Die Frage, ob ein bestimmter Tai Chi-Stil authentisch sei oder nicht, ist immer nur aus einer ganz bestimmten Sichtweise heraus zu beantworten und schließt eine absolute Antwort von vornherein aus.
Wenn man im Internet nach Informationen über Tai Chi recherchiert, dann findet man neben allgemeinen Einführungen immer wieder Hinweise auf vorhandene Traditionslinien und Authentizitätsansprüche. Damit einher werden sogenannte nicht-authentische Tai Chi-Stile als Kopie eines scheinbar vorhandenen Originals oder als „Verwässerung“ abgewertet. Dabei sind die Begriffe „authentisch“, „klassisch“ oder „traditionell“ gar nicht so eindeutig, wie man zunächst denken mag.
Authentisch, klassisch und traditionell – Was heißt das eigentlich?
Das Wort „authentisch“ ist ein Adjektiv, welches vom Substantiv „Authentizität“ abgeleitet wird. Der Authentizitätsbegriff stammt aus dem Griechischen bzw. aus dem Lateinischen und kann mit „echt“ oder „zuverlässig“ übersetzt werden. Authentisches Tai Chi bedeutet demnach „echtes Tai Chi“ oder wenigstens „Tai Chi, das als Original befunden wird“. Damit wird noch keine Aussage über die Qualität des Tai Chi getroffen. Es wird lediglich der Anspruch erhoben, etwas „Echtes“ anzubieten. Damit wird die Frage eröffnet, was nicht echt sei. Grundlegend gilt alles als echt, das in Übereinstimmung mit einer Tatsache steht. Das bedeutet, dass Echtheit mit Wahrheit zusammenhängt. Und Wahrheit als abstrakter Begriff ist selbst nicht eindeutig. Ein Blick in verschiedene Wahrheitstheorien lässt erkennen, wie schwierig es ist, etwas als wahr – und letztlich: etwas als echt – zu definieren.
Im Tai Chi wird darum nicht selten der Begriff „traditionell“ verwendet. Wenn man von einer Tradition spricht, dann meint man damit eine Weitergabe von Überzeugungen und/oder Handlungsweisen. Man spricht auch von der Überlieferung. Wenn etwas tradiert wird, dann geschieht dies immer in einer sozialen Gruppe. Die populärste Form von Tradition ist die Überlieferung von Wissen und Handlungsweisen von einer älteren Generation an eine jüngere. Im weiten Sinne kann damit alles eine Tradition sein, was gegenwärtig vorhanden ist und sich auf dem Wissen vorheriger Generationen gründet.
Das Wort „klassisch“ stammt vom lateinischen Wort „classicus“ und bedeutet so viel wie „zum ersten Rang gehörig“. Es wird synonym zu dem Wort „traditionell“ verwendet. Man bezeichnet etwas als klassisch, wenn es als Vorbild geltend gemacht werden soll bzw. wenn es dazu dient, sich an einem Original zu orientieren. „Klassisches Tai Chi“ würde demnach bedeuten, dass es sich um traditionelles Tai Chi handelt, welches eine Vorbildfunktion innehat.
Authentisches Tai Chi und die Suche nach der Wahrheit
Im weiten Sinne kann jeder Tai Chi-Stil als authentisch bezeichnet werden, wenn er die Merkmale des Tai Chi aufweist. Über die Merkmale herrscht keine allgemeingültige Klarheit, was auch die Vielzahl an Stilen deutlich macht. Es gibt zwar grundlegende Prinzipien, aber die Art und Weise der Ausführung und die individuellen Schwerpunktsetzungen sind zu verschieden, als dass man von einem einheitlichen Gut sprechen könnte. Im engen Sinn gilt Tai Chi als authentisch, wenn der jeweilige Stilvertreter eine Tradition nachweisen kann, die unmittelbar auf einen Stilbegründer zurückreicht.
In Deutschland sind vor allem der Chen-Stil und der Yang-Stil als authentische Stile vertreten. Beim Yang-Stil existieren viele Sub-Stile, die sich teilweise gegenseitig nicht als authentisch anerkennen. Dies tut der Qualität aber keinen Abbruch. Die herrschende Meinung ist, dass die Überlieferungen Yang Chengufs (1883-1936) und seiner Familie als authentisch zu werten sind, während andere Stil-Richtungen, die ebenfalls auf Yang Chengfu zurückreichen, nicht anerkannt werden, weil sie von der Yang-Familie nicht akzeptiert werden. Das bekannteste Beispiel dürfte das Tai Chi Chuan von Zheng Manqing (1901-1975) sein. Er hat die Form von Yang Chengfu verkürzt. Seine Anhänger vertreten ein anderes Traditionsbewusstsein als beispielsweise Anhänger von Yang Jun, der ein direkter Linienhalter der Yang-Familie ist.
Wenn ein Lehrer über Zertifikate und Urkunden verfügt, die ihn als „Linienhalter“ für einen Stil auszeichnen, ist damit noch nichts über seine Unterrichtsqualität und über seine Bewegungsqualität gesagt. Theoretisch ist auch nichts über die tatsächliche Tradition gesagt, weil der einzelne Mensch nämlich nicht in der Lage ist, die unzähligen Veränderungen, die an einem Stil zwangsläufig vorgenommen wurden, zu rekonstruieren. Was also Tradition ist und was nicht, kann per definitionem nicht gesagt werden. Ist Tradition das Einhalten von Regeln, die vor 100 Jahren gegolten haben, aber heutzutage keine Funktion mehr erfüllen oder ist Tradition das Verständnis für die damaligen Regelungen und die Anpassung dieser an aktuelle Bedingungen? Hierbei wird ein weites Thema eröffnet, das philosophisch und sozial- bzw. humanwissenschaftlich sowie unter Berücksichtigung chinesischer Denkweisen untersucht werden müsste.
Fotos: Matthias Wagner und Ken van Sickle
Autor: Christoph Eydt