Tai Chi Chuan ist meditative Körperarbeit auf höchstem Niveau. Beim Erlernen von Tai Chi ist mir bewusst geworden, das ich bei allen Formen von Körperarbeit, die ich vorher gelernt hatte, nur an der Oberfläche gekratzt habe. Für die Effektivität von Tai Chi und Qi Gong ist die Grundlagenarbeit, also die Bildung eines soliden „Fundamentes“ absolut entscheidend. Dieses Fundament ist die korrekte Körperstruktur, die durch die genaue Ausrichtung der Gelenke gebildet wird. Nur so kann man den Körper als eine Einheit, vom Geist geführt bewegen. Der menschliche Körper ist ein ungemein komplexes System, ein Dickicht von Elementen, in dem man sich leicht verlaufen kann. Um ihn zu verstehen, braucht man eine Art Schema als Orientierungshilfe. Zunächst ist der Körper in drei Bereiche und neun Teile einzuteilen. Diese Einteilung ist ein Leitfaden der einen von der Grundlagenarbeit bis in die höchsten Stufen des Tai Chi begleitet und unterstützt. Wann immer sich irgendetwas nicht in die richtige Richtung entwickelt oder sich einfach nicht gut anfühlt, liegt die Ursache dafür sehr wahrscheinlich in einem dieser 3 Bereiche.
Bereich 1: Die Wirbelsäule
Dieser Bereich setzt sich zusammen aus dem Atlas (oberster Teil der Wirbelsäule, Verbindungsstelle mit dem Kopf), der Brust/Taille und dem Kreuzbein. Diese drei Teile bilden den mittleren Energiekreis, der direkt mit der Atmung verbunden ist. Es ist der fundamentalste Bereich ohne dessen Aktivierung eine korrekte Atmung entlang der Wirbelsäule nicht möglich ist. Die Wirbelsäule beherbergt das zentrale Nervensystem. Um sich bewusst und kontrolliert zu bewegen, muss dieser „Informationsweg“ offen sein. Erreicht wird dies durch Aktivierung, konkret durch eine Streckung der Wirbelsäule. Mann schiebt den Atlas nach oben (= die Krone heben) und das Kreuzbein nach unten. Dies aktiviert nicht nur das zentrale Nervensystem, sondern entlastet gleichzeitig auch die Bandscheiben und regt die Zirkulation der Rückenmarksflüssigkeit an. Auch das Stammhirn (welches u. a. die Atmung reguliert!) wird dadurch angeregt und dessen Aktivität verstärkt. Die Gegenbewegung von Atlas und Kreuzbein sollte während dem Üben immer aufrecht erhalten bleiben, nur die Intensität der beiden entgegengesetzten Kräfte verändert sich rhythmisch mit der Atmung. Die Streckung der Wirbelsäule auf diese Art sollte man auch deshalb gesondert üben, weil dadurch das Gefühl für die korrekte, aufrechte Haltung verinnerlicht wird. Diese kleine feinmotorische Übung ist von unschätzbaren Wert für die Erhaltung der Gesundheit der Wirbelsäule: Sie verhindert es nämlich auf eine äußerst effektive Art und Weise, dass die Bandscheiben dünner werden. Um die erwünschte Streckung der Wirbelsäule korrekt auszuführen, ist es empfehlenswert, sich einem qualifizierten Lehrer anzuvertrauen.
Bereich 2: Die Arme
Der zweite Bereich besteht aus den folgenden drei Teilen: Den Schultern, den Ellenbogen und den Handgelenken. Zusammen bilden sie den oberen Energiekreis. Die Schultern und die Ellbögen sollten immer entspannt bleiben, gleichgültig welche Bewegung gerade ausgeführt wird. Hebt man die Schulter nur ein wenig an, entsteht unweigerlich Spannung und der Energiefluss ist stark vermindert oder gar ganz unterbrochen. Die Ellbögen dürfen daher niemals ganz durchgestreckt werden, denn dies verursacht unweigerlich ein Anheben der Schultern. Auch das Handgelenk muss an jeder Bewegung teilhaben, denn nur dann ist der Energiekreislauf geschlossen und die Bewegung natürlich.
Bereich 3: Die Beine
Die Hüftgelenke, die Knie und die Sprunggelenke bilden den unteren Energiekreis (also den dritten Bereich). Die Beine sind das Fundament jeder Tai Chi und Qi Gong Form, sie sind die Verbindung zur Erde. Um Energie zu generieren, muss dieser Energiekreis offen sein. Nur dann kann man die Kraft aus dem Boden durch den mittleren Bereich in den oberen Energiekreis leiten. Dies erreicht man durch eine „Rotation“ in Hüft- und Sprunggelenk, das Gewicht verlagert sich dabei auf den Fußsohlen. Das Ziel ist ein geerdeter, stabiler Stand und eine gute Balance. Wichtig dabei ist, dass die Rotation ausschließlich im Hüft- und Sprunggelenk stattfindet und das das Knie nicht nach innen oder außen „ausbricht“. Gerade bei Drehbewegungen kann das sehr leicht passieren. Hüftgelenk, Knie und Sprunggelenk müssen immer in einer aufeinander abgestimmten Kraftlinie ausgerichtet sein.
Die Arbeit lohnt sich!
Eine gründliche Auseinandersetzung mit den drei Bereichen und neun Teilen ist ein ausgezeichneter Weg Klarheit in die Bewegungen zu bringen und eine solide Struktur zu schaffen. Je klarer die Wahrnehmung dieser Elemente ist, desto effektiver und effizienter wird das Training. Mit dieser Einteilung verfügt man gleichsam über eine Checkliste, die man zu Beginn jeder Form und immer wieder während dem Üben durchgehen sollte. Da es ist nicht immer möglich ist, an alle Dinge gleichzeitig zu denken – die Kapazität des Bewusstseins ist limitiert –, sollte man sich die Bereiche und Teile bewusst in Erinnerung rufen. Durch ständiges Erinnern und Wiederholen werden die Abläufe zu einer positiven Gewohnheit und zunehmend automatisiert. Um die Ausrichtung der Gelenke zu verfeinern und zu perfektionieren, bietet es sich an, sich beim Durchlaufen der Form auf einen der neun Teile gezielt zu fokussieren. Man übt die Form und versucht etwa sich verstärkt auf die korrekte Haltung des Kopfes zu konzentrieren. Auf die anderen Teile sollte dabei allerdings nicht vollkommen vergessen werden. Es folgt ein Durchlauf mit dem Schwerpunkt Kreuzbein. Im dritten Durchlauf richtet man sein Augenmerk dann auf die Schultern und die Ellbögen. Mit der Zeit erkennt man das Zusammenspiel der einzelnen Teile sehr klar und es wird deutlich spürbar, wie zum Beispiel das Heben der Krone mehr Raum zum Sinken der Schultern oder auch zum Sinken des Kreuzbeines schafft. Man erkennt, wie dieses rhythmische Ausdehnen und Zusammenziehen der Wirbelsäule mit der Atmung korrespondiert. Die Arbeit mit den drei Bereichen und neun Teilen lohnt sich und verbessert die Qualität der Tai Chi und Qi Gong Praxis, unabhängig davon, welchen Stil man erlernen möchte.
Autor: Markus Tanzer
Fotos: Markus Tanzer