Von Dr. rer. nat. Imke Bock-Möbius
Vorbemerkungen
Damit sich die Beziehung zwischen Qigong und Moderner Physik erschließt, muss man in der zeitlichen Entwicklung bis an den kosmologischen Anfang zurückgehen. Der chinesische Dichters Su Zhe (11. Jh.) formuliert das, was ich beschreiben möchte, folgendermaßen: „Es gibt nur ein einziges Ordnungsprinzip (li) in den zehntausend Dingen; der Unterschied liegt lediglich darin, von wo sie ausgehen“[1]. Welches ist dieses Ordnungsprinzip, diese gemeinsame Grundlage? Meines Erachtens hat sie mit der Vorstellung, der Wahrnehmung und dem Empfinden von EINHEIT in vielfältigster Form zu tun.
Diesem Grundprinzip wird hier in drei verschiedenen Bereichen nachgegangen. Zunächst wird die Bewegungskunst Qigong unter dem Aspekt der Vollständigkeit in jeder Übung betrachtet sowie der Begriff des Dao; dann folgen Erläuterungen zur Mystik mit dem zentralen Begriff des Einheitserlebnisses und schließlich wird die Naturwissenschaft, speziell die Quantenphysik als Repräsentantin der Modernen Physik, mit dem Begriff der Verschränkung/Nichtlokalität diskutiert. Dann erst folgt die Zusammenschau; so ist gewährleistet, dass es keine ungewollten Überschneidungen gibt.
Qigong – Übungen für Körper und Geist
Qigong ist nicht nur eine Methode zur Mobilisierung der Selbstregulierungskräfte des Menschen, sondern auch die Kunst der Lebensführung; dazu ist die Realisierung bestimmter Prinzipien auf körperlicher und geistiger Ebene von Bedeutung. Der Philosoph Wang Chong (1. Jh.) bezeichnet Qi als „die letzte und einheitliche Ursache der Dinge“[2]. Durch die Bewegung und Dynamik des Qi sind Mensch und Kosmos verwoben. Qi ist die Brücke zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, zwischen den Objekten und dem höchsten Prinzip.
Wenn man bis zur Entstehung des Universums zurückgeht, dann könnte man diese als einen Übergang vom undifferenzierten Zustand der Einheit, dem Dao, zum Auftreten der Polaritäten Yin und Yang beschreiben (Abb. 1). Der beständige Übergang zwischen diesen Polaritäten wird in der Dynamik des Taiji-Symbols sichtbar.
Um in Harmonie mit der Natur zu leben und Schaden zu vermeiden, soll man nach daoistischem Ideal diesem Wandel der sich ergänzenden Gegensätze folgen. Das Taiji-Symbol kann als Übungsanweisung aufgefasst werden, so dass sich beim Praktizieren des Qigong das Dao im Prinzip der Vollständigkeit wiederfinden lässt. Die Ergänzung der Polaritäten zeigt sich in den vier Grundmustern der Bewegung: Öffnen/Schließen, Steigen/ Sinken [3], die sich kontinuierlich ineinander umwandeln und jeweils den Gegenpol enthalten. Jedem Öffnen wohnt ein Schließen inne und umgekehrt, z.B. ist man sich beim Öffnen immer noch der Verwurzelung bewusst und beim Schließen beachtet man die Aufrichtung.
Die führende Kraft ist die geistige Ausrichtung, die der Übung über geeignete Vorstellungsbilder ihren Gehalt gibt. Im angestrebten Zustand innerer Ruhe und Klarheit werden störende Impulse ausgeblendet, so dass Qigong zu einer Meditation in Bewegung [4] werden kann. Auf diese Weise entstehen ideale Bedingungen für regenerierende Prozesse, und die positiven Auswirkungen des Qigong können sich voll entfalten. Diese Ruhe ist ein Zustand von Natürlichkeit (ziran), in dem die Verbindung zwischen Mensch und Natur, die den gleichen Gesetzen folgen, klar wird, die Dualität der Welt aufgehoben und die Einheit mit dem Dao erfahrbar ist. – Der Geist ist zugleich konzentriert und ungebunden. Im guten Übungszustand werden die Vorstellungsbilder wahrnehmbar und ein Gefühl von Zeitlosigkeit stellt sich ein. Während der Übungen geschehen Umwandlungen im Inneren des Körpers in den Dantian genannten Regionen, die man mit den Veredelungsprozessen vergleichen kann, wie man sie im Äußeren aus der Alchimie kennt; daher wird Qigong auch innere Alchimie genannt.
Beim Qigong achtet man darauf, Gegenpole nicht nur als Gegensätze sondern auch als Komplemente aufzufassen, die gemeinsam ein Ganzes bilden, z. B. bezüglich Natürlichkeit und Kontrolle bei der Ausführung der Bewegungen oder bezüglich Durchlässigkeit und Stabilität in der Haltung. Dieses Komplementaritätsprinzip, das schon am Ursprung der kosmischen Entwicklung anzutreffen ist, erweitere ich nun auf das Gebiet der allgemeinen Erkenntnis. Heute ist die Naturwissenschaft eine etablierte rationale Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen, als ein objektiver und reproduzierbarer Weg. Das Komplement dazu wäre eine intuitive Methode, ein subjektiver und einzigartiger Erkenntnisweg, z.B. die Mystik. Würde man nun gemäß dem Komplementaritätsgedanken die Erfahrungen beider Wege kombinieren, könnten meiner Meinung nach vollständigere Erkenntnisse über die Zusammenhänge im Universum gewonnen werden.
In Abbildung 2 wird die Komplementarität von Naturwissenschaft und Mystik verdeutlicht, beide sind Erfahrungsmethoden; die eine analysiert die äußere, die andere die innere Welt. Die Mittel und Wege, die sie benutzen, um Informationen zu erhalten, sind Mathematik, physikalische Theorien und Experimente auf der äußeren Seite, sowie Meditation, Gebet und Ritual auf der inneren Seite. Die Fragen, auf die sie antworten, sind die nach der Funktion (wie) auf der äußeren Seite, und die nach dem Sinn (warum) auf der inneren Seite.
Mystik – jenseits des NebelsNach meiner Ansicht vermittelt Qigong zwischen den beiden Seiten, da Qigong sowohl den äußeren Anteil hat, also z.B. eine lange Überlieferung, Methodik und klare Übungsanweisungen als auch den inneren Anteil, nämlich die eigenen Erfahrungen mit dem Qi, die z.B. in der Selbstübung möglich sind. Außerdem werden zunehmend wissenschaftliche Studien, die die Wirksamkeit von Qigong bei bestimmten Krankheitsbildern zeigen, z.B. bei Asthma oder Migräne, auch im Westen durchgeführt [5, 6].
Qigong basiert auf der TCM und der Philosophie des Daoismus. Der Daoismus hat seine Wurzeln in der Mystik. In der Einführung von Richard Wilhelm zum Zhuangzi lesen wir, dass dieser „zu dem zentralen Erlebnis führen will, das jenseits des Denkens liegt und von der Wissenschaft nur unvollkommen erfasst wird“.
Mystik ist die Erfahrung des Absoluten im Hier und Jetzt. Im Osten wird es Dao genannt, im Westen Gott. Mystik ist kein Sammelbegriff für alles, was ein bisschen nebulös ist, sondern bedeutet Erkenntnis durch Innenschau, Eins werden mit Gott; wörtlich: das Schließen von Augen und Lippen. Von westlichen Mystikern wie Willigis Jäger wird dieses Eintauchen in das Mysterium in der Metapher von Welle und Meer beschrieben: Wir Menschen sind wie die Wellen im göttlichen Ozean (der Mensch als Teil des Kosmos), aber auch der Ozean erlebt sich in jeder einzelnen Welle (Gott drückt sich in jedem Einzelnen aus) [7]. In einem anderen Bild kann man sagen, dass einerseits der Wesenskern des Menschen von Gott stammt und die Trennung nur eine Illusion ist und sich andererseits Gott im Menschen als Mensch erfährt. Wenn wir Gottes Erscheinen in den zahlreichen Religionen mit dem Erscheinen des Lichts in den Spektralfarben vergleichen, wird anschaulich, dass jeder seine eigene Religion/Lieblingsfarbe haben kann und dass keine Religion/Farbe besser ist als eine andere.
Neben dem rationalen Teil der Religionen, der Theologie, ist die Mystik als der erfahrbare Teil in den letzten 200 Jahren sehr zurückgetreten. Viele Theologen haben ein intellektualistisches Gottesbild [7], doch die Einheit mit dem höchsten schöpferischen Prinzip ist in der mystischen Erfahrung selbst erlebbar. Im transpersonalen Raum, in dem das geschieht, liegt auch unser Heilungspotential verborgen. Der Schlüssel dazu ist die Überwindung des Ich. Als Organisationszentrum für unseren Alltag ist das Ich sehr nützlich, muss aber zurücktreten, um uns den Weg zum Transpersonalen freizumachen. Nach Ansicht von Ken Wilber [8], einem führenden Theoretiker der Transpersonalen Psychologie, ist die Suche nach dem Einheitserlebnis unsere Ursehnsucht, die uns durch die ganze Evolution leitet. In der modernen Welt werden unsere spirituellen Grundbedürfnisse wenig oder gar nicht beachtet, so dass wir immer tiefer in eine Sinnkrise hineintreiben. Die ursprüngliche Suche nach Transzendenz wird zu früh abgebrochen und bleibt oft in Suchtverhalten und Ich-Bezogenheit stecken. Die Überwindung des Ich aber macht unser Eingebunden sein in die größere Wirklichkeit wahrnehmbar und dadurch lässt sich die Sinnkrise überwinden. Wilbers Theorie passt zu den Berichten von C.G. Jung, dass alle seine Patienten über 35 grundlegend mit dem Problem der religiösen Einstellung befasst waren [9].
Auch in der christlichen Tradition kennen wir den Verlust der Einheit über das Eintreten in die Polarität; dort wird sie als die Vertreibung aus dem Paradies (Genesis 3, 1-5) beschrieben. Der Biss in die Frucht vom Baum der Erkenntnis führt zum Wissen um Gut und Böse und zur Trennung. Daraus resultiert unsere Suche nach der Rückverbindung mit Gott. Diese Suche kann man auch wertfrei betrachten, als Bestandteil eines Entwicklungsweges, der ohne die Trennung nie begonnen hätte. – Im Daoismus erscheint die Polarität in der Teilung des Dao in Yin und Yang, aus denen im weiteren Verlauf die fünf Wandlungsphasen und die 10000 Dinge entstehen.
Der wesentliche Punkt im Bereich der Mystik ist m.E., dass das Einheitserlebnis nicht als Regression zu einem vorbewussten paradiesischen Zustand zu sehen ist, sondern als Ziel einer langen Entwicklung, sowohl des Menschen als auch der Menschheit. Die Entwicklung des Menschen beginnt beim präpersonalen Zustand des Neugeborenen; heranwachsend tritt er dann ins Ich-Bewusstsein ein, welches er als reifer Mensch in Richtung auf den transpersonalen Zustand des Mystikers überwinden kann. Die Entwicklung der Menschheit läuft vom unbewussten Einheitszustand zur Bewusstwerdung der Trennung von Gott/Dao mit der Dominanz des Verstandes, weiter zur überbewussten neuerlichen Einswerdung. Nach Wilbers Sicht ist das der Sinn unserer Geschichte: Entwicklung auf Vervollkommnung hin, Entfaltung der latent vorhandenen Ebenen, um Transzendenz zu erfahren.
Wir können davon ausgehen, dass die Sehnsucht nach dem Absoluten etwas allgemein Menschliches ist, doch die Angst, das Ego zu verlieren, ist groß. Deshalb wählt der Mensch oft Ersatzlösungen und forscht nach dem Unendlichen im Endlichen: Er sucht Gott in den Dingen und macht Geld zum Symbol seiner Unsterblichkeit. Das bedeutet zahlreiche Umwege und Leiden für den Menschen.
Zu erkennen, dass es keine Trennung zwischen Gott/Dao und Welt gibt und wir den inneren Geist direkt erfahren können, bedeutet ein Ende Leidens [7]. Gott/Dao zu kennen, heißt nicht, Wissen über Gott/Dao zu haben, sondern eins damit zu sein.
Obwohl die Einheitserfahrung einschneidend ist, gelingt es dem Mystiker im Meer des Bewusstseins oben zu bleiben; das unterscheidet ihn vom Psychotiker, der leicht darin untergehen kann. Beide suchen den Weg zurück zur Einheit, der Psychotiker in der Regression, der Mystiker in der Progression [8]. Um diesen Entwicklungsweg gesund zu durchlaufen, ist ein klarer, wacher und präsenter Geist unabdingbar.
Nichtlokale Wechselwirkungen in der Quantenphysik
Auf der Suche nach den universellen Ordnungsprinzipien wenden wir uns heute oft den Naturwissenschaften zu. Interessante Neuerungen werden z.B. durch die Quantenphysik möglich und haben immense Auswirkungen. Worum genau geht es in der Quantenphysik? Im Jahr 1900 stellte Max Planck fest, dass sich gewisse physikalische Probleme mit der Annahme lösen ließen, dass wesentliche Größen in der Natur nur quantisiert vorkommen, d.h., dass z.B. Strahlungsenergie nur in kleinsten Portionen, in Quanten, abgegeben oder aufgenommen werden kann, in Vielfachen des Planck’schen Wirkungsquantums. Daraus ergeben sich weitreichende Folgen u.a. für die Stabilität der Atome, die 1916 durch das Bohr-Sommerfeldsche Atommodell erklärt werden konnte.
Ein fundamentales Experiment der Quantenphysik, das Doppelspalt-Experiment, zeigt ein überraschendes Ergebnis, nämlich den Dualismus von Welle und Teilchen für atomare Objekte. Je nach Aufbau des Experiments treten die Wellen- oder die Teilchenaspekte hervor [10]. Dieses widersprüchliche Verhalten von Elementarteilchen und Licht konnte in der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik von 1927 über die Heisenberg’sche Unschärferelation und das Bohr‘sche Komplementaritätsprinzip versöhnt werden. Sie wurde in wesentlichen Zügen an Niels Bohrs Institut für Theoretische Physik in Kopenhagen erarbeitet.
Im Gegensatz zur Klassischen Mechanik trifft die Quantenphysik zwar auch präzise Vorhersagen, doch haben die Vorhersagen nur statistischen Charakter, geben also Wahrscheinlichkeiten an. Außerdem sind atomarer Prozess und Messgerät nicht länger getrennt zu betrachten: Der Beobachter beeinflusst das System durch seine Messung. Unser Wissen über die physikalische Welt stößt an prinzipielle Grenzen, die gemäß der Unschärferelation vorhergesagt werden können und die physikalischen Eigenschaften eines Systems bleiben solange unbestimmt, bis sie gemessen werden.
Für seine Verdienste wurde Niels Bohr 1947 von der Dänischen Akademie der Wissenschaften der Elefantenorden verliehen. Auf seinem Wappen finden wir interessanterweise das Taiji-Symbol [11] abgebildet mit der Überschrift: Contraria sunt complementa. Bohrs Komplementaritätsgedanke bezog die Einheit der Gegensätze auf die Ergänzung von Teilchen und Welle.
Andererseits gab es auch vehemente Gegner der Quantenhypothese, z.B. Albert Einstein, der sie für unvollständig hielt. Die Meinungsverschiedenheiten über die Vollständigkeit der Quantenphysik, die Bohr und Einstein über lange Jahre öffentlich geführt hatten, kulminierten 1935 in der Formulierung des Einstein-Podolsky-Rosen (EPR) Paradoxons [12], das 1952 von David Bohm stringenter formuliert wurde. Die Berechnungen sowie die Experimente, die erst in den 70er und 80er Jahren [13] möglich wurden, zeigten Korrelationen zwischen den Zuständen von Teilchen, die früher einmal ein gemeinsames System gebildet hatten, unabhängig davon, wie weit die Teilchen zum späteren Zeitpunkt der Messung voneinander entfernt waren. Sie zeigten eine unvermutete hinter den Dingen liegende Ganzheit. Welche Bedeutung das für den Rest des Universums hat, wenn wir annehmen, dass der Anfang von Raum und Zeit mit dem Urknall begann, in dem alles auf undenkbar kleinem Raum komprimiert war, ist sehr schwer abzuschätzen.
Die Korrelationen zwischen den Teilchenzuständen sind nicht erklärbar mit den Konzepten Lokalität und Realismus, die bisher in der Physik galten, nämlich, dass Systeme ihre Eigenschaften unabhängig voneinander besitzen und diese Eigenschaften unabhängig von der Messung existieren. Sie erweisen sich als nicht mehr brauchbar. Das neue Konzept heißt Verschränkung, ein Begriff, der 1935 von Erwin Schrödinger geprägt wurde [14]; eine andere Bezeichnung dafür ist Nichtlokalität.
Damit die Verschränkung nicht im Widerspruch zur Speziellen Relativitätstheorie steht (Obergrenze Lichtgeschwindigkeit), muss allerdings von Korrelationen zwischen Quantenzuständen (d.h. zwischen Wahrscheinlichkeitsverteilungen) ausgegangen werden, statt von Informationsübertragung. Das ist angebracht, da Atome und Quantenobjekte keine Dinge mehr sind, sondern beobachtbare Phänomene in einer Welt von Wahrscheinlichkeiten; mit Heisenberg ausgedrückt, existieren sie „zwischen der Idee von einem Ding und einem wirklichen Ding“ [15].
Es gibt immer noch ungeklärte wichtige Punkte: Die Wellenfunktion beschreibt die Gesamtheit der möglichen Zustände eines Systems. Im Moment der Messung kollabiert die Wellenfunktion und aus der Vielfalt aller möglichen Zustände realisiert sich ein spezieller Zustand. Wie?
Obwohl die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik bereits vor mehr als 80 Jahren formuliert wurde, ist über vieles noch immer nicht das letzte Wort gesprochen. Nach meiner Ansicht liegt die Hauptursache der vielen Unklarheiten bei der Suche nach den fundamentalen Prinzipien des Kosmos in der niedrigen Dimensionalität unseres Alltagsbewusstseins: Wir finden uns in nur drei Raumdimensionen und einer Zeitdimension zurecht; jedoch brauchen die Fachleute der Stringtheorie (Teilbereich der Elementarteilchenphysik) [16] bereits 10 Raumdimensionen und die Zeitdimension, um zu widerspruchsfreien Ergebnissen bezüglich der Vereinheitlichung der physikalischen Grundkräfte zu kommen.
Wenn wir jedoch annehmen, dass unsere dreidimensionale Welt nur eine Projektion einer höher dimensionalen Realität ist, dann können Beobachtungen, die uns irritieren, da sie keinerlei Verbindung miteinander zu haben scheinen (wie das Auftreten von Elementarteilchen oder Licht mal als Teilchen und mal als Welle), sich nun eventuell als zu demselben Phänomen gehörig herausstellen. Dieses ist in Abbildung 3 dargestellt, in der ein Kreis und ein Rechteck in der zweidimensionalen Ebene offenbar nichts miteinander zu tun haben. Wenn wir sie aber als Projektionen einer dreidimensionalen Realität erkennen, verstehen wir plötzlich, dass sie nur entstehen, weil das gleiche Objekt von verschiedenen Seiten angeschaut wurde. Beide repräsentieren denselben Gegenstand, einen Zylinder; der Kreis zeigt die Aufsicht, das Rechteck die Seitenansicht.
Wenn wir diese Gedanken auf atomare Verhältnisse übertragen, könnte der Welle-Teilchen-Dualismus auf den Begrenzungen unserer dreidimensionalen Welt beruhen. Welle und Teilchen könnten schlicht verschiedene Projektionen des gleichen höher dimensionalen Phänomens sein, das wir leider mit unserem Alltagsbewusstsein und unseren Messgeräten nicht wahrnehmen können.
Zusammenführung
„Alle Menschen haben aufgrund ihrer Natur eine Sehnsucht nach Wissen“ [17], sagt Aristoteles (4. Jh. v.Chr.). „Und nach Sinn“, möchte ich hinzufügen, denn das war für mich die treibende Kraft für diese Reise durch die Beschaffenheit der Wirklichkeit. Die Frage nach dem Sinn ist nicht Thema der Naturwissenschaften, aber den Menschen zeichnet es aus, dass er sich als einziges Lebewesen diese Frage stellen kann. In der Mystik wird sie beantwortet, aber sie lässt sich nur symbolisch in Bildern und Gleichnissen mitteilen.
In der Quantenphysik beschreibt man die Phänomene über mathematische Größen in einem abstrakten Raum, durch Operatoren und Erwartungswerte; auch wenn man das klar verstanden hat, sind Wahrscheinlichkeitswellen keine realen Wellen. Und es stellt sich die Frage, was es eigentlich ist, das man jetzt verstanden hat…
Man kann sagen, dass das Phänomen der Verschränkung (also die überraschende Beziehung zwischen Quantensystemen, die einmal verbunden waren) uns direkt zum Nachweis der zugrundeliegenden Einheit in der Natur führt. In einen Bereich also, von dem die Mystiker und Daoisten schon seit langem wissen. Verschränkung zeigt viele Besonderheiten, die uns bei der Beschreibung von Dao/Einheit schon begegnet sind. Es gibt also Parallelen in diesen Bereichen.
Zurück zur Ausgangsthese. Zur Erkenntnis der Zusammenhänge im Universum ist es m.E. sinnvoll, die Einheit von Naturwissenschaft und Mystik herzustellen (s. Abb. 2) und ihre Erfahrungen zu verbinden. Nichtlokalität ist ein Phänomen jenseits von Raum und Zeit; das gilt auch für die innere Erfahrung der Mystik.
In den drei untersuchten Bereichen Qigong, Mystik und Quantenphysik begegnet uns das gleiche Hauptthema mit verschiedenen Bezeichnungen: Dao, Einheit, Verschränkung. Im Qigong praktizieren wir die Annäherung an die Vollständigkeit in den Wandlungen von Yin und Yang im Öffnen und Schließen. Wir kehren zum Dao zurück durch die Verbindung der komplementären Phasen in jeder Übung. Bei den Mystikern begegnet uns die Ganzheit in der Erfahrung der universellen Einheit, die hinter der Dualität der Welt steht, also in der transpersonalen Erfahrung. In der Naturwissenschaft ist es die Verschränkung oder Nichtlokalität, die eine völlig unerwartete Einheit zwischen Subjekt und Objekt der Messung bzw. zwischen früher einmal verbundenen Teilen eines Systems aufdeckt. Es scheint so, als würde die Verschränkung uns im Messbaren endlich das zeigen, dessen sich Mystiker als einer höheren Wirklichkeit seit jeher bewusst sind. Heisenberg war der Ansicht, dass man jederzeit mit der „zentralen Ordnung der Dinge“ in Beziehung treten kann [18]. Die Wellenfunktion fungiert dabei als Brücke zwischen den Dingen und dem Dao. Sie beschreibt die Summe aller möglichen Zustände.
Das Ziel, nach dem wir heute suchen, ist „die Synthese von rationalem Verstehen und mystischer Einheitserfahrung“ [19]. Auch Heisenberg hält das für unsere fundamentale Sehnsucht. Beide, rationales Verständnis und mystische Erfahrung, sind nach diesen Ausführungen wohl doch nicht nur als Gegensätze anzusehen, sondern eher als Komplemente, als verschiedene Wege der Erkenntnis. Zusammen erlauben sie ein Verständnis der Wirklichkeit nicht nur mit dem Kopf, sondern auch „mit dem Herzen“ [18]; das gibt uns ein ganzheitliches Verständnis. Anders ausgedrückt, lernen wir nicht nur, wie die Dinge funktionieren, sondern erkennen auch den Sinnzusammenhang.
In früheren Zeiten waren die Wertesphären Ethik, Wissenschaft und Kunst nicht getrennt. Das hatte den großen Nachteil, dass die Religion der Wissenschaft sowie der Kunst Vorschriften machte (z.B. bei Galilei im 17. Jh.). Eine Differenzierung beziehungsweise Aufspaltung der Wertesphären war also wünschenswert. Inzwischen kann man schon fast eine Tendenz zur Abspaltung der Wertesphären voneinander beobachten, so dass ein Scientismus entsteht, der manche glauben lässt, dass es außerhalb der Wissenschaft keine Wirklichkeit mehr gäbe und innere Dimensionen leugnet bzw. auf äußere reduziert. Diese Entwicklung geht über das Ziel hinaus und hinterlässt eine Welt ohne Sinn. Dabei kann die empirische Methode, die die Grundlage der Wissenschaft bildet, auch auf innere Erfahrungen angewendet werden, wie Wilber es beschreibt [20]. Sie liefert uns ein Kriterium dafür, ob eine bestimmte innere Erfahrung einen Erkenntnisgehalt darstellt. Voraussetzung ist, dass die Übungspraxis im Geisteszustand von Klarheit, Wachheit und Präsenz durchgeführt wird. Dieser Zustand ist eine wichtige Anforderung sowohl beim Qigong-Üben wie auch in der Meditation/ Kontemplation. Unter dieser Voraussetzung gibt es keinen Grund, warum wir die innere Erfahrung bei der Gewinnung von Erkenntnissen aussparen und uns bei der Suche danach allein auf den Verstand beschränken sollten.
Wir gehen davon aus, dass die Welt in verstehbarer Weise geordnet ist, dass es innen und außen die gleichen Strukturen gibt und das zu Recht [18]. Immer mehr Phänomene, die man früher für getrennt hielt, erweisen sich inzwischen als zusammengehörig: Schwerkraft im Kosmos und auf der Erde; Elektrizität und Magnetismus; Raum und Zeit. Gegenwärtig sucht man nach der Vereinheitlichung der vier fundamentalen physikalischen Wechselwirkungen (Gravitation, Elektromagnetismus, Starke und Schwache Kernkraft) und kommt ihr z.B. mit der Stringtheorie immer näher. Vielleicht gelingt eines Tages auch die Versöhnung von Wissenschaft und Mystik.
Das Phänomen der Verschränkung offenbart uns Aspekte des transzendenten Teils der Wirklichkeit, „das Eine in allem Vielen“, wie es in der Einleitung zum Yijing (bei R. Wilhelm) heißt. Qigong-Übungen sind für mich die kleinste Form dieser Einheit, deshalb habe ich dafür die Bezeichnung das Quantum vom Dao gewählt – da schon eine einzelne Übung die Polaritäten überwinden und verbinden kann. Wir praktizieren beim Qigong das Wiedererlangen des Dao, Übung für Übung; im Einheitserlebnis der Mystik erfahren wir das Dao, und durch die heutige Experimentiertechnik wird das Dao in der Quantenphysik als Verschränkung sogar messbar und gestaltet unsere moderne Welt. Zahlreiche neue Entwicklungen haben ihren Ausgangspunkt in der Quantenphysik.
Auf die Eingangsfrage, ob Qigong und Moderne Physik eine Beziehung bzw. eine gemeinsame Grundlage haben, ist die Antwort also positiv, auch wenn sie etwas genaueres Hinschauen erfordert und gelegentlich wieder neu herausgearbeitet werden muss [21], wie bei dem Holzbild, das Meister Eckhart (13./14. Jh.) erwähnt: „Wenn ein Meister ein Bild macht, so trägt er das Bild nicht in das Holz hinein, sondern schnitzt die Späne ab, die das Bild verborgen [] halten“ [22].
Wer sich noch eingehender mit dem Thema befassen möchte, dem sei mein neues Buch Qigong meets Quantenphysik [23]empfohlen.
Fazit
Obwohl wir in verschiedenen Erkenntnisbereichen andere Namen dafür haben, spiegelt sich doch stets das gleiche Prinzip in deren Phänomenen: wir nennen es Vollständigkeit/Dao im Qigong, Verschränkung/Nichtlokalität in der Quantenphysik und Einheitserlebnis/transpersonale Erfahrung in der Mystik.
Erstveröffentlichung in der Zeitschrift für Akkupunktur (DZA) im Heft 4/2010
Sehen sie hier ein Videonterview über das Thema. Am Ende zeigt Dr. Imke Bock-Möbius praktische Übungen zum Thema.
Kurzvita:
Dr. rer.nat. Imke Bock-Möbius studierte Physik in Braunschweig, Heidelberg und Grenoble. Nach ihrer Promotion und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung in Heidelberg verbrachte sie sechs Monate in Beijing/China (Academia Sinica und Akupunkturausbildungszentrum Dongzhimennei). Anschließend Grundstudium Chinesisch und Philosophie. Seit 1989 ist sie als Dozentin in der Erwachsenenbildung tätig; seit 2002 arbeitet sie regelmäßig auch mit Schülern. Lehrerin und Mitglied der Deutschen Qigong Gesellschaft. Grund- und Weiterbildungszertifikate der Medizinischen Gesellschaft für Qigong Yangsheng. Außerdem ist sie ausgebildet in Shiatsu (GSD) und Energiearbeit.
Literatur:
1) Pohl K-H. Symbolik und Ästhetik der chinesischen Bambusmalerei. Zeitschrift für Qigong Yangsheng 2007: 32-47
2) Ommerborn W. Der Neo-Konfuzianismus der Song-Zeit. Zeitschrift für Qigong Yangsheng 2004: 68-79
3) Jiao G. Qigong Yangsheng – Ein Lehrgedicht. Uelzen: Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, 1993
4) Bock-Möbius I. Qigong – Meditation in Bewegung. Heidelberg: Haug, 1993
5) Reuther I. Qigong Yangsheng in der Behandlung von Asthma. Zeitschrift für Qigong Yangsheng 1996: 44-50
6) Friedrichs E. Qigong-Yangsheng-Übungen in der Begleitbehandlung bei Migräne und Spannungskopfschmerz. Zeitschrift für Qigong Yangsheng 2003: 101-112
7) Jäger W. Die Welle ist das Meer. Freiburg: Herder, 2000 (15. Aufl.)
8) Wilber K. Halbzeit der Evolution. Frankfurt a.M.: Fischer, 2004 (7. Aufl.)
9) Jäger W. Wiederkehr der Mystik. Freiburg: Herder, 2005 (5. Aufl.)
10) Feynman RP, Leighton RB, Sands M. Feynman Vorlesungen über Physik, Bd III: Quantenmechanik. München, Wien: Oldenbourg, 1999 (4. Aufl.)
11) Capra F. Das Tao der Physik. Die Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie. Bern, München, Wien: Scherz, 1988.
12) Einstein A. Can quantum-mechanical description of physical reality be considered complete?Physical Review 1935; 47: 777-80
13) Aspect A, Grangier P, Roger G. Experimental realization of Einstein-Podolsky-Rosen-Bohm Gedankenexperiment: A new violation of Bell’s inequalities. Physical Review Letters 1982; 49: 91-94
14) Schrödinger E. Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik (II). Die Naturwissenschaften 1935; 23: 823-28
15) Heisenberg W. Physik und Philosophie. Stuttgart: Hirzel, 2007 (7. Aufl.)
16) Greene B. Das elegante Universum. Berlin: Siedler, 2000
17) (Zitiert in) Schäfer L. Versteckte Wirklichkeit. Wie uns die Quantenphysik zur Transzendenz führt. Stuttgart: Hirzel, 2004
18) Heisenberg W. Der Teil und das Ganze. München: Piper, 1969
19) (Heisenberg in) Ricard M, Thuan TX. Quantum und Lotus. Vom Urknall zur Erleuchtung. München: Goldmann, 2008
20) Wilber K. Naturwissenschaft und Religion. Die Versöhnung von Weisheit und Wissen. Frankfurt a.M.: Krüger, 1998
21) Bock-Möbius I. : Qigong oder das Quantum der Einheit. Wie Qigong Quantenphysik und Mystik versöhnt. Zeitschrift für Qigong Yangsheng 2009: 66-70
22) Quint J (Hrsg.). Meister Eckehart - Deutsche Predigten und Traktate. Hamburg: Nikol, 2007 (7. Aufl.)
23) Bock-Möbius I. Qigong meets Quantenphysik. Das Prinzip Einheit erleben. Oberstdorf: Windpferd, 2010