Das Stundenzählen in Taijiquan-Ausbildungen

Tai Chi ist „Schwimmen in der Luft“

Über den Sinn und Unsinn des Stundenzählens in
Taijiquan-Ausbildungen oder „Schein-Können“

Taijiquan Form

Im Taijiquan (Tai Chi Chuan) gibt es bekanntlich äußere und innere Aspekte. Eine Reduzierung auf das eine oder das andere könnte diese Kunst nicht adäquat beschreiben. Innere Fertigkeiten lassen sich nicht auf äußere Aspekte zurückführen und damit auch nicht mit Messmethoden für äußere Aspekte erfassen.
Rein formal kann man natürlich das Äußere, das was Naturwissenschaften und Mathematik messen und zählen können, separat betrachten. Wenn man diesen Weg beschreitet, muss man an dieser Stelle anerkennen, dass in diesem Augenblick das Innere, das sich nicht auf das Äußere reduzieren lässt und damit nicht objektiv von außen messbar ist, aus den weiteren Betrachtungen herausfällt, also nicht mehr vorkommt.
Deshalb ist eine Qualitätssicherung, die sich nur auf äußerlich messbare Quantitäten bezieht unvollständig. Das heißt nicht, dass sie keine Aussagekraft hätte, aber eben nur für den Bereich, für den diese Messmethoden funktionieren, also den äußeren Teilbereich. Erhebt ein solcher Ansatz dann den Anspruch, Qualität im Taijiquan umfassend beurteilen zu können, opfert er alle innere Tiefe für die äußere Flachheit.
Das ist dann in etwa das, was man bei Form-Wettbewerben sehen kann, wenn lediglich schöne Choreographien ohne erkennbares inneres Verständnis vorgeführt werden. Es sieht irgendwie nicht schlecht aus, aber man spürt manchmal eine innere Leere beim Zuschauen. Dies ist dann zwar trotzdem ein wichtiger Bestandteil des Taijiquan, aber eben nur eine Seite der Medaille.
Aus diesen Gründen ist das, was Prüfkataloge, Schreibtisch-Prüfkommissionen,  quantitative Unterrichtsnachweise und formale Berufsausbildungen beschreiben und bescheinigen können, alleine einem, nämlich dem äußeren Anteil zuzuordnen.
Wenn wir uns im Folgenden dessen bewusst sind und die Ausbildungsstunden zählen, uns also nur auf diesen äußerlich messbaren Bereich beschränken, können wir schnell erkennen, dass die Stunden-Vorgaben der meisten Ausbildungsgänge keine Qualität garantieren können: Denn es ist bekannt, dass man 1.000 bis 5.000 Wiederholungen einer Bewegung benötigt, damit sich im Gehirn entsprechende neuronale Netze ausbilden können, in denen die Bewegungsabläufe dann fest verankert sind. Erst dann kann man davon sprechen, dass ein Bewegungsablauf „verinnerlicht“ ist.

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Jeder Musikstudent muss über viele Jahre täglich mehrere Stunden auf seinem Instrument üben, damit er es dann nach 6 bis 10 Jahren einigermaßen beherrscht. Alles in allem dürften so mindestens 10.000 Stunden zusammenkommen.
Wenn wir alle Bewegungsabläufe, die in einer Taijiquan-Ausbildung (Formen, Fixed Patterns, Übungen etc.) vermittelt werden, einmal durchlaufen wollen, sind wir wahrscheinlich mindestens 3 Stunden am Stück beschäftigt. Wiederholen wir diese Bewegungen nun „nur“ zweitausendmal, benötigten wir also bereits 6.000 Stunden.
Realistischer Weise sollte man davon ausgehen, dass man auch hier 10.000 Übungsstunden benötigt, bevor man diese Kunst so einigermaßen in den Grundzügen beherrscht. Damit sind noch keinerlei Meisterstufen erreicht – das dürfte, wenn überhaupt erreichbar, mindestens zusätzliche 30.000 bis 50.000 Stunden erfordern.
Wenn man nun nach 250 Stunden einen Kursleiter-„Schein“ erhält oder nach 500 Stunden einen Lehrer-„Schein“, so sollte man sich darüber im Klaren sein, dass damit ein reines „Schein“-Können attestiert wird. In diesen Ausbildungsstunden können lediglich das theoretische Wissen vermittelt und die äußeren Bewegungs¬abläufe mehrere Male demonstriert und korrigiert werden.
Der Gedanke, dass die in „Scheinen“ attestierten Inhalte auch tatsächlich beherrscht werden, erinnert mich an die Begegnung von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer mit dem „Scheinriesen“ Herrn Tur Tur: Von weitem wirkt er unheimlich groß und mächtig, je näher man aber kommt, desto kleiner wird er und schrumpft im direkten Kontakt regelrecht zusammen.
Der wichtigste Punkt ist, die Auszubildenden so zu motivieren, dass sie nach Abschluss der Ausbildung wöchentlich mehrere Stunden üben, sich weiterbilden und beginnen zu unterrichten. Gerade durch das Unterrichten lernt man schnell und viel dazu. Die Vorstellung, dass ein Lehrer nach seinem absolvierten Taijiquan-Ausbildungsgang „fertig“ ist und zukünftig nur noch als Lehrender auftritt, ist völlig abwegig. Im Taijiquan ist man ein Leben lang Schüler und vielleicht ein halbes Leben lang gleichzeitig auch Lehrer.
Vor diesem Hintergrund sollte die Albernheit einer Diskussion darüber, ob nun 250 oder 300 Unterrichtseinheiten oder Zeitstunden das rechte Maß für die Qualitätssicherung eines Taijiquan-Kursleiters darstellen, klar ersichtlich sein. Diese marginalen Deltas sind völlig unerheblich und haben quasi keinen Einfluss auf die Fähigkeiten im Taijiquan und im Unterrichten nach Absolvierung dieser 250 Unterrichteinheiten á 45 Minuten oder 250 Zeitstunden oder 300 Unterrichteinheiten á 45 Minuten oder 300 Zeitstunden.
Einen weiteren Aspekt möchte ich noch einbringen: Alle, die Kinder haben, kennen den häuslichen Ärger über „schlechte“ Schullehrer und die Freude über „gute“ Schullehrer. Paradoxerweise haben aber beide Spezies teilweise exakt die gleiche Ausbildung durchlaufen und besitzen die gleichen „Scheine“, Examen und Weiterbildungen. Ein guter Pädagoge unterscheidet sich von einem schlechten Pädagogen nicht in Art, Inhalt und Umfang seiner Ausbildung. Dies sollte uns nicht nur zu denken geben, wir sollten daraus den Schluss ziehen, die offensichtlich falschen Maßstäbe für Qualität nicht auch im Bereich des Taijiquan anzuwenden.

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Autor: Peter Wolfrum

Fotos: taiji-forum.de und Peter Wolfrum