Das Tao im Abendland

Philosophie

„Nutze den Tag!“ – Was als taoistische oder buddhistische Aufforderung für ein Leben im „Hier“ und „Jetzt“ verstanden werden kann, ist eine abendländische Redewendung, die seit der Antike im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung schlummert.

Carpe diem: die Epikuräer und das Tao

Der Weg ist das Ziel

„Carpe diem“ ist die lateinische Form des auffordernden Satzes „Nutze den Tag!“ und geht auf Horaz (65v.Chr.-8v.Chr.) zurück. Der damit verbundene Appell, die zur Verfügung stehende Lebenszeit bestmöglich zu nutzen, ist eine Lehre der philosophischen Schule von Epikur (341v.Chr.-270v.Chr.). Epikur lehrt die Bedeutung der Maßhaltung. Er sagt, dass die Glückseligkeit nicht einfach im Genuss zu finden sei, sondern darin, sich beim Streben nach Genuss von der Vernunft leiten zu lassen, um das korrekte Maß zu finden. Für die Epikuräer stand das Individuum im Vordergrund, welches einen Zustand der heiteren Gelassenheit erreichen sollte. Das griechische Wort für diesen Gemütszustand ist „Ataraxie“ und bedeutet so viel wie „Unerschütterlichkeit“.

Diese Seelenruhe ist im Taoismus Weg und Ziel zugleich. Laotses (6. Jh. v.Chr.) Aufruf im 16. Kapitel des Tao Te King beschreibt nicht nur den konstanten Rhythmus aller Dinge, sondern ruft auch dazu auf, die Veränderung als einen Teil des eigenen Lebens zu akzeptieren. Er schreibt dazu: „Werde völlig leer. Lass dein Herz in Frieden sein. Sieh, wie im Getümmel weltlichen Kommens und Gehens ein Ende zum Anfang wird. (…)“. Die heitere Gelassenheit folgt dem Annehmen der Veränderung.

Ganzheitlichkeit und Gelassenheit führen zur Weisheit: die Stoa und das Tao

Das Ziel, unerschütterlich zu werden, haben auch die Stoiker verfolgt. Der philosophische Ansatz geht von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise aus. Die Welt ist demnach ein in sich bewegender Kosmos, der aus einer Kette von Ereignissen besteht, die sich alle beeinflussen.  Der Mensch ist nicht der Mittelpunkt des Universums, sondern ein Teil dessen. Als ein Teil des Ganzen muss der Mensch seinen natürlichen Platz einnehmen. Dies kann er schaffen, indem er in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen lebt. Gesundheit, Ehre und Besitz sind für die Stoiker wertlos. Ihnen wird das Gemüt der „stoischen Ruhe“ nachgesagt; eine unerschütterliche Ruhe, die von Leidenschaftslosigkeit geprägt ist. Die Stoa schreibt den menschlichen Handlungen nur eine bedingte Wirksamkeit zu. Ihnen geht es vielmehr darum, die eigene Haltung so anzupassen, dass man sich ohne Sorge dem eigenen Schicksal stellen kann.

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Der Weg ist das Ziel!

Die Stoiker lehnten die weltlichen Dinge nicht grundlos ab. Ähnlich wie Laotse, sahen sie in diesen Dingen Hindernisse auf dem Weg zur inneren Ruhe und Gelassenheit. Die Stoa und Laotse fordern in ihrem jeweiligen Kulturkreis das Loslassen weltlicher Schätze. Im 24. Kapitel schreibt Laotse dazu: „Wer auf Zehenspitzen steht, steht nicht sicher. Wer vorauseilt, kommt nicht weit. Wer zu glänzen versucht, beweist keine Erleuchtung. Wer sich selbst brüstet, vollbringt keine Leistung. Wer selbstgefällig ist, wird nicht geachtet. Wer prahlt, hält nicht durch. (…)“. Im Taoismus ist die Idee der Ganzheitlichkeit ebenso vorhanden wie in der Stoa. Die Ganzheitlichkeit kommt im Taoismus vor allem im 39. Kapitel des Tao Te King zur Geltung: „(…) Die Bestandteile eines Wagens sind nutzlos, wirken sie nicht im Einklang mit dem Ganzen. Eines Menschen Leben bringt nichts, lebt er nicht im Einklang mit dem ganzen Weltall. Die eigene Rolle spielen, in Übereinstimmung mit dem Weltall, ist wahre Demut. (…)“.

Nächstenliebe und Sorglosigkeit: das Christentum und das Tao

Die zentrale Botschaft des Christentums ist die Liebe zum Nächsten und zu den Feinden. „Liebt die, die euch verachten und betet für die, die euch verfolgen.“ heißt es im Neuen Testament. Dieser allumfassenden Liebe, die alle Lebewesen umschließen soll, geht ein Gottesbild voraus, welches von Unvoreingenommenheit und Großzügigkeit geprägt ist. Bei Mt 5,45-48 steht: „(…) damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? (…) Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? (…) Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.“ Niemand ist vor Gott etwas Besonderes oder besser als jemand anderes.

Diese Unvoreingenommenheit ist ein Weg in Übereinstimmung mit dem Tao zu leben. Im fünften Kapitel des Tao Te King ruft Laotse zur Unvoreingenommenheit auf. Sein Aufruf ähnelt sehr der biblischen Äußerung: „Himmel und Erde sind unvoreingenommen. Sie sehen die zehntausend Dinge als Strohhunde. Der Weise ist nicht sentimental, er behandelt sein ganzes Volk wie Strohhunde. Der Weise ist wie Himmel und Erde: ihm ist keiner besonders lieb, noch missbilligt er jemanden. Er gibt und gibt bedingungslos und bietet seine Schätze allen an. Zwischen Himmel und Erde ist ein Raum wie ein Blasebalg, leer und unerschöpflich, je mehr er genutzt wird, desto mehr bringt er hervor. (…)“.

Buddha

Die Bergpredigt ist eine sehr bedeutende Textstelle in der Bibel. Sie beinhaltet eine Sammlung von Weisheiten, Ratschlägen, Geboten und Ansichten, die der Mensch nutzen kann, um ein Leben gemäß den Worten Jesu (4.v.Chr.-30n.Chr.) zu führen. Jesus erzählt in der Predigt unter anderem von der falschen und der rechten Sorge. Er sagt: „(…) Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. (…) Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen, euer himmlischer Vater ernährt sie. (…) Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern? Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. (…) Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen (…).“ Hierbei wird nicht nur deutlich, dass Jesus das Ansammeln von Dingen als nutzlos erachtet, sondern auch dass das „Hier“ und das „Jetzt“ entscheidend für das Leben sind. Jesus erklärt seinen Hörern, dass zu viele Sorgen und zu viele Gedanken rein gar nichts bewirken. Statt sich mit Sorgen zu grämen, solle man sich doch ein Beispiel an den Vögeln und Lilien nehmen. Sie existieren auch ohne sich über ihre Existenz Sorgen machen zu müssen.

Das letzte Kapitel des Tao Te King ruft die Menschen dazu auf, das Ansammeln von immer mehr Sachen zu unterlassen. Laotse sagt: „(…) Weise sammeln nichts an, sondern geben alles den anderen, sie haben umso mehr, je mehr sie geben. (…).“  Das Gleichnis Jesu von den Vögeln und den Lilien lässt sich auch im Taoismus finden. Die Aufforderung, keinem Streben nachzueifern, sondern sich die Dinge entwickeln zu lassen, findet man im Tao Te King vor allem in Kapitel 20: „(…) Die meisten haben mehr, als sie brauchen, nur mir allein scheint etwas zu fehlen. Ich habe den Verstand eines Unwissenden in seiner ungetrübten Einfachheit. Ich bin nur ein Gast auf dieser Welt. Wo sich andere abhetzen, um Dinge zu erledigen, nehme ich an, was angeboten wird. Nur ich allein bin anscheinend ein Tor, verdiene wenig, gebe weniger aus. (…) Ich treibe dahin wie die Wellen des Meeres, richtungslos wie der Wind. (…)Doch am meisten unterscheide ich mich von andern im Wissen, Nahrung zu finden bei der großen Mutter.“ Laotse und Jesus haben beide die Botschaft vom „Treibenlassen“ und vom „Loslassen“ gepredigt. Sämtliche Zukunftssorgen, die Sorge um Besitz, Gesundheit und genügend Nahrung, sollen eingetauscht werden in den Moment des Augenblicks. Das Leben im „Hier“ und „Jetzt“ ist ein zentrales Anliegen von beiden Weisheitslehrern. Der hingebungsvolle Akt, die Gegenwart zu akzeptieren und völlig in diesem Augenblick zu leben, ermöglicht es, ganz neue Einsichten zu gewinnen. Laotse und Jesus sprechen beide von Naturerscheinungen, die absichtslos handeln. In der Bibel sind es die Vögel und die Lilien, bei Laotse ist es das Wasser. Die Idee des Wu Wei, des absichtslosen Handelns, ist ein fundamentaler Bestanteil des Taoismus. Bei Laotse lassen sich viele Anhaltspunkte finden, an denen kenntlich wird, wie wichtig ihm Wu Wei ist. Bereits im achten Kapitel des Tao Te King spricht Laotse von der Macht des Wassers. In diesem Kapitel geht es darum, im „Fluss“ zu bleiben. Nur bewegliches Wasser bleibt rein, stillstehendes Wasser wird schmutzig. Das Wasser sucht keine hohen Plätze, um über etwas zu herrschen, es fließt stets abwärts. Es sammelt sich in Seen, es verdunstet oder es regnet vom Himmel. Es verfolgt damit aber keine spezielle Absicht. Es plant nicht, die Lebewesen zu ernähren, die Felder zu bewässern oder den Menschen Möglichkeiten für den Wassersport zu geben. Diese Absichtslosigkeit ist der Natur immanent und zeigt sich exemplarisch in Vögeln, Lilien und dem Wasser.

Das Beispiel vom Wasser, welches stets nach unten fließt und niemals nach oben strebt, deutet auch Jesus in der Bibel an. Er spricht in Lk 14,11 davon, dass diejenigen erhöht werden, die sich selbst erniedrigen, aber diejenigen, die sich selbst erhöhen, also jene, die nach „oben streben“, erniedrigt werden. Dieses Gesetz wird im Taji an den Bewegungen deutlich. Man steht nur selten sehr hoch, die größte Sicherheit hat der Übende, wenn er so nah wie möglich am Boden ist. Je tiefer der eigene Schwerpunkt, desto fester ist der Stand. Im Taiji wird ein weiterer Satz Jesu deutlich. Er spricht in Mt 19,30: „So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.“ In den Partnerübungen wird diese Botschaft besonders deutlich. Ein Taiji-„Kämpfer“ tut nie den ersten Schritt in die Konfrontation, aber wenn es zu einer Konfrontation käme, würde er als erster zuschlagen, obwohl er als zweiter gestartet wäre. Taiji ist als eine sehr friedvolle Kampfkunst bekannt. In Anlehnung an Laotses Weisheiten wird die Wichtigkeit des Friedens und der Gewaltlosigkeit kenntlich. Im 30. Kapitel schreibt Laotse: „(…) Waffen wenden sich oft gegen den, der sie einsetzt (…)“. Diese Warnung spricht Jesus in einer verblüffenden Ähnlichkeit aus. In Mt 26,52 heißt es: „Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.“

Absichtsloses und mitfühlendes Handeln sind zwei Kernaspekte des Taji und des christlichen Lebensentwurfes. Die beiden großen Weisheitslehrer, Laotse und Jesus, haben Nachgiebigkeit und Frieden postuliert. Taji, als taoistische Kampfkunst, verkörpert wesentliche Aspekte dieser Lehren. Im Taji ist der Frieden nicht das Ziel, sondern der Weg.

Ein abendländischer Taoismus

Der Taoismus ist im westlichen Denken verwurzelt. Auch wenn keine direkte Verbindung besteht, so sind doch die Gemeinsamkeiten zwischen den abendländischen Schulen und dem Taoismus auffällig. Auch wenn im Zuge der abendländischen Entwicklung viele Ideen vergessen wurden, so sind Grundzüge taoistischer Ideen weiterhin präsent. Diese Grundzüge lassen sich vor allem in der Bibel finden. Zwar sprechen Laotse und Jesus in zwei verschiedenen Kulturkreisen, aber ihre jeweiligen Botschaften weisen einige Gemeinsamkeiten auf. Das absichtslose Handeln, welches im Taoismus eine wesentliche Rolle einnimmt, wird auch von Jesus im Gleichnis von den Vögeln und Lilien als ein erstrebenswerter Zustand gefordert. Vorurteilsfreiheit, Frieden und Nachgiebigkeit sind zentrale Forderungen, die nicht nur in der Bibel und im Tao Te King niedergeschrieben sind, sondern einen allgemeinen Anspruch in vielen Weltanschauungen erheben. Trotz der Gemeinsamkeiten zwischen dem Tao Te King und der Bibel muss dennoch darauf verwiesen werden, dass zwischen den verschiedenen Strömungen auch grundlegende Unterschiede bestehen. Diese Unterschiede können nun als Hindernis oder aber als Bereicherung wahrgenommen werden. Hierbei ist eine Stellungnahme des Betrachters erforderlich.

Autor: Christoph Eydt

Fotos: Loni Liebermann

Der lachende Buddha

Buddha