gewichts auf ein Bein, vornehmlich das vordere.
  3. Ausdehnung des gesamten Körpers durch das Dehnen, Weiten, Strecken aller beweglichen Teile des Körpers (automatische Folge des Sinkens, da die so kanalisierte Energie sich einen Weg durch den Körper sucht).
  4. Die Ausdehnung im Rücken begünstigt eine Vorwärtsbewegung des Schlag- bzw. Stoßarms, der nicht angespannt wird, sobald er sein Ziel erreicht, sondern entspannt bleibt („Weiches mit Hartem verbinden“ heißt nämlich, dass das Harte lediglich die Wirkung des Weichen ist – man selbst bleibt weich, die Wirkung aber ist hart).

Es gibt keinen Druckmoment bei diesem Konzept!

Der Körper wird nicht gegen den Boden abgedrückt, um Kraft zu generieren, sondern fällt nach unten. Dieser Fall endet naturgemäß am Boden, so dass die niederfallende Kraft im Körperinneren nach oben steuert und über das Körperzentrum in den Arm geleitet wird. Da es nicht die eigene Kraft ist, die verwendet wird, gibt es auch keinen Druck am oder im Partner. Der Körper bleibt entspannt. Dadurch verliert auch der Körper des Partners die Spannung, welche als Schutzschild fungiert. Er hat als einzige Information einen leichten Körperkontakt eines entspannten Körpers. Schutzreflexe werden unterwandert, da trotz sichtbarer Gegnerschaft kein Schlag erwartet wird, selbst wenn das Bewusstsein weiß, dass ein Schlag unmittelbar folgt. Die so erzeugte Bewegung kann im engen Sinn nicht als Schlag oder Stoß definiert werden, weil diese Begriffe starr sind und einen Anfang und ein Ende benötigen. Diese fehlen aber bei dieser Herangehensweise, weil die Bewegung keinen Anfang hat, da der Körper permanent in Bewegung gehalten wird und die ausgestoßene Energie eine Folge der Schwerkraft im Körper ist und dadurch keinen eigenen Anfangspunkt hat.

Autor: Christoph Eydt

Foto: Ken van Sickle