Tai Chi für Kinder

Von Detlef Zimmermann

Kinder brauchen kein Tai Chi! Das habe ich vor ein paar Jahren auch noch geglaubt. Bis Kinder in die Schule kommen stimmt diese Aussage auch. Kinder bis zum Schulalter entsprechen dem Ideal, dass dem Gesundheits- Tai Chi nachgesagt wird und nachdem die Praktizierenden streben. Ein total entspannter Körper in einer ausbalancierten natürlichen Haltung. Beobachtet man Vorschulkinder sieht man noch ganz genau was die „Natur“ des Menschen sein muss. Die Kinder stehen richtig, sitzen richtig, bücken sich richtig, bewegen sich richtig. Ohne Anspannungen, Blockaden etc. Ich behaupte mal ein Vorschulkind ist ein Tai Chi Meister ohne es zu wissen.

Kinder_tai_Chi1Spätestens ab der Schulpflicht können sich auch schon bei Kindern physische und psychische Probleme einschleichen. Sie kommen mit anderen Kindern zusammen, mit denen sie sich arrangieren müssen, auch mit denen, die sie vielleicht nicht so mögen (soziales Verhalten). Sie müssen schulische Leistungen bringen, auch in Fächern die ihnen nicht so liegen (mentaler Stress). Sie müssen länger Sitzen und schwerer tragen (evtl. Haltungsschäden). Sie müssen erzieherische Maßnahmen durch eine „neue“ Bezugspersonen, den oder die  Lehrer/in auf sich nehmen (neue Regeln einhalten etc.).

Dies sind alles Faktoren, die auf die körperliche wie seelische Gesundheit Auswirkungen haben können. Je nach Charakter gehen Kinder darauf verschieden ein. Wobei Haltungsschäden durch zB: Muskelverspannungen bei allen ähnlich seien dürften.

Was die mentale Komponente betrifft, stellen sich die „Auswirkungen“ schon verschiedenartiger da. Wut, Aggression aber auch Rückzug, Opferhaltung etc., könne Signale eines Ungleichgewichts in der seelischen Verfassung des Kindes signalisieren.

In allgemeinen Lehrplänen der verschiedenen Schulformen sind Entspannungsübungen nicht vorgesehen. Sportunterricht bedeutet immer noch schneller, weiter, höher. Meist stehen selbst die Lehrkräfte unter Spannung und kennen keine wirkliche Entspannungstechnik.

Als ich vor ca. 5 Jahren von einer Schulpädagogin, die ich aus Gewaltprävention Projekten kenne, gefragt wurde, ob ich nicht einmal Tai Chi für Kinder anbieten möchte, habe ich erstmal nein gesagt. Ich war der Meinung Kinder brauchen kein Tai Chi. Außerdem konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen die „Erwachsenen-Form“ Kindern zu vermitteln.

Die Pädagogin blieb aber hartnäckig und ich fing an zu überlegen. Klar war, dass ich nicht die Erwachsenen-Form unterrichten wollte. Also, was ist erstmal das wichtigste im Tai Chi? Eine gerade Haltung, eine ganzheitliche Entspannung und die Selbstwahrnehmung in den Bewegungen! Von der geraden Haltung und einer relativen Entspannung sind die Kinder noch nicht allzu weit weg. Also bleibt die Selbstwahrnehmung!

Kinder beizubringen in sich zu schauen und Aufmerksamkeiten auf bestimmte Körpereigenschaften zu lenken war nun meine Aufgabe.

Ich suchte mir aus den Erwachsen-Formen 10 einfache, aber von unterschiedlicher Funktion bestimmte Sequenzen heraus. Denen gab ich Tiernamen, weil Kinder auf so was anspringen und ich einen Bezug zu den eigenen Bewegungen herstellen konnte .Z.B. „Der Adler landet „ beinhaltet das öffnen des Körpers (wir strecken uns und öffnen die Flügel) und das wieder- finden aus der großen Haltung zurück in die Normalhaltung (die Arme langsam wieder vor dem Körper sinken lassen, gefolgt von den Schultern, Brust, Rücken, Bauch, Becken, Knie). Oder „der Drache schlägt mit dem Schwanz“. Hier muss besonders auf das Eindrehen der spannungsfreien Hüfte geachtet werden!

So steht jedes Tier für eine besondere Aufmerksamkeit, die über die gerade, entspannte Haltung hinaus geht.

Kinder_tai_Chi_Tui_ShouAuch übe ich mit den Kindern Push Hands. Natürlich nicht als Wettkampf, sondern ausschließlich als Wahrnehmungsübung. Die Kinder stellen sich vor das ein Käfer zwischen ihren Armen beim schieben überleben muss. So vermeiden sie von vornherein zu starken Druck. Der Käfer darf aber auch nicht runterfallen. So müssen sie immer gefühlvoll Nachgeben. Erstaunlich finde ich, dass selbst die „Rabauken“ bei dieser Art von Push Hands zu einer gefühlvollen Ruhe finden! Über diese Übung lernen die Kinder auch den anderen zu spüren. Ist man selbst sehr entspannt, kann man leichter Spannungen im Partner fühlen. So wird sich dann auch gegenseitig geholfen.

Überhaupt ist ein begrüßenswertes Nebenprodukt der Tai Chi Arbeit mit Kindern die Empathie. Tai Chi ist erstmal für alle gleich. Es ist Vorrausetzungslos. Geschlecht, Alter, kulturelle Herkunft, Sprache, Charakter etc. sind dem Tai Chi „egal“.

Taiji KindergruppeDie Kinder müssen nicht Hochleistungen erbringen, die dann doch wieder den stärkeren, schnelleren etc. vorbehalten ist, sondern sie müssen in Ruhe und Gelassenheit investieren. Und da sind nun mal keine „äußeren“ Aufgaben zu bewältigen, sondern individuelle Vorgänge im eigenen Körper wahrzunehmen und die Natürlichkeit in Haltung und Bewegung, auch im Geist zu bewahren. Jeder weiß, was der andere in sich sucht, nimmt Rücksicht, hilft, fragt oder tauscht sich aus.

Mein anfänglicher Glaube das Kinder kein Tai Chi brauchen, ist dem Wissen gewichen, dass es sehr wohl Sinn macht den Menschen schon sehr früh Tai Chi in die Hand zu legen. Aufmerksam auf das eigene Ich und auf den Umgang mit anderen, damit kann man gar nicht früh genug anfangen. Und man legt einen guten Grundstein für das gesamte Leben, denn die Kinder können auch später immer wieder auf ihr erlerntes zurückgreifen.

Denn wir Tai Chi Chuan Liebhaber wissen ja:

„Wer Tai Chi übt wirt stark wie ein Holzfäller, geschmeidig wie ein kleines Kind und gelassen wie ein Weiser.”

Fotos: D. Zimmermann