Qigong – Erwachsenenbildung für Gesundheit und Persönlichkeit

Von Christian Auerbach

„Übung ist der einzige Weg, in dem der Mensch durch eigene Anstrengung zur inneren Freiheit gelangen kann.“

Otto Friedrich Bollnow

Die meisten aller Qigong-Angebote lassen sich derzeit in der Erwachsenenbildung verorten – von Volkshochschulen, Bildungsstätten über die eigene Qigong-Schule bis hin zu Vereinen wie z.B. der Deutschen Qigong Gesellschaft.

Zumindest in der öffentlichen Erwachsenenbildung, die ja neben Schulen und Universitäten als 3. Standbein der staatlich geförderten Bildung auf öffentliche Gelder zugreifen kann, gibt es Vorgaben, was denn nun Erwachsenenbildung sei.

QigongübungAlltag

Ein paar Hinweise dazu geben die Erwachsenenbildungsgesetze (EBG) der Länder:

Die Erwachsenenbildung soll allen Menschen

  • „ … die Chance bieten, sich die für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Mitgestaltung der Gesellschaft erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen.“ (Nds. EBG)
  • „…  soll die Selbstständigkeit des Urteils fördern
  • … bei der Bewältigung von Lebensproblemen helfen
  • … die Bereitschaft des Einzelnen zu lebenslangem Lernen fördern … .“

(Thüringer EBG)

Erwachsenenbildungseinrichtungen, z.B. die Volkshochschulen, sprechen gern von einem „ganzheitlichen Verständnis des Menschen“, durch das sämtliche Facetten ausgebildet werden können.

Eine der großen Facetten ist die Gesundheitsbildung, unter deren Dach Qigong-Kurse angesiedelt sind – in der Nachbarschaft von Yoga und Autogenem Training.

Der Dtsch. VHS-Verband spricht 2008 von insgesamt 2,4 MIllionen Teilnehmern in 162 000 Gesundheitskursen.

In der Gesundheitsbildung sollen eigenverantwortlicher Umgang mit sich selbst, Förderung von Gesundheitskompetenz und bessere Eigenwahrnehmung gebildet werden, so der Dtsch. VHS-Verband.

Diese Angebote seien einer Veränderung der Versorgungsstruktur auf nationaler Ebene geschuldet, in der sich jeder in viel höherem Maße selbst um die Gesundheitsversorgung kümmern muß. Gesundheitslernen sei eine Schlüsselqualifikation für den Alltag und eine typische öffentlliche Aufgabe der Erwachsenenbildung.

2008 führte das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf eine Studie für den Deutschen VHS-Verband mit 132 Gesundheitskursen (u.a. Qigong) durch, unterstützt von 7 Ersatzkassen. Die Angebote wurden als positiv wirksam für die eigene Gesundheit und Stressbewältigung bewertet.

Die gesundheitsbezogene Lebensqualität hatte 3 Monate nach Abschluß des Kurses zugenommen, während die psychische und körperliche Belastung abnahm.

Der Erfolg der Gesundheitsbildung ist damit wissenschaftlich dokumentiert.

Um diese Qualität zu sichern, werden im Rahmen der Gesundheitsbildung für einen Kursleiter seitens der VHS folgende Qualitäten angestrebt:

  • Gesundheitswissenschaftliche Fachkompetenz
  • fundierte Kenntnisse in der Erwachsenenbildung
  • Verständnis von Gesundheit als Spiel körperlicher, seelischer, sozialer und ölologischer Dimensionen.

Weiter zieht die Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung in Niedersachsen (AEWB) deutliche Grenzlinien für Angebote:

„Grenzbereiche bedürfen der genauen Untersuchung beziehungsweise der Ablehnung.

Dazu gehören besonders esoterische Techniken, die im Zusammenhang mit Geheimwissen stehen. Außerdem alle Veranstaltungen, in denen Heils-Versprechen gegeben werden.

Die Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung empfiehlt, Bewerber/-innen eindringlich zu

befragen bezüglich:

– Weltanschauliches Verständnis

– Können die Vorgehensweisen und Methoden transparent dargelegt werden?

– Werden Methoden Inhalte und Zugangsweisen reflektiert?

– Worin bestehen die persönlichen Ziele des Kursangebotes?

– Werden Heilserwartungen geweckt?

– Welche Motive bestehen, zu unterrichten?

– Besteht Distanz zu dem inhaltlichen Angebot oder ist die Lehrmeinung eher rigide?

– Wird zwischen Gesundheitsbildung und Therapie differenziert?“

Diese aufgeworfenen Fragen mag jeder Kursleiter für sich beantworten. Auch werden sie sicher Thema in Fachrunden sein – bei Qigong-Tagen, DDQT bis hin zu Internetforen.

Oft treten Qigong-Angebote der Erwachsenenbildung in Verbund mit Förderung nach § 20 SGB V im „Handlungsfeld Stressbewältigung/Entspannung“ durch die gesetzlichen Krankenkassen in Erscheinung.

Der „Prozess hin zu mehr Selbstbestimmung in Fragen der eigenen Gesundheit“ (siehe Ottawa-Charta der WHO 1986), also der Gesundheitsförderung, findet in Deutschland eine ausdrückliche Formulierung in  § 20 SGB V. Hier wird den Krankenkassen das Feld der Prävention und Gesundheitsförderung zugeordnet.

Qigong wird dabei explizit als eine Methode der Gesundheitsförderung im Leitfaden des VdEK (Verband der Ersatzkassen) benannt, „palliativ-regeneratives Stressmanagement“ im Handlungsfeld „Entspannung“ soll damit möglich sein.

Von den Kassen wird als Qualitätsstandard vom Kursleiter gefordert:

  • Mindestens 300 UStd Ausbildung in Präsenzunterricht, maßgeblich sind die Inhalte z.B. des DDQT in seinen Ausbildungsrichtlinien,
  • ein staatlich anerkannter Sozial- oder Gesundheitsberuf muß erlernt worden sein. (Leitfaden der VdEK von 8-2010).

Alles in allem erfreulich für unsere Methoden, auch wenn ich so manch kritisches Wort zur Forderung eines Grundberufes oder der aktuellen Förderpraxis verlieren könnte!

Ich wende mich wieder den Möglichkeiten von Qigong in der Erwachsenenbildung zu:

Wie in der Forschung von VHS und Krankenkassen gesehen, können die Ausschreibungen recht haben mit dem Versprechen der Entspannung vom Alltagsstress.

Aber es gibt sehr verschiedenartige Übungen – von einfach bis komplex – und es ist nach meiner Meinung unseriös, zu versprechen, diese oder jene Übung oder gar Qigong an sich entspanne einfach und direkt per se.

Das wäre kein „ganzheitliches Menschenbild“, sondern eine rein mechanistische Idee (wenn ich eine Übung reintue, kommt Entspannung oder Wohlgefühl raus), aus dem sich ein „Fühl dich gut-, Entspann dich-, Fit und aktiv-“ Qigong als besserer Koffein-, Baldrian- oder Aspirin-Ersatz speist.

Ist so etwas überhaupt das Entscheidende im Qigong?

Klassische Übungen wie das Zhang Zhuang, auch das Chansi-Gong oder das Fanhuan Gong geben andere Vorgaben.

Sie befragen den Übenden, wie es ihm geht, ob es ihm gelingt eine Übung so locker auszuführen, daß sich darin die Entspannung zeigt und Wohlbefinden entsteht.

Dazu bieten sie eine dosierte Verunsicherung über der Übungsanleitung innewohnende Widersprüche oder scheinbar nicht zusammengehörende Muster der Spannungs-organisation.

Die Qigong-Übung wird nur dann den Übenden zur Entspannung bringen, wenn der Übende sich auf sie einlässt, ihr direkt begegnet, so daß er in der Verunsicherung loslässt und so eine Lösung findet.

Die Herausforderung der Übung will bewältigt werden, ob eher schmerzhaft und angestrengt oder locker und schmerzfrei, ist abhängig vom Übenden, nicht von der Übung.

Manche sind neugierig in einer Übung, andere kämpfen grundsätzlich mit allem Fremden, oder wie ein tibetischer Lehrer einmal auf die Klage eines Übenden über anstrengende Übungen sagte:

„Sie können freudig den Weg suchen, kämpfend, mißmutig oder gelassen, die Hauptsache ist, daß Sie lernen wollen und gehen!“

Die Übung gibt ausschließlich Rückmeldung darüber, wie man selbst ist in einer Übung, sie ist zuverlässiger Informant über den eigenen gegenwärtigen Zustand.

Insofern ist Qigong mehr ein Achtsamkeits- und Sensibilitätstraining für Erwachsene in dem der eigene Zustand und die eigenen Möglichkeiten betrachtet werden sowie Vorschläge gemacht werden, in welche Richtung Änderung sinnvoll wäre.

Dazu möchte ich noch 2 westliche Ansätze verfolgen, die Themen beschreiben, die diese Ansicht von Qigong in Menschen unterstützen:

1. Üben von Qigong als Persönlichkeitsbildung – ein Thema der Geisteswissenschaften

Qigong üben – Qigong braucht viel Übung – Übung macht den Meister – Meisterschaft heisst nicht, alles zu können, sondern das, was man tut auf eine stimmige Art und Weise tun.

Was übe ich eigentlich:

Übe ich Qigong oder

übe ich mich mit dem Werkzeug Qigong?

Heutzutage wird Üben meist gesehen als  „ Fähigkeit des Menschen sich eine Tätigkeit durch Wiederholung anzueignen und zu verfeinern.“ Heraus kommt meist die Pflichtübung, nur manchmal auch eine Freude an wachsender Perfektion der Tätigkeit.

Üben kann mit dem Existentialphilosophen Otto Friedrich Bollnow und dem stark vom Zen beeinflussten Psychologen Karlfried Graf Dürckheim auch anders betrachtet werden:

Menschen verlieren sich gern im Wiederholen ….

  • erst in der variationenreichen Wiederholung des  kindlichen Spiels,
  •  mit 8-13 Jahren im spielerischen Grenzbereich zum Wettstreit im „Besser-werden-wollen“ in Fußball, Ballett oder Klavierspiel,
  • dann im erwachsenen Üben, streng vertiefend bis spielerisch freudig übend, vom ewigen Wiederholen der Zen-Rituale bis zur spielerisch-flockigen Improvisation eines Olli Dittrich (der in seiner Anfangszeit sicher Szenen oft wiederholte und dabei zu sich fand, bevor er als „Dittsche“ frei aufspielte).

Im Üben macht die Wiederholung einer Tätigkeit als solche Freude, ist interessant, wird gern ausgeübt. Wenn mir das Üben Freude bereitet, dann nehme ich es auch ernst und die

„Übung gehört wesensmässig zum Menschen – lebenslang“. (Bollnow)

So kann der Alltag zur Übung werden. (Dürckheim)

Hinweise gibt ein Rückgriff auf die Wortbedeutung:

Im Grimmschen Wörterbuch lassen sich zu „üben“ die 2 zentralen Bedeutungen der germanischen Wurzel finden:

Üben hat ursprünglich Bezug zu „Landbau“ und „religiöser Feier“.

Beide Bedeutungshorizonte waren eng verflochten, Landbau war in alter Zeit intensiv mit Ritualen verbunden – von Festlegung des Termins zur Aussaat oder Düngung bis hin zu Erntedank (heute ist ähnliches wieder zu finden im Biodyn. Landbau), in denen göttliche Mächte zur Unterstützung der menschlichen Bemühungen angerufen wurden.

Typisch für religiöse Handlungen und Rituale ist, daß die Aufmerksamkeit nicht auf ein Ziel gerichtet ist, sondern auf den Vollzug der Handlung selbst.

Die Handlung findet im Bewußtsein des Göttlichen statt, sie ist Exercitium, Übung der Erinnerung an das Göttliche.

Wenn sie das ist, dann ist der handelnde Mensch auf einmal Gegenstand der Übung, es geht um die rechte Verfassung und die persönliche Fähigkeit, mit dem Göttlichen in Verbindung zu treten.

Wenn der Mensch mit einem Minimum an Willensanstrengung begonnen hat, so schafft sich das Üben selbst die innere Verfassung. Er muß nur um das rechte Üben wissen. Die geübte Handlung hat Rückwirkung auf den geübten seelischen Zustand.

„Die seelische Verfassung ist nicht nur die Voraussetzung für das Gelingen, sondern zugleich das Ergebnis geduldigen Übens.“ ( Bollnow)

Die Übung verlangt selbstvergessene Hingabe an das zu übende Tun und dennoch die volle Anspannung, eine Gleichzeitigkeit des Zustands völliger Gelassenheit und höchster Aufmerksamkeit.

Der Mensch hat seinen Eigenwillen gelassen und geht voll auf im Tun.

Bollnow fasst dies im Zweiklang

„Gelöste Sammlung – gesammelte Gelöstheit“

Der Sinn des Übens ist die Verwandlung des Menschen dahin, daß er sich seiner selbst in einem inner-psychischen Geschehen seiner Existenz, der Aspekte des Menschseins und allgemein des Daseins immer mehr gewahr wird.

Es ist seine ureigenste Aufgabe, sich selbst als Mensch zu üben, menschliche Integrität bei gleichzeitiger Einordnung in den Kosmos zu erwerben oder mit den 1826 geschriebenen Worten des Vaters der Kindergärten, Friedrich Fröbel, es geht um Lebenseinigung.

Der Wert der Integrität eines Menschen zeigt sich nun nicht nur in der klassischen westlichen Pädagogik, sondern ebenso in der chinesischen Kultur bereits bei Zhuangzi:

„Das Wissen muß sich auf etwas gründen, aber man ist im Ungewissen darüber, was dies wohl sein mag“

Wie kann ich in der Tat wissen, ob das, was ich Himmel nenne, in Wirklichkeit nicht der Mensch und das, was ich Mensch nenne nicht in Wirklichkeit der Himmel ist?

Zuerst muß da ein wahrhafter Mensch sein – dann kann es wahres Wissen geben.“

Zhuangzi, Kapitel 3

und

„Übung ist der einzige Weg, in dem der Mensch

durch eigene Anstrengung

zur inneren Freiheit gelangen kann.“

Bollnow

Der Gegenstand des Übens ist nicht festgelegt, aber bestimmte Arten von Übungen erleichtern die persönliche Übung:

So hilft Qigong, über die Suche nach natürlichen (fast reflektorischen) Haltungen und Bewegungen zu einem besseren Zusammenspiel von Bewußtsein mit Körper. Im Qigong versuche ich, die Bedingungen des Organismus zu beachten und es ihm leichter zu machen, zu leben.

Weiter hilft es, wenn die Übungen einfach sind und jederzeit wiederholbar, um ins Üben zu kommen und mir Übungsprinzipien anzueignen.

Später lassen sich die Erfahrungen aus einfachen Übungen (Zhang Zhuang) auf komplexere (Fanhuan Gong, Wudang Qigong etc.) übertragen bis hin zum Alltag als Übung.

2.  Erkenntnisse der Neurobiologie zum Lernen im Qigong

„Erst wenn es uns gelingt, zu erkennen, durch welche Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien die Entwicklung lebender Systeme bestimmt wird, …. haben wir die Möglichkeit, …. korrigierend in absehbare Fehlentwicklungen einzugreifen.“

Prof. Gerald Hüther.

Eine zentrale Eigenschaft des Menschen ist seine Lernfähigkeit, beschreibbar durch die

„Experience-dependent plasticity of neuronal network“

oder auch neuronale Plastizität des Gehirns.

Die Nervenwege („neuronal pathways“), die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, sind abhängig von der Art der Benutzung.

Je nachdem, ob wir Autofahren oder Qigong üben, werden verschiedene Wege angelegt, ausgebaut oder verkümmern – so wie sich in einer Landschaft im Laufe der Zeit der Zustand der Wege durch die Nutzung ändert.

Einmal angelegte Wege können mit der Zeit verfallen, andere werden neu gebahnt.

Die inneren Verschaltungen werden mit zunehmender Dauer der immer gleichen Benutzung immer stabiler.  Wenn die Nerven-Feldwege dann zur Nerven-Autobahn ausgebaut sind, so wird darauf auch entlang gefahren, wenn sie vielleicht gar nicht dorthin führt, wo man eigentlich hin will.

Die zentrale Instanz der Veränderung ist die Streßreaktion, die evolutionär mit dem Auftreten der ersten Wirbeltiere entstanden war.

Dazu folge ich nun den Ideen des  Göttinger Neurobiologen und Mediziners Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther.

Eine sich durch verschiedene Instanzen des Nervensystems ausbreitende Erregung, ein neuronales Erregungsmuster („arousal“), das wir hier provisorisch „Angst“ nennen, wird zu Beginn der Streßreaktion ausgelöst, eine gewisse Erleichterung wird empfunden samt Dopaminausschüttung, wenn die Streßreaktion aufhört.

Dieser Ablauf wird auch „kontrollierbare Streßreaktion“ genannt.

Bei jeder kontrollierbare Streßreaktion, also bei jedem gelungenen Bewältigungsversuch / Handlung einer Stuation, werden gleichzeitig durch die Ausschüttung der verschiedenen Streßhormone und biochemische Prozesse die Verschaltungen besser ausgebaut, die zur Entspannung der Situation beigetragen – so als würde man mit jedem gelungenen Befahren eines Feldweges sofort einen Bautrupp zum Ausbau hinterherschicken.

Manchmal ist aber für jeden eine Situation so noch nie dagewesen.

Wenn alle Wege blockiert sind und auf keine bekannte Lösung zurückgegriffen werden kann, ist es aus mit der Kontrollierbarkeit.

Die jetzt ablaufende „unkontrollierbare Streßreaktion“ ist nicht mehr aufzuhalten und aus der anfänglichen kleinen Angst wird Ohnmacht, Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Die Streßhormone wirken in der unkontrollierbaren Streßreaktion auf das Gehirn selbst und nicht nur auf die Handlungsweise.

Damit entsteht eine „Programmänderungsmöglicheit“ im menschlichen Gehirn, so daß die Nervenzellen des Gehirns ihre Eigenschaften ändern können, also bisherige Verschaltungen auflösen und neue Verschaltungen bilden können, um sich anpassen zu können.

Eine Phase beginnt, in der das Alte nicht mehr geht und das Neue noch nicht gefunden ist.

Das Gehirn demontiert vorhandene Bahnungen, um den Suchprozeß abseits ausgetretener Pfade zu beschleunigen. Das Gehirn läuft durch die auftretende Kortisolausschüttung auf Vollgas mit angezogener Handbremse.

Spätestens jetzt ist es Zeit, sich in Stille zu üben, um den autonom ablaufenden Veränderungen nachzuspüren.

Wir lernen demnach nur dann besonders schnell und nachhaltig, wenn durch eine Streßreaktion das Gehirn gehörig wachgerüttelt wird, wenn etwas uns persönlich bewegt.

Sowohl bei der Optimierung vorhandener Bahnungen als auch bei Hemmung und Neubildung ist in beiden Fällen der Auslöser der Streßreaktion ein sich ausbreitendes Erregungsmuster („arousal“) durch verschiedene Ebenen des Gehirns hindurch.

Hüther wörtlich:

„… was uns bisher alles über die negativen Auswirkungen von Angst und Streß einzureden versucht wurde !

Wir brauchen immer neue Herausforderungen und die damit einhergehenden Streßreaktionen, um uns immer besser an die vielfältigen Erfordernisse unserer Lebenswelt anzupassen. …

Wir haben die Streßreaktion nicht deshalb, damit wir krank werden, sondern damit wir uns ändern können.

Krank werden wir erst dann, wenn wir die Chancen, die sie uns bietet, nicht nutzen.“

Damit in den Gehirnen möglichst vieler Menschen keine zu breiten Straßen entstehen, sondern möglichst viele kleine verzweigte Wege entstehen, müssen sie wach sein und dürfen sich nicht wie eine Maschine programmieren lassen.

Bei allen Veränderungen muß im Gehirn die Alarmglocke beginnen zu läuten und die Suche nach neuen Lösungen muß beginnen, damit die menschliche Anpassungsfähigkeit ausreichend zum Zuge kommt.

Qigong kann hier eine ideale Trainingssituation schaffen. Jeder der sich seit längerem mit Qigong beschäftigt steht vor scheinbar unlösbaren Aufmerksamkeits- oder Koordinationsaufgaben. Ohne bedrohliche Veränderung von aussen wird der Mensch in seinem Lernprozeß mit Qigong immer wieder in seinem Zusammenspiel zwischen Bewußtsein und Körper herausgefordert, Bekanntes und Bewährtes durch neue Lösungen zu ersetzen.

In einem Gespräch über die Wirkungen von Qigong äußerte Prof. Hüther, die Übungen des Qigong seien „ideale Weichmacher für das Gehirn“. Das ist zu trainieren

  • in Übungen, die Verknüpfungen und damit Komplexität anfordern – von ganz einfach bis hochkomplex. Sie schaffen immer wieder ein ausreichend hohes Erregungspotential von Neugier bis hin zu Verzweiflung, bereiten den Boden sowohl für kontrollierte wie auch unkontrollierte Streßreaktionen.
  • in Übungen die Ruhe des Geistes einfordern – das ist das Ungewohnte
    Dies schafft ein Erregungsmuster, das die Neuroplastizität fördert.
    Außerdem ist die Stilleorientierung auch mit ihrer Reizarmut ein sehr gutes Instrument um die Arbeitsweise des Bewußtseins und des gesamten Organismus kennenzulernen und die selbsttätige Neuorganisation zuzulassen.

Qigong-Methoden können ein Modelllernen für die ständige Änderung der Lebenswelt eines Menschen anbieten. Sie trainieren, starre Programme zu löschen; die Übungsformen arbeiten als die Änderung bahnenden, vorbereitenden Weichmacher.

So wird nachhaltiges Lernen durch Änderung der Strukturen im ZNS ermöglicht.

Wohlgefühl und Enspannung fördern nicht unbedingt nachhaltig zu lernen, sondern bestätigen meist im Bekannten.

Eine dosierte Verunsicherung ist für gelungene Lernprozesse nötig.

Entspannung kann allerdings hervorrragend vorbereiten. Durch sie kann ich die Kraft und den Mut erhalten, mich neuen Herausforderungen zu stellen und mich auch immer wieder zurückziehen und erholen, um mich erneut einlassen zu können.

Qigong kann beides anbieten:

Bestätigung und Stärkung des Vorhandenen als auch die Verunsicherung des Neuen oder anders,

Wohlgefühl und Herausforderung.

Das gut ausbalancierte, die Phasen wechselnde und an die Gruppe angepasste Verhältnis der beiden Seiten zueinander wird einen gelungenen Qigong-Unterricht in der Erwachsenenbildung ausmachen, wobei wir als Kursleiter uns nicht zu sehr auf die Rolle des „Gute-Gefühle-Machers“ einspielen sollten, sondern oft genug auch unbequem herausfordernd sein sollten, um Lernprozesse zu ermöglichen.

Literaturtipps zum Stöbern:

Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung Niedersachsen (AEWB):

Grenzbereiche in der Gesundheitsbildung und             Schutzbereiche, PDF-Dokument unter www.aewb-nds.de,              Gesundheitsbildung

Allgaier, Dieter:            Kraft ohne Anstrengung, München 1999

Auerbach, Christian:            Lebenseinigung und Zentriertsein in der Erziehung –             Überlegungen zur Pädagogik Fröbels im Vergleich zu             östlichen Schulungswegen; Magisterarbeit Göttingen 1987

Auerbach, Christian:             Das Modell der Salutogenese (Entstehung von Gesundheit)

…. eine Unterstützung für Qigong und Taijiquan

Taijiquan & Qigong Journal“ Heft 2, 2000

Auerbach, Christian:             Qigong und Taijiquan als „Weichmacher“ für das Gehirn;             Taijiquan & Qigong Journal 3/ 2002

Bollnow, Otto Friedrich:             Vom Geist des Übens, 3. Auflage Stäfa 1991

Dtsch. Dachverband Qigong & Taijiquan: Allgemeine Ausbildungsrichtlinien des DDQT,             www.DDQT.de

Fröbel, Friedrich:            Die Menschenerziehung (1826), in: Ausgewählte Schriften,             hrsg. von E. Hoffmann, Bd. 2, Stuttgart 1982

Graf Dürckheim, Karlfried:             Der Alltag als Übung, 8. Auflage Bern 1984

Hüther, Gerald:             Biologie der Angst, 4. Auflage Göttingen 2001

Hüther, Gerald:            Gebrauchsanleitung für ein menschliches Gehirn, Göttingen             2001

Lehrhaupt, Linda:             Stille in Bewegung, Berlin 2001

Mayer, Dieter:            Typgerecht trainieren, Norderstedt 2010

Tschuang Tse:             Glückliche Wanderung – übers. Gia-Fu Feng / Jane English,             Haldenwang 1980

Wilber, Ken:            Halbzeit der Evolution, Bern 1984

dis.kurs:            Zeitschrift des Dtsch. VHS-Verbandes, Heft 3-2009, S. 28

Dtsch. Volkshochschul-Verband:            Bildung für Gesundheit; Broschüre des Dtsch. VHS-            Verbandes, Bonn 2008