Übungen des Chen-Stil Taijiquans nach Großmeister Chen Xiaowang

Chen Xiaowang

Der klassische Chen-Stil stellt ein vollständiges Taijiquan-System dar, dass fünf Aspekte in sich vereint: Philosophie, Gesundheitslehre, Meditation, Bewegungskunst und Kampfkunst [1], siehe Abb. 1.

Der klassische Chen-Stil stellt ein vollständiges Taijiquan-System dar, dass fünf Aspekte in sich vereint: Philosophie, Gesundheitslehre, Meditation, Bewegungskunst und Kampfkunst
Abbildung 1: Allgemeine Aspekte des Taijiquans
Chen Xiaowang/ Stehende Säule

Der meditative Aspekt wird bei der Standmeditation (auch Stehende Säule) genannt offensichtlich, siehe Abb. 2. In dieser Basisübung wird ein Bewusstsein für Körper und Geist geschaffen. Insbesondere wird hier ein Verständnis für die Zusammenhänge im Körper entwickelt, das dann in den Seidenübungen in Bewegung umgesetzt wird. Die Seidenübungen sind vereinfachte, aus der Handform herausgenommene Bewegungen, die bestimmte Bewegungsprinzipien so isoliert wie möglich abbilden. So wird mit diesen Übungen ein Verständnis für Bewegungsprinzipien und die „Energiearbeit“ im Taijiquan entwickelt. Gleichzeitig bilden die Seidenübungen zusammen mit der stehenden Säule ein komplettes Qigong-System, da alle grundlegenden Energieverläufe darin enthalten sind. Das in der stehenden Säule und den Seidenübungen erarbeitete Verständnis des Taiji-Prinzips kann dann in die Bewegungen der Handformen übertragen werden. Die Seidenübungen sind also der Schlüssel zum energetischen Verständnis der Form. Gleichzeitig geht das Formtraining über die Seidenübungen hinaus, da hier die Bewegungsprinzipien in einer komplexen Kombination anzutreffen sind. Ferner haben die Handformen ihren Ursprung in der Kampfkunst. Es gibt also zu jedem Bild der Form auch eine Vielzahl möglicher kämpferische Anwendungen [1]. Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass die Anwendung nicht vom Energiefluss getrennt gesehen werden kann. Die Anwendung funktioniert nur, wenn der Energiefluss richtig umgesetzt wird. Traditionell nimmt die Laojia Yilu (1. Form alter Rahmen, siehe auch Abb. 3) mit 75 Bildern einen hohen Stellenwert in der Praxis ein. Diese Form (es ist die anerkannte Mutterform aller Taiji-Familiensysteme) stellt sich weitestgehend in einem langsamem Bewegungsfluss dar, der stellenweise von explosionsartigen Fajin-Bewegungen unterbrochen wird. Als Chen Changxing (14. Generation der Chenfamilie) die Laojia Yilu schuf, entwickelte er zu dieser „Yin-Form“ direkt auch eine komplementäre „Yang-Form“: die Laojia Erlu (2. Form alter Rahmen). Hier kommen deutlich mehr explosionsartige Bewegungen vor. Insgesamt wird diese Form auch in tieferen Ständen und auch in einem schnelleren Fluss ausgeführt. Hier geht es nicht mehr so sehr darum, die innere Bewegung zu schulen, sondern das Innere muss nun auch bei schnellen und explosiven Bewegungen funktionieren. Unter Chen Fake (17. Generation), einem herausragenden Großmeister der Chen Familie, entwickelte sich aus den Laojia Yilu/Erlu Formen die entsprechenden Xinjia (neuer Rahmen) Formen. Diese Formen besitzen im Wesentlichen die gleichen Bilder, wie die Formen des alten Rahmens. Dennoch sind sie deutlich anspruchsvoller, da die Bewegungen viel „spiraliger“ ausgeführt werden. Die korrekte Koordination des ganzen Körpers in den vom Zentrum geführten, kleinen, dichten energetischen Kreisläufen glückt nur, wenn vorher eine solides Basisverständnis des Prinzips über die Laojia Yilu erarbeitet wurde.Diese fünf Aspekte aus Abb. 1 spiegeln sich folglich in den in Abb. 5 gezeigten Übungen des Chen-Stils wieder. Gleichzeitig hat jede Übungsgruppe ein klares Übungsziel, auf dass die anderen Übungen aufbauen.

Einfache Peitsche, Jan Silberstorff

Da das Taijiquan von Chen Wangting (9. Generation) als eine Kampfkunst entwickelt wurde, enthält das System traditionelle Waffenformen, wie z.B. Schwert, Säbel, Stock/Speer und Hellebarde. Daneben gibt es aber auch moderner Formen mit Übungsgeräten, z.B. den Ball und „moderneren“ Waffen, z.B. den Kurzstock. Die Waffenformen trainieren ähnlich zu den schnellen Handformen (z.B. Laojia Erlu) vermehrt den Yang Aspekt. So schulen sie Körperkraft und Motorik. Das energetische Übungsziel dieser Formen liegt darin, die Energie über die Grenzen des eigenen Körpers hinaus, zu definierten Punkten in der Waffe fließen zu lassen.

Chen Xiaowang
Abbildung 4: Großmeister Chen Xiaowang (rechts) demonstriert die Wirkungsweise des Taijiquans in den schiebenden Händen [3].

Diese Idee wird in den Übungen der „Schiebende Hände“ (oder Pushhands, chinesisch: tui shou) weiter entwickelt. Bei den Schiebenden Händen wird in Partnerübungen die energetische Interaktion mit einem wohlgesonnen, aber wandlungsfähigen Partner in verschiedenen Stufen trainiert [2]. Die Partnerübungen wurden von Chen Wangting ersonnen, um ein effektives Üben der Kampfkunst ohne Verletzungsgefahr zu ermöglichen [1,2]. Als Fortsetzung der Partnerübungen ist der Partnervergleich zu sehen, wo auf unterschiedlich stark reglementierten Stufen bis hin zum freien Kampf die Wirkungsweise des Taijiquans ergründet werden kann. Bei der Praxis dominiert auch hier der Übungsgedanke. Mit einem Partner, kann man hier in ernster aber wohlgesonnener Atmosphäre testen, wie sicher die Inhalte des Formentrainings (Struktur und Energiearbeit)  auch in freieren Situationen (unter Druck, etc.) umgesetzt werden können, siehe Abb 4. Die Übungen der Schiebenden Hände bilden also eine Brücke zwischen den Handformen und der Selbstverteidigung [2].

Chen Stil Taijiquan

Dem klassischen Chen-Stil unterliegt die Prämisse, dass alle Bewegungen Taijiquan sind, solange ihnen das Taiji-Prinzip innewohnt. Es ist also unerheblich, ob eine Bewegung langsam oder schnell ausgeführt wird. Entscheidend ist das Prinzip. Hierbei ist allerdings zu erwähnen, dass die in Ruhe ausgeführten, energetisierenden Übungen (stehende Säule, Seidenübungen und  die ersten Handformen) auch (oder gerade) bei Kampfkünstlern mit einem hohen Level ca. 90% des Trainingspensums ausmachen. Die anderen Übungen sind wichtige Ergänzungen, die durch die Kräftigung des Körpers und durch eine andere Perspektive auf das Prinzip den Trainingsfortschritt befruchten, aber die ruhigen Übungen sind die Basis. Natürlich muss man nicht das ganze System trainieren, um vom Chen-Taijiquan zu profitieren. Mit der stehenden Säule, den Seidenübungen und der 19er Form hat man z.B. auch bei einem ausgefüllten Berufs- und Familienleben ein reichhaltiges Übungsprogramm zur Hand, das alle wesentlichen Bereiche abdeckt. Es besteht allerdings die Möglichkeit auch in die anderen Bereiche hinein zu schnuppern, wenn man will.

Der klassische Chen-Stil hat seine Wurzeln in der traditionell überlieferten Kunst, aber gerade weil das Prinzip in seinem Zentrum steht, ist er nicht starr sondern geht wandlungsfähig mit der Zeit. Gerade Großmeister (GM) Chen Xiaowang hat einige entscheidende Erweiterungen am System vorgenommen. So hat er die stehende Säule (eine uralte Qigong-Übung) in das Chen-Stil System integriert und die Seidenübungen entwickelt [1], siehe Abb. 5. Diese Übungen, zielen alleine darauf ab, das Prinzip klar herauszuarbeiten. Gerade die Schaffung der Seidenübungen und die damit verbundene Entwicklung eines klaren Verständnisses der Energiearbeit im Taijiquan sind ein herausragender Verdienst von GM Chen Xiaowang. Ohne die Seidenübungen würden wir heute die Bewegungsprinzipien und Energieverläufe der Formen nicht so exakt beschreiben und vermitteln können. Diese Entwicklungen haben wahrscheinlich erst ermöglicht, dass heute Taijiquan nicht mehr nur durch einen sehr engen Kontakt von Lehrer und Schüler erlernt werden kann, sondern auch durch den Besuch von z.B. Wochenendworkshops ein hohes Gongfu Level erreicht werden kann (bei fleißigem eigenem Üben). GM Chen Xiaowang entwickelte ferner die 19er und die 38er Formen [1], die zwar in den Bewegungen nicht einfacher sind als die Laojia Yilu, aber aufgrund ihres geringeren Umfangs auf Workshops besser vermittelt werden können, was vielen westlichen Schülern sehr entgegen kommt.

Ferner hat sich GM Chen Xiaowang die Verbreitung des Taijiquans und vor allem dessen richtiges Verständnis zum Ziel gesetzt, damit möglichst viele Menschen von dieser Kunst profitieren können. Dazu gründete er mit Meister Jan Silberstorff den Verband der World Chen Xiaowang Taijiquan Association (WCTA). Die WCTA ist weltweit der größte Verband für Taijiquan. Der deutsche Ableger ist die „WCTA Germany“ (WCTAG) [4], die von Meister Jan Silberstorff übernommen wurde. Die WCTAG ist wiederum der größte Landesverband innerhalb der WCTA. Der Verband hat unter anderem die wichtige Funktion, die Qualität der Lehrkräfte zu sichern. Zu diesem Zweck entwickelten GM Chen Xiaowang und Meister Jan Silberstorff ein Ausbildungssystem, dass später auch in weiten Teilen vom Deutschen Dachverband für Taijiquan & Qigong e.V. (DDQT) übernommen wurde.

Der vorliegende Artikel gibt einen Einblick in die Übungen des Chen-Stil Taijiquans nach GM Chen Xiaowang. Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, die Struktur des Systems zu erklären. Für eine vollständigere Beschreibung des Systems sei auf die weiterführende Literatur verwiesen.

Autor: Robert Grosch

Referenzen:
Jan Silberstorff. Chen – Klassisches Taijiquan im lebendigen Stil. Lotus Press (2010). 
Jan Silberstorff. Schiebende Hände – Die kämpferische Seite des Taijiquan. Lotus Press (2008).
Chen Xiaowang Yanshi. Chen Family Taijiquan. (2008) (ISBN 978-7-5009-3413-4)
Fotos: WCTAG