„Zu leben heißt zu kämpfen“
Lucuis Annaeus Seneca, Röm. Dichter und Philosoph (um 4 v. Chr bis 65 n. Chr.)Der Kampf ist wohl eine der durchgängigsten Daseinsformen des Menschen
Ob in bewussten verbalen oder nonverbalen Auseinandersetzungen oder in unbewusst ablaufenden Daseinskämpfen, wie wir sie in Form von bewertenden Vergleichen und dem ständigen vergeblichen Streben nach Perfektion sowie dem damit verbundenen Energieaufwand ausleben, immer sind wir irgendwie am Kämpfen.
Da wundert es nicht, dass unendlich viele Gedanken sich um Sinn und Unsinn des ständigen Kämpfens drehen.
Auch wenn die Ergebnisse des ständigen Kampfes in vielen Fällen sehr schmerzlich sind, kommen wir nicht umhin anzuerkennen, dass gerade der Kampf ein funktionierendes Werkzeug der Evolution ist. Ohne Kampf wären wir nicht die, die wir sind. Eine Weiterentwicklung im Sinn der Menschwerdung war nur auf der Basis des Kampfes möglich.
Auch wenn wir anerkennen müssen, dass die Frage nach dem Sinn des Kampfes letztendlich verwoben sein muss mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und damit den Rahmen dieses Buches bei weitem übersteigt, müssen wir doch zumindest die Bestandteile des Kampfes betrachten, die mit dem körperlichen Kämpfen im Zusammenhang stehen.
Wie bereits erwähnt, diente der Kampf ursprünglich der Gesunderhaltung der Art, dem puren Überleben oder der Verteidigung bzw. der Erweiterung des Besitzes.
Erst später bildete sich eine regelrechte Kampfkultur. „Regelrecht“ bzw. „Regeln gerecht“ bedeutet, es wurden dem jeweiligen Kampf Gesetze zugeordnet, die es einzuhalten galt. Bei Nichteinhaltung drohten Strafen.
Alle unsere sportlichen Vergleiche, oft auch andere Formen des Gegeneinanders, sind im deutschen Sprachgebrauch nach dieser ersten Form des geregelten Kampfes benannt.
Wir machen „Wettkämpfe“, wir kämpfen um die Wette.
Also: Gruppen von Zuschauern oder Einzelpersonen bekennen sich zu dem einen oder dem anderen Kämpfer und darum wetten sie auf ihn.
Ein sehr altes System organisierter Wett-Kämpfe bildeten die Gladiatorenkämpfe im alten Rom. An diesen Kämpfen nahmen wesentlich mehr professionelle Kämpfer freiwillig teil als gemeinhin bekannt ist. Der arme, zum Kampf auf Leben und Tod gezwungene Kriegsgefangene und Sklave war dabei willkommene Bereicherung des Spektakels, aber nicht grundsätzlich einziger Teilnehmer.
Natürlich gab es auch in anderen Kulturen Wettkämpfe, aber gerade das griechische und das römische Altertum verfügten über eine so hoch entwickelte Kultur, dass genügend Zeitzeugnisse vorhanden sind, um sich ein relativ umfassendes Bild zu verschaffen.
Nach und nach entstanden rund um den Erdball eigenständige Kampfkulturen.
Um in einem derartigen System zu bestehen und nicht nur verhältnismäßig gesund, sondern auch erfolgreich zu überleben, bedarf es einer ausgesprochen überdurchschnittlichen Selbstdisziplin.
Eine Folge dieser Selbstdisziplin war auch ein verändertes Verhalten im Alltag.
Wir wollen dazu eine Betrachtung für das Territorium unseres eigenen Sprachgebietes, also den deutschsprachigen Raum, anstellen. Dieses Sprachgebiet wurde in den letzten 2000 Jahren immer mehr von christlichem Gedankengut und Moralvorstellungen geprägt.
Stellen wir uns einen Ritter des deutschen Mittelalters vor. Nennen wir ihn Edelbert zu Schreckenstein. Sein Verhalten sollte möglichst tugendhaft sein.
Treffender wäre es zu formulieren: Wenn er erfolgreich im Turnier-Kampf oder auf dem Schlachtfeld bestehen wollte, blieb ihm gar nichts anderes übrig als tugendhaft zu sein. Warum?
Für unseren Edelbert war es eine geradezu tödliche Gefahr, den Gegner, wie unscheinbar er auch zu sein schien, zu unterschätzen. Der wahre Ritter muss zum Erreichen des Sieges jede Form von Hochmut vermeiden.
Wollte Edelbert den Sieg im Kampf erringen, bedurfte es seiner korrekten Einschätzung des Momentes. Ablenkende Gedanken durfte er nicht zulassen. Ein sehr mächtiges Instrument der Ablenkung ist der Wunsch, mehr zu sein und mehr zu haben als andere. Der ständige Vergleich der eigenen Möglichkeiten mit den Möglichkeiten anderer hätte ihn blind gemacht für das tatsächlich eigene Vermögen, das er nur durch Selbstbetrachtung einschätzen konnte. Vergleiche nach außen, verbunden mit dem Wahn, stets weniger zu haben und zu bekommen als etwaige Konkurrenten, hätten ihn blind vor Neid gemacht.
Da stand er nun, unser Edelbert, und langsam machte der Gegner ihn zornig. Er provozierte und beleidigte ihn, denn: Ein weiteres Werkzeug des Feindes ist der Zorn. Zorn und Wut machen das Handeln unachtsam und unflexibel. Unflexibel zu sein bedeutet, über das Agieren im Kampf nicht frei entscheiden zu können. Edelbert zu Schreckenstein wurde zur Marionette seines Zornes, deren Fäden der Gegner in den Händen hielt.
Ein entstehungsgeschichtlich bedingtes Erbgut ist der Wunsch nach Fortpflanzung. Sexuelles Verlangen und die Erfüllung dieses Verlangens sind fundamentale Bestandteile unsres Lebens. Auch Edelbert sehnte sich nach dieser Bereicherung seines Daseins. Doch auch die maßlose Variante dieses Wunsches, als Bestätigung seiner Männlichkeit, war ihm nicht fremd. Doch bald musste er feststellen, dass übermäßige sexuelle Aktivitäten nicht nur eine Minderung der Kraft seiner Lenden mit sich brachten, sondern auch einen unangenehmen Verfall seines allgemeinen Wohlbefindens, seiner Wachheit und somit seines Durchhaltevermögens im Kampf. Der ständige Energieabbau im Bett führte zu einem Energiedefizit im Feld. Problem: Wollust!
Ein weiterer ständiger Energieverlust entstand ihm durch übermäßiges Essen und die damit verbundene längere Verdauung. Ganz abgesehen davon, dass das mit der ständigen Völlerei verbundene Übergewicht die Rüstung eng und die Knie weich machte.
Trägheit konnte er sich nicht erlauben. Ein Nachlassen im Training bedeutete das Ende seines Erfolges. Er wusste: Wer aufhört zu schwimmen, treibt zurück!
Genau so wenig konnte Edelbert zu Schreckenstein sich Geiz erlauben. Geiz macht einseitig materiell orientiert. Daraus folgt der Verlust einer ideellen Orientierung. Der Verlust des Ideals birgt auch immer den Verlust des rechten Glaubens in sich. Edelbert wäre käuflich geworden und damit berechenbar.
Hochmut, Neid, Zorn, Wollust, Völlerei, Trägheit und Geiz jedoch sind die „sieben Todsünden“.
Daraus können wir ableiten, dass allein ein korrektes Verhalten im Sinne kämpferischer Erfolge aus Edelbert einen gottesfürchtigen, frommen Mann formte und ihn in den Augen der breiten Masse zu einem Vorbild im Sinne der heiligen Schrift machte.
Nun sind diese „Sünden“ in der ganzen Welt als verbreitete Unannehmlichkeiten im Miteinander der Menschen bekannt. Und weil sie so unangenehm sind, werden diese Eigenschaften weltweit geächtet. Das bedeutet, dass der Mönch im Shaolin-Kloster, der japanische Samurai, der afrikanische Massai, der Krieger der Sioux und der taoistische Mönch die gleichen negativen Auswüchse im rechten Maß vollkommen natürlicher Bedürfnisse zügeln, musste und heute noch muss wie unser Edelbert von Schreckenstein.
So war aus den Notwendigkeiten des Kampfes eine Lebensform entstanden, die mit ihrem Höchstmaß an Selbstdisziplin ein Niveau erreichte, das „friedlichen“ Mönchen und weisen Männern aller Nationen nur selten zugänglich war, ganz einfach, weil ein Verstoß gegen diese Gesetze für sie nicht tödlich endete.
Die Kunst, das Leben unter den Erfordernissen einer ständigen Selbsthinterfragung und einer allumfassenden Zügelung jeglicher Maßlosigkeit zu meistern, machte aus dem simplen Kämpfen eine Daseinsform.
Der Kampf wurde zum Instrument der Menschwerdung im Sinne einer demütigen Suche nach einem Weg aus dem triebgesteuerten Tierreich.
Diese Suche nach dem rechten Weg ist die Suche nach dem Ideal.
Dieser ideelle Ansatz macht aus dem Kampf die Kampfkunst.
Wir können also festhalten, dass das Bewährungsfeld des primitiven Kampfes der Ring, der Turnierplatz und das Schlachtfeld ist. Aus der Sicht des Kämpfers befindet es sich außerhalb von ihm!
Das Bewährungsfeld der Kampfkunst ist der Alltag mit all seinen Verlockungen und Routinen. Aus der Sicht des Kämpfers befindet es sich in ihm.
Maß der Dinge ist und bleibt jedoch die „Tätigkeit“ Kampf. Er beinhaltet die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und erfordert das innere Wachstum des Kämpfers bei Strafe durch Stagnation und Erfolglosigkeit ein.
In unserer modernen Welt bieten sich zwei Möglichkeiten des körperlichen Kämpfens:
Kampfsport und Selbstverteidigung einschließlich der daraus resultierenden Mischformen.
Kampfsport, das sportliche Austragen von Zweikämpfen, ist die Orientierung verschiedener Kampfstile wie Karate, Tae Kwon Do, Boxen, Ringen, usw, an wettkampfgerechter Ausführung des jeweiligen Stils bzw. der jeweiligen Schule.
Bei Einhaltung eines mehr oder weniger umfassenden Regelwerkes wird meist zusätzlich darauf geachtet, dass die Kämpfer über weitestgehend gleiche körperliche Voraussetzungen (Gewicht) verfügen und in ihrem kämpferischen Entwicklungsstand (Graduierung) nicht sonderlich voneinander abweichen.
Da jeder Mensch über ein gewisses Zeitgefüge verfügt und dieses unter den Bedingungen seines individuellen Daseins aufteilen muss (Familie, Beruf, Freizeit), bleibt nur eine mehr oder weniger begrenzte Zeit für das Training des Kampfsportes.
Natürlich muss diese ohnehin knappe Zeit vorrangig mit den Elementen gefüllt werden, die dem Trainingsziel, in diesem Fall also dem Wettkampf, zuträglich sind.
Es werden also vorwiegend die Techniken geschult, die regelgerecht sind. Regeln haben aber Fairness zum Ziel. Es soll zwar gekämpft werden, aber es darf keinem der Kämpfer tatsächlich Schaden an Leib und Leben geschehen, von Unfällen und im Eifer des Gefechtes versehentlich begangenen Regelverstößen einmal abgesehen.
Diese Techniken erlauben ein Training unter Halb- oder Vollkontaktbedingungen, denn obwohl der Kämpfer beim Vollkontakt seiner antrainierten Kraft freien Lauf lässt, sind die zu treffenden Körperpartien so festgelegt, dass der Getroffene zwar Schmerzen, aber keine gesundheitlichen Schäden erleidet.
Ganz anders verhält es sich beim Training der Selbstverteidigung
Hier hat der Angreifer entschieden, dass es nur eine Regel gibt, nämlich die, dass es keine Regel gibt. Der Kämpfer geht nun lediglich darauf ein.
Eine funktionierende Selbstverteidigung muss einer Vielzahl von Anforderungen entsprechen. Drei davon zeigen besonders deutlich den Unterschied zum Kampfsport.
Erstens: Eine Selbstverteidigung muss auch dann funktionieren, wenn der Angreifer mir körperlich weit überlegen ist. Wäre er ohnehin schwächer bedürfte, es keiner besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten, ihn in die Flucht zu schlagen.
Zweitens: Es darf keinen Einfluss auf die Selbstverteidigungsfähigkeit haben, mit welcher Technik oder in welchem Stil der Aggressor mich auch angreift.
Drittens: Im Gegensatz zum Wettkampf ist der Angreifer auf der Straße sich vollkommen sicher, als Sieger aus dem Kampf hervorzugehen. Wäre er das nicht, hätte er sich ein anderes Opfer gesucht. Nur in realen Selbstverteidigungssituationen gibt es eine Unterteilung in Täter und Opfer. Diese mentale Sicherheit ist ein riesiger Vorteil, den der Täter seinem Opfer voraus hat.
Eine straßentaugliche Selbstverteidigung kann man nicht unter Vollkontaktbedingungen üben.
Alle Angriffe zielen auf verletzliche Körperregionen. Sie verletzten den Hals, die Augen, den Genitalbereich, eben alles, was im Wettkampf verboten ist. Außerdem ist Selbstverteidigung nicht sonderlich zuschauerfreundlich. Alle Handlungen sind darauf angelegt zu einer schnellen Beendigung der feindlichen Übergriffe zu führen. Jede verlorene Sekunde ist eine gewonnene Sekunde für den Angreifer. Darum sind alle Aktionen auf Rationalität ausgerichtet.
Der Übende einer Selbstverteidigungskunst wird die ihm zur Verfügung stehende Trainingszeit nutzen um diese effektiven „unfairen“ Mittel zu perfektionieren.
Sich auf Wettkämpfe vorzubereiten und diese dann zu besuchen ist aus seiner Sicht nicht nur verlorene Trainingszeit, er würde mit seinem Können auch überhaupt nichts anfangen können.
Was er kann, darf er nicht und was er darf, kann er nicht.
So haben wir mit der Unterteilung in Kampfsport und Selbstverteidigung zwei Instrumente der hohen Schule der Kampfkunst.
Laotze sagt über das Dao, dass es in seiner Größe nicht zu erfassen ist, es sich aber in seinen Erscheinungsformen „Yin“ und „Yang“ und den sich daraus ergebenden „tausend Dingen“ zeigt.
So verhält es sich auch mit der Kampfkunst:
Sie ist in ihrer gesamten Tragweite und Tiefe nicht zu begreifen, aber wir können uns ihr über ihre Erscheinungsformen „Kampfsport“ und „Selbstverteidigung“ und den sich daraus ergebenden „Mischformen“ nähern.
Wir können es drehen und wenden wie wir wollen, zum Schluss haben wir zu akzeptieren, dass das Erreichen von höheren und höchsten Niveaus im Kampf immer an entscheidende Einschnitte in unsere kulturbedingt anerzogene Genussucht und das Ausleben unserer Triebe gebunden ist.
So gesehen ist jedes Ringen um Erfolg an eine extrem strenge Disziplinierung des Selbst gebunden. Damit ist jeder Kampfsport und jede Schule der Selbstverteidigung, sollen sie ein überdurchschnittliches Können erreichen, eine Weiterentwicklung auf dem Weg zur Menschwerdung und auf dem Weg zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den entstehungsgeschichtlich notwendigen Trieben die als Bestandteil der menschlichen Überlebensstrategie zu akzeptieren sind.
Genau an dieser Hürde scheitern so viele hoffnungsvoll startende Kämpfer. Sie scheitern aber nicht daran, dass sie es nicht schaffen, die „vollkommenen Krieger“ zu werden, sondern daran, dass sie aufhören es zu versuchen.
Es ist nicht das Erreichen des Zieles, das den „vollkommenen Krieger“ ausmacht.
Es ist der ständige Kampf auf dem Weg dahin und die demütige Akzeptanz des unaufhörlichen Scheiterns.
Surftipps zum Thema „Kampfkunst, Kampfsport und Selbstverteidigung“
Tai Chi Chuan ist eine Kampfkunst
Tai Chi Kampfkunst – Zum Ursprung des Taijiquan in der Kriegskunst
Autor: Ulf Angerer
Fotos: Ulf Angerer und Taiji-Europa
Dieser Artikel ist ein Kapitel aus Ulf Angerers Buch „Tai Chi Ch’uan als effektive Selbstverteidigung“
ISBN 978-3-936149-10-4
Verlag ARAKI / Leipzig
Jahr 2014
Auflage 2 (ab 2015 = 3)