Warum das „Fühlen“ im Tai Chi Chuan „Hören“ heißt.

Von Martin Bödicker

Wann immer ich mich an den Pushhandsunterricht von Ma Jiangbao erinnere, fällt mir zuerst sein Satz ein: „Du musst gut fühlen.“ Das zu dieser Aufforderung passende Taichi-Fachwort heißt ting bzw. tingjin. In einer wörtlichen Übersetzung müsste man von „hören“ bzw. einer „hörenden jin-Kraft“ sprechen. Aber wieso nennt man das Fühlen im Tai Chi Chuan „Hören (ting)“? Hierzu finden sich in der Sekundär-Literatur viele Spekulationen, z.B. dass das Fühlen im Tai Chi Chuan die selbe passive Qualität haben müsse, wie etwa das Hören und daher spreche man nicht von fühlen, sondern von hören (Siehe dazu z.B. hier: Wissenschaftliche Grundlagen des Push Hands – Erklärung traditioneller Begriffe (Teil 1) in Magazin für Chinesische Kampfkunst Heft 6, Erscheinungsdatum 15.10.07). Diese Erklärung mag einleuchten, aber ich finde sie nicht ausreichend. Inspiriert durch die chinesische Strategemik und einen Text von Wu Gongzao (dem Onkel von Ma Jiangbao) möchte ich hier nun eine weitere mögliche Erklärung vorstellen:

In der klassischen chinesischen Strategemik finden sich viele bildhafte Fachwörter. So heißt der Angreifer z.B. Gast (ke) und der Verteidiger Gastgeber (zhu). Der Gast kommt zum Gastgeber, d.h. der Angreifer marschiert in das Territorium des Verteidigers ein. Ist der Verteidiger über die Situation des Angreifers im unklaren, wird er versuchen diese aufzuklären. Dazu wird er den Angreifer „befragen (wen)“, d.h. er wird z.B. einen kleinen Scheinangriff ausführen. Als Strategem ist dies folgendermaßen formuliert:

„Im Dunkeln einen Stein werfen, um den Weg zu erfragen/erkunden (Tou shi wen lu).“ Der Angreifer wird nun antworten und so Informationen preisgeben.

Ma Jiangbao und Martin Bodicker: Wu Stil Tai Chi Chuan
Push Hands: Ma Jiangbao und Martin Bodicker

Insgesamt kann man in der Sprache der Strategen nun folgendes Bild einer Verteidigungssituation zeichnen: Ein Gastgeber sitzt zu Hause und erwartet den Gast. Als dieser erscheint fragt er ihn nach seinem Zustand und wartet auf eine Antwort.

Dieses „Erfragen“ findet sich auch in der Taichi-Theorie. Aber das Fragen reicht hier nicht aus, man muss auch dem Anderen zuhören (ting). Dieser Zusammenhang findet sich z.B. im Text „Fragen und Antworten (Wenda)“ von Wu Gongzao:

„Ich habe Fragen, der Gegner hat Antworten. Eine Frage – eine Antwort. Dies erschafft Ruhe und Bewegung. Wenn es Ruhe und Bewegung gibt, können Voll und Leer klar unterschieden werden. Beim Pushhands verwendet man die Vorstellungskraft (yi) zum Erkunden und die jin-Kraft zum Erfragen. Während ich auf seine Antwort warte, höre (ting) ich schon sein Voll und Leer. Wenn man fragt, aber keine Antwort bekommt, kann man vordringen und zuschlagen. Wenn man aber eine Antwort bekommt, muss man sogleich die Unterschiede in Ruhe und Bewegung und die Orientierung des Vordringens und Zurückweichens hören (ting). So kann man von Anfang an sein Voll und Leer unterscheiden.“

Das „Hören (ting)“ ist also ein wesentliches Bindeglied zwischen Gast und Gastgeber, Angreifer und Verteidiger. Im Fall des Puchhands wird das „Hören“ zu einem „Fühlen“, das mir ermöglicht, die Absicht des Angreifers zu durchschauen. Um den fachlichen Kontext zu wahren sagt man aber sicherlich im Tai Chi Chuan weiterhin ting oder tingjin dazu.

Ma Jiangbao pusht Martin Bödicker in seinem Wohnzimmer
Ma Jiangbao pusht Martin Bödicker in seinem Wohnzimmer
Foto: Archiv Bödicker