Das Flow-Erleben im Tai Chi Chuan

Von Martin Bödicker

Tai Chi Chuan wird oft als Meditation in der Bewegung bezeichnet. Mit diesem Merkmal, der Gleichzeitigkeit von körperlicher Handlung und dem Erreichen eines meditativen Bewusstseinszustandes ist Tai Chi Chuan berühmt geworden.

Diese Verschmelzung von innerer Ruhe und äußerer Bewegung führt zu einem speziellen Empfinden. Man ist ganz im hier und jetzt, hochgradig konzentriert. Alle Sorgen des Alltags sind vergessen und man fühlt sich einfach gut. Der eigene Körper, die Atmung und die Wechsel der Bewegungen werden wahrgenommen, ohne dass man sich darauf konzentriert. Ein inneres Erleben dieser Art beobachtete Mihaly Csikszentmihalyi auch bei Menschen, die ganz allgemein einer künstlerische Tätigkeit nachgingen. Er benannte diesen Zustand als Flow-Erleben und versuchte ihn in nachfolgenden Untersuchen näher zu bestimmen.

Taiji_Flow (1)Erste Ergebnisse seiner Studie zeigten, dass viele Künstler auch ohne Aussicht auf Reichtum oder Berühmtheit ein beachtliches Ausmaß an Zeit und Anstrengung in ihre künstlerische Tätigkeit investierten. Keine der Belohnungen, die im normalen Arbeitsleben zur Motivation von Mitarbeitern angewendet werden (Geld, Anerkennung) spielten eine Rolle. Es lag also keine externe Motivation vor. Die künstlerische Handlung wurde um ihrer selbst willen ausgeführt. Die Motivation muss in den Merkmalen der Tätigkeit selbst zu finden sein. Man spricht deshalb von intrinsischer Motivation.

In seiner weiteren Arbeit fragte sich Mihaly Csikszentmihalyi, welches inneres Erleben ein durch intrinsische Motivation ausgelöstes Handeln hervorbringt und welche Faktoren die intrinsische Motivation beeinflussen. Dazu wurde eine Untersuchung an 200 Personen durchgeführt, die viel Zeit mit intrinisisch motivierten Aktivitäten, wie z.B. Schachspielen, Felsklettern, Tanzen, Basketball und Komponieren verbrachten. Es zeigte sich, dass viele Teilnehmer ihr Erleben als ein umfassendes Gefühl des völligen Aufgehens in der Tätigkeit, als einheitliches „Fließen“ beschrieben. Diesen Zustand bezeichnet Mihaly Csikszentmihalyi als „Flow“. Das Flow-Erleben kann durch folgende Komponenten näher beschrieben werden:

– Ich und Handlung werden als Einheit empfunden

– Die gesamte Konzentration ist auf die Handlung ausgerichtet

– Die eigenen Gedanken rücken völlig in den Hintergrund

– Verstärkte Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Umgebung

– Es stellt sich ein Gefühl der Kontrolle über die jeweilige Situation ein

In seiner weiteren Erforschung des Flow-Erlebens findet Mihaly Csikszentmihalyi folgende Bedingungen, die für das Flow-Erlebnis notwendig sind:

Passung von Fähigkeit und Anforderung (nicht zu schwer – nicht zu leicht)

Klares Ziel bzw. Aufgabenstellung

Schnelles Feedback auf das Handeln

Ich denke, auch im Tai Chi Chuan ist ein Flow-Erlebnis oft zu beobachten. Die Theorie von Mihaly Csikszentmihalyi gibt uns nun Hinweise, wie beim eigenen Üben des Tai Chi Chuan das Flow-Erleben leichter erreichen kann. Hier ein paar Vorschläge:

– Sich vor dem Üben ein klares Ziel setzen, z.B. ich versuche die Schultern zu entspannen.

– Ich wähle Bewegungen oder Formen die meinem Lernstand und meiner aktuellen körperlichen und geistigen Situation angemessen sind.

– Beim Üben einzelner Bewegungen versuche ich ein Gefühl für die Bewegungen zu finden und korrigiere sie bei Bedarf.

Neben dem Verbessern des eigenen Übens kann man aber auch das Erlernen des Tai Chi Chuan so gestalten, das ein Flow-Erlebnis erfahren werden kann.

Voraussetzungen sind hier:

– Die zu erlernenden Bewegungen sollten im Schwierigkeitsgrad zu den Fähigkeiten des Übenden passen.

– Die Korrekturtiefe des Unterrichts muss zu den Fähigkeiten des Übenden passen.

– Die Korrektur einer Bewegung muss klar und deutlich definiert sein.

– Es muss ein schnelles Feedback auf die Übung durch den Lehrer oder durch das eigene Gefühl erfolgen

Das Flow-Erlebnis in der Tai Chi-Gruppe ist sicherlich etwas ganz besonderes. Nicht umsonst stellt man so oft fest: Je langsamer man sich bewegt, desto größer ist das innere Erleben und desto schneller ist die Zeit um.

Foto: Robinson