Von Wang Ning
Nach chinesischer Ansicht hat der Mensch einen Weg gefunden, sein Leben schön und glücklich zu gestalten. Ein »langes Leben« wird als höchstes Ziel für das Individuum gesetzt. Wang Ning beschreibt überwiegend aus daoistischer Sicht, worum es bei einem langen Leben geht.
»Fu« – Glück, »Lu« – Reichtum und »Shou« – langes Leben
Das höchste Streben eines Chinesen liegt im Erlangen von »Fu« – Glück, »Lu« – Reichtum und »Shou« – einem langen Leben. Damit sind nicht nur die einfachen Worte, sondern eine gesamte Lebensphilosophie gemeint. Diese bezieht sich auf die Individualität des Menschen, die im Kontrast steht zum Harmoniestreben im gesellschaftlichen Leben. Kann man das Streben nach einem langen Leben als »Yin« und das harmonische Miteinandersein als »Yang« bezeichnen? Oder umgekehrt?
Fu bedeutet Glück, daher soll man doch unbedingt Reichtum haben und damit lange leben. Kann das lange Leben auch gleich Glück und Reichtum bedeuten? Bedeutet Reichtum auch gleichzeitig Glück und damit soll man lange leben? Da man die drei Aspekte nicht trennen kann, behandelt man sie gleich. Sie sind wichtig. Aus den drei Symbolen haben die Chinesen drei Götter gemacht. Der Gott für langes Leben sieht so aus: ein alter Mann mit langem Bart, einem Krückstock in einer Hand, einem Pfirsich in der anderen Hand, der auf einem Kranich reitet und an einer Kiefer ruht … »Shou« – das lange Leben – beschreibt im alten Schriftzeichen »einen alten Mann mit einem Krückstock, der einen Fluss überquert, seine Füße sind auf beiden Seiten des Flusses«. Das erinnert uns direkt an uralte Zeiten, in denen die Menschen ihre Dörfer so errichteten, dass ein kleiner Fluss sich durchs Dorf schlängelte, aus dem die Menschen das Wasser holten. An der nördlichen Seite war ein Berg, der das Dorf beschützte, an einem verborgenen nordwestlichen Ort, jenseits des Flusses, befand sich der Friedhof, wohin der alte Mensch ging … In China haben wir drei Glaubensrichtungen, neben Buddhismus und Konfuzianismus wird der Daoismus am meisten praktiziert. Während wir Buddhismus und Konfuzianismus als gesellschaftliche Ideologien bezeichnen können, ist der Daoismus eher für das individuelle Leben bestimmt. Im Buddhismus geht man davon aus, dass das Leben nach dem Tod weitergeht, da der Mensch wieder geboren werden kann. Man kann immer auf ein besseres Leben hoffen, zum Beispiel, indem man als Sohn einer reichen Familie wieder geboren wird. Der Weg zum langen Leben ist deswegen eher einfach. Im Konfuzianismus achtet man auf Riten und Rangordnung, es bedarf keiner Änderung. Aber man kann seine Hoffnung auf seine Kinder setzen, weil man in den Kindern sein Leben weiterführt. Kinder sind die Zukunft, wenn wir auch die Zukunft erleben können, ist das ziemlich verlockend und auch einfach.
Dagegen ist die daoistische Ansicht über ein langes Leben einerseits noch »einfacher«, weil ein Mensch bloß ein Teil der großen Natur ist und mit der Natur unsterblich sein kann, in dieser oder jener Form in endloser Wandlung. Andererseits ist dieser Weg zum langen Leben (Chang Shou Zhi Dao) nicht so einfach zu verstehen, weil der Mensch herausfinden möchte, woher das Leben kommt, wohin es führt und wo es endet.
Was den Beginn des Lebens angeht, haben wir zwei Schriftzeichen geschaffen, das eine heißt Ben – die Wurzel, das andere heißt Yuan – die Quelle. Das Schriftzeichen für Leben »Sheng« beschreibt »die Pflanze, einen Keimling, der gerade aus der Erde herauskommt«. Das, was das »Leben« ins Leben ruft und mit »Wasser« bewässert, nennt man Qi. Diese treibende Kraft teilt sich vor allem in Yin-Qi und Yang- Qi. Das Qi wird dadurch erzeugt, dass Yin und Yang ständig nach Ergänzung und Vollendung suchen. Deutlich wird das an vielen Beispielen aus der Natur: Durch Berge, die aus Oben und Unten bestehen, und die Luft, die dadurch aufsteigt und absinkt, entsteht Qi in Form von Wind. Das Yin/Yang-Prinzip nennt man Taiji, uns ist das Taiji-Diagramm als Einheit von Yin und Yang bekannt. Es steht als Symbol für Dao und den Daoismus.
»Der SINN [das Dao] erzeugt die Eins. Die Eins erzeugt die Zwei.
Die Zwei erzeugt die Drei.
Die Drei erzeugt alle Dinge.
Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle
und streben nach dem Licht,
und die strömende Kraft gibt ihnen Harmonie.«
Daodejing 42. Kapitel in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Buddhismus und Konfuzianismus vertreten andere Ansichten über die Entstehung des Lebens, aber im praktischen Leben sind sie weniger wichtig als der daoistische Einfluss. Sie bieten vor allem leitende Gedanken für die gesellschaftliche Struktur. Das individuelle Leben gehört jedoch mehr zum natürlichen Prozess. Wohin das Leben führt, ist dabei die Kernfrage. So versteht man im Allgemeinen, dass der Weg zu einem langen Leben ein Weg ist, der das Leben nährt – Yangsheng Zhi Dao. Einerseits spielt dabei das Essen zweifellos ei- ne große Rolle, weil es den Körper pflegt (Xiu Shen). Es ist ein wichtiger Faktor in der chinesischen Medizin. Andererseits muss auch der geistige Zustand gepflegt werden (Yang Xing). Dies geschieht durch Wuwei – Nichthandeln im Sinne von Enthaltung eines gegen die Natur gerichteten Handelns. Das ist so genannte chinesische Psychologie. Im Volksmund nennt man das einfach »Sorglosigkeit«.
Gongfu
Als Weiteres ist Bewegung wichtig. In diesem Zusammenhang steht das Wort Gongfu. Gong bedeutet hartes Arbeiten, Fu bedeutet Meister. Alle Arten von Kampfsport nennt man Gongfu. Im Volksmund bedeutet Gongfu einfach die Zeit, weil man eben bis zum Meister sehr viel Zeit braucht. Das entspricht dem deutschen Sprichwort: Übung macht den Meister. Gongfu teilt sich in zwei Teile: Zum einen arbeitet man direkt mit Qi, dem Atem und der Energie, im Sinne von Qigong. Das ist ein direkter Zugang zur Energiequelle. Das deutliche Merkmal dieser Übungsweise ist Jing – die Stille. Man kann sie verstehen als eine Art »Motorpflege«, die die zentralen Funktionen erhält.
Zum anderen gibt es die »Fausttechnik« (Quan Shu). Ihr besonderes Merkmal ist Dong – die Bewegung. Es wird unterschieden in harte (Gang) und weiche (Rou) Techniken. Taijiquan gehört zu Rou, es bewegt sich zwischen Dong und Jing, Stille und Bewegung. Dadurch wird die Vitalitätsenergie Sheng Qi gefördert. Chen Changxing zitiert dazu aus dem Yijing: »Die Bewegung erzeugt Yang und die Stille Yin.« Alle Methoden dienen dem einzigen Ziel – einem langen Leben.
Zwei chinesische Schriftzeichen können hier darstellen, wohin das Leben führt. Diese Zeichen heißen »Ewigkeit«. Yong symbolisiert von der bildlichen Darstellung her das ewig fließende Wasser, während Heng ein »Herz, das zwischen Himmel und Erde unendlich kreist«, darstellt. Weil es zur Ewigkeit führt, kümmert sich keiner mehr darum, wo das Leben endet.
»Wer andre kennt, ist klug.
Wer sich selber kennt, ist weise.
Wer andere besiegt, hat Kraft.
Wer sich selber besiegt, ist stark.
Wer sich durchsetzt, hat Willen.
Wer sich genügen lässt, ist reich.
Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.
Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebt1.«
Daodejing 33. Kapitel in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Chen Changxing
gilt als Hauptvertreter des Chen-Stil Taijiquan in der 14. Generation. Er fasste die seit Chen Wangting überlieferten Formen zu zwei Formen zusammen, die die Grundlage der heutigen Hauptstilrichtungen im Taijiquan bilden.
»Taiji« als Einheit von Yin und Yang symbolisiert das Dao.
Kalligraphien: Wang Ning