Ein Gebet in Bewegung

Von Martin Schmid

Manchmal sage ich den Teilnehmern meiner Kurse: «Die Bewegung ist wie ein Gebet». Ich meine damit eine innere Qualität. Beten heißt zu empfangen, und empfangen heißt, sich zu öffnen und in Verbindung zu treten.

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Wie so viele Inputs wird auch dieser verstanden oder nicht, jetzt oder in zwanzig Jahren, unmittelbar, verstandesmäßig oder gefühlsmäßig. Das liegt nicht in meiner Verantwortung und meiner Macht. Trotzdem liegt mir natürlich etwas daran, die Inputs so zu gestalten, dass der Samen bei möglichst vielen sprießt.

Ich habe mir also immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie ich dieses «Gebet» besser umschreiben könnte.

Da habe ich, in einem dieser vielen Momente wunderbarer, scheinbarer Zufälle, in einem Buch, das vom Gebet handelt, gelesen: «In seiner reinsten Form hat das Gebet keinen äußeren Ausdruck. Wir können zwar eine vorgeschriebene Sequenz von Worten sprechen, die seit Generationen überliefert wurde, aber sie müssen eine Gefühlsqualität in uns erzeugen, damit die Welt um uns herum von ihnen berührt wird».

Ha! Also: Ersetze «Gebet» durch Taiji, «Worte» durch Bewegungen, «sprechen» durch machen, und es liest sich so: «In seiner reinsten Form hat Taiji keinen äußeren Ausdruck. Wir können zwar eine vorgeschriebene Sequenz von Bewegungen machen, die seit Generationen überliefert wurde, aber sie müssen eine Gefühlsqualität in uns erzeugen, damit die Welt um uns herum von ihnen berührt wird»… und, möchte ich hier anfügen, wir selber von ihnen auch berührt werden.

Verblüffend, nicht wahr? Ja und nein. So verblüffend die Parallele der Aussage, so offensichtlich ihre gleiche Essenz.

Diese Gefühlsqualität meine ich, wenn ich zu meinen Studenten von Gebet spreche.

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Ich will jetzt gar nicht versuchen, die Gefühlsqualität (was ich Empfinden nenne) zu beschreiben. Denn erstens geht das nicht, und zweitens würde uns das nur wieder auf den falschen Pfad setzen. Wir müssen nichts Äußeres reproduzieren, sondern es von innen her entstehen lassen.

Diese Gefühlsqualität entsteht, wenn Körper, Herz und Geist in Einklang agieren. (Mit Herz ist die Seele gemeint, die sich durch unser Herz ausdrückt). Das ist ja nicht eine bahnbrechend-revolutionäre Neuigkeit, nicht wahr? Wir kennen das alle. Doch wie macht man das?

So, wie man ein Musikstück zum Leben erweckt. Auch da sind Körper (Beherrschung des Instrumentes), Herz und Geist ausgerichtet auf das alleinige Bestreben, Noten zu wahrer Musik werden zu lassen.

So, wie wir uns einem Kind ganz widmen. Wir widmen uns ihm nicht nur körperlich. Es braucht Körper und Herz, und Inspiration.

So, wie wir ein Bild betrachten, das uns berührt. Wir lassen es wirken, nicht nur auf die Sehnerven unserer Augen. Wir verinnerlichen es, lauschen der Resonanz in Herz und Geist, empfinden sie und dadurch das Bild im Körper. Dieses Empfinden heißt verinnerlichen.

So, wie wir ein Buch lesen, das uns etwas Wesentliches mitteilt. Wir versinken darin, tauchen ein, sind fasziniert, aufgewühlt, inspiriert, emporgehoben, bestätigt.

So, wie wir einem Menschen begegnen, den wir zutiefst lieben. Wir gehen in Körperkontakt, berühren uns. Wir verbinden unsere Herzen, lassen die Energie frei strömen. Unsere Seelen kommunizieren miteinander. Unser Geist ist derselbe.

So ist Taiji! Das Bestreben von Körper, Herz und Geist, Bewegung und Kontakt zum Ausdruck von Harmonie zu machen. Inspiration zu sein, berührt zu werden und berühren lassen, der Resonanz lauschen, verinnerlichen, versinken, eintauchen, fasziniert sein, aufgewühlt, emporgehoben, bestätigt. Lieben. Berühren. In Begegnung gehen. Energie frei strömen lassen. Tief kommunizieren. Nicht getrennt sein.

 

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