Die Kunst des Friedens

Von Martin Schmid

Ich persönlich halte nicht sehr viel von den Fauststößen, Fußtritten, Schlägen ins Gesicht und in Akupunktur-Punkte, mit der Absicht, dem Gegner ernsthaft inneren Schaden zuzuführen.

Das ist eine gefährliche Aussage, weil die meisten mir einstimmig zustimmen und rufen: «Ich auch nicht! Ich auch nicht!» Womit wir uns alle als ganz Friedliebende geoutet hätten, und alles in Harmonie ist…

Tai_Chi_Kampfkunst (1)«Bis einer kommt, der deiner Frau und deinen Kindern etwas antut. Dann wünscht du, du könntest sie durch einen Angriff verteidigen», sagte der große, kräftige Schwarze. Er war mehr als zwei Meter groß, ein Muskelpaket, sicher vierzig, fünfzig, sechzig Kilo schwerer als ich. Ich kam mir neben ihm vor wie ein Kind im Vorschulalter, so ungefähr war unser Größenverhältnis.

Er war in dieselbe Taiji-Schule in Kalifornien gekommen, in der ich mich auch gerade für sechs Monate aufhielt. Irgendwo in einem anderen Teil Amerikas betrieb er eine Schule für Taiji und Kung Fu.

«Dann bist du froh, wenn du Kung Fu kennst und den Typen verprügeln kannst». Sagte er.

Es war eine herrliche Erfahrung, mit ihm Push Hands zu machen. Mit meiner Nase etwa auf seiner Bauchnabelhöhe versuchte ich, ihn zu stoßen, doch er war hart wie ein Fels, ließ sich keinen Zentimeter bewegen. Dann führte er eine Hebelbewegung aus, hob mich in die Luft, und setzte mich neben ihm wieder ab. Stoßen tat er nie, nur dieser Hebel. Immer dasselbe. Ich kam mir vor wie ein Meerschweinchen, das herumgereicht wird. Es war so lustig. Von Interaktion keine Spur. Kein Austausch. Kein Fließen. Er hatte ein Mundwerk, das nahe an das von Eddy Murphy heranreichte.

Und dieser Hüne sagte mir, eines Tages wäre ich froh um Kung Fu. Als ob ich gegen einen Typen wie ihn jemals eine Chance hätte, wenn es um Kraft oder Reichweite von Armen und Beinen ginge. Er machte mir klar, ohne dass er das wollte, dass dies nicht mein Weg sein konnte, meine Frau und meine Kinder im Ernstfall zu verteidigen.

Einmal habe ich ein blindes Mädchen in einer Nacht vor der Vergewaltigung in einer Telefonzelle gerettet. Ich hörte ihre Hilferufe. Ich rannte hin. Ich stand drei Meter vor der Telefonzelle und brüllte «Hey!» Der Schrei war so erschütternd, dass der Typ, auch er war viel größer als ich, erschrocken aus der Telefonzelle sprang, mich anstarrte und stammelte:

«Ich… Ich wollte… wollte nur…»

«Verschwinde!» rief ich, «Aber schnell!»

Das tat er dann auch.

Nun gibt es noch andere Teile dieser Heldengeschichte, die ich auch erzählen will. Ich weiß nicht, ob ich ohne mein Taiji nicht auch dahin gerannt wäre. Ich glaube schon. Denn ich überlegte mir nicht, ob ich rennen sollte, oder was ich, dort angekommen, unternehmen würde. Ich rannte einfach, ließ mein Kiai-Hey los, und das war’s. Es passierte einfach. Es war nicht ich, der handelte. Es passierte. Während ich da vor dem Typen stand, merkte ein Teil von mir, wie meine Beine zitterten. Mein Nervensystem zitterte. Die Angst schüttelte meine Beine. Doch das beeinflusste meine Handlung nicht. Das Ganze war größer als meine Angst. Und nachdem das Ganze vorbei war, zitterte ich noch eine Stunde… So viel zum Thema Held… Aber, es geht noch weiter. Ich werde nie das Gesicht vergessen, als der Mann zurückschrak und mich anstammelte. Es war das Gesicht eines kleinen Jungen in diesem großen Mann. Ich hatte in diesem Augenblick das Bild dieses Jungen, der stammelte, und ich war der große Vater, der jetzt dann gleich auf ihn einschlagen würde. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich glaube, das hatte dieser Mann als Junge erlebt, und diese Erinnerung wurde durch diese Situation in ihm lebendig.

Es schmerzt mich noch heute, wenn ich daran denke. Vielleicht war dieser Zwischenfall im Folgenden für ihn heilend, doch ich finde, ich hätte besser handeln können. Ich hätte ihn besser beschützen können, genauso wie das blinde Mädchen in der Telefonzelle. Das sage ich von meiner heutigen Sicht aus. Damals war ich noch ganz am Anfang meiner Taiji-Laufbahn.

Wenn ich daran zurückdenke und analysiere, dann weiß ich, dass ich diesen Mann von meinen Fähigkeiten her damals nicht hätte angreifen können. Unterdessen weiß ich durch meine Taiji-Praxis zwar, wie ich jemanden wirkungsvoll schlagen kann. Damals wußte ich das noch nicht. Und das war gut so. Was ich wußte, war, dass ich mich bei einem Angriff hätte verteidigen können. Aber ich wollte das niemandem beweisen. Ich hatte die Situation durch einen akustisch-energetischen, kurzen Schock-Schlag gelöst. Das beste, was ich damals vermutlich tun konnte. Heute würde ich versuchen, den Täter so zu beschützen wie das Opfer.

Ich glaube, die beste Verteidigung ist, sich von der Angst nicht beeinflussen zu lassen. Und der beste Angriff ist, sich verteidigen zu können.

Die Essenz liegt darin, die innere Gewißheit zu haben, dass man Harmonie ist, und dass diese Harmonie nicht gestört werden kann, weil sie groß und umfassend ist, und darum auch einen Konflikt in sich aufnehmen und integrieren kann, ohne ernsthaft gestört zu werden.

Im Essener Buch der Offenbarungen heißt es: «Kein Volk soll sein Schwert mehr gegen ein anderes erheben, noch sollen sie mehr die Kriegskunst erlernen, denn die vergangenen Dinge sind ausgelöscht». Ich finde, wir können das jetzt ruhig einmal ein bisschen ernst nehmen. Das heißt nicht, dass wir alle zu Softies werden, die nur noch Harmonie wahrnehmen. Konflikte gibt es immer. Innen und außen. Und wir müssen fähig sein, diese wahrzunehmen, zu lösen, oder eben noch mehr, kreativ mit ihnen zu sein, um sie in Harmonie zu verwandeln. Es reicht nicht nur, sie zu lösen, die heilende Energie darin soll freigesetzt werden. Wir brauchen eine Friedenskunst, keine Kriegskunst. Doch auch eine Friedenskunst ist nicht bloß Schönschwätzerei.

Die Energie annehmen, umarmen, umfassen, das ist das Geheimnis. Je größer du innerlich wirst, desto mehr kannst du im Außen umfassen. Je mehr du von dir bewusst gemacht hast, desto mehr kannst du deinem Gegenüber entgegenbringen.

Martin Schmid unterrichtet Taiji, Qigong und integrale Bewegung uns ist Autor verschiedener Bücher zum Thema.

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