Das Buch der Wandlungen (I Ging) und die Taiji-Prinzipien

Philosophie

Die Einübung des aufrechten Gangs

I Ging und Taiji

Das Buch der Wandlungen ist ein geistiges Gesamtbild des sich unablässig bewegenden Kosmos. Jede Bewegung entwickelt sich aus der wechselseitigen Resonanz von Yin und Yang, von Männlichem und Weiblichem. Durch die Darstellung die komplexen Verwebungen von Yin und Yang entsteht ein Weltbild, das die chinesische Kultur in all ihren Entwicklungen wesentlich geprägt hat.
Dieses Weltbild steht auch  hinter  den  Prinzipien des Taijiquan. Hierüber wurde und wird von chinesischen Meistern und Gelehrten viel geschrieben (Bsp). Zumeist werden die acht Trigramme in Bezug zu Taiji-Formen gesetzt, es wird versucht, direkte Entsprechungen aufzuzeigen. Solche  Erklärungsmodelle sind jedoch für den westlichen Leser oft schwer nachzuvollziehen. Deswegen  möchte ich im Folgenden von persönlichen Erfahrungen ausgehen:  Durch die Praxis des I Ging und durch die  Übung des Taiji eröffnen sich gleichermassen Einsichten in die beiden Wegen zu Grunde liegende Strukturen.
Weil diese Wege beide in dem Ruf stehen, nur nach Jahren der Übung verstanden werden zu können, möchte ich die Polarität von Yin und Yang am Beispiel der Beziehung zwischen Mann und Frau aufzeigen. Es sollte hierbei deutlich werden, daß das Thema ganz unabhängig vom chinesischer Tradition allgegenwärtig ist.

Die Polarität von Yin und Yang in der Paarbeziehung

I Ging und Taiji

Das Bedeutungsspektrum von Yin und Yang ist weit und offen, aber letztlich nicht durch andere Begriffe zu erklären. Die Gleichsetzung mit dem „Männlichen und Weiblichen“ scheint mir  sinnvoll, weil auch dies  offene Begriffe sind, die aber eine menschliche Urerfahrung ausdrücken:  Zum Beispiel macht der neugeborene Säugling  elementare Erfahrungen mit dem Mütterlichen und dem Väterlichen, die sein Welterleben (und sein späteres Leben) wesentlich strukturieren. Ebenso prägt die sexuelle Identität des Menschen sein ganzes Leben in einer Weise, die nicht tiefer und entscheidender sein könnte – die Interaktion zwischen Männlichem und Weiblichem  ist  der  Stoff, aus dem unsere Lebensgeschichte gewoben wird.
Die Polarität von Männlichem und Weiblichem erleben  wir  jeden Moment: Sei es in Beziehungen, sei es in alltäglichen Haltungen und beruflicher Kommunikation. In Beziehungen erfahren wir alle das Wechselspiel von führen und folgen, von reden und zuhören, von verändern und Gewohnheiten pflegen, von Stärke und Schwäche, von Drang in die Selbständigkeit und Wunsch nach Geborgenheit…..Die Liste ließe sich beliebig erweitern… Obwohl diese männlich-weiblichen Qualitäten an sich noch nichts mit chinesischer Philosophie zu tun haben, lassen sie sich im Sinne der  Yin-Yang-Polarität erfahren: Beide Qualitäten sind aufeinander bezogen und beide sind in  sich neutral, d..h weder  positiv noch negativ. Negativ werden sie  in dem Moment, in dem sie den Bezug verlieren: Wenn der eine zu viel  redet und nicht mehr merkt, ob der Partner ihm zuhören kann, wenn einer nur Freiheit will, und den anderen in seinem Wunsch nach Stabilität allein läßt — umgekehrt, wenn ein Partner nur Gewohnheiten pflegen will, aber keine Veränderung zulassen will…Es gibt  viele Beziehungssituationen, in denen der Bezug von Männlichem und Weiblichem verloren geht und zusammen mit dem Bezug die positive Wirkkraft und der kreative wechselseitig-gestaltende Prozeß. Das kann sich dahingehend auswirken, daß  der Mann der Frau zu große Gefühlsduselei vorwirft und sie ihm Gefühlskälte, daß der eine Partner immer nur neue Ziele ansteuern will, aber der andere sich durch diese Dynamik in seinem Wunsch nach festen Gewohnheiten und festem Rhythmus verlassen sieht.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, die Allgegenwärtigkeit von Yin und Yang zu verdeutlichen.  Eine gute, wechselseitige Anregung des Männlichen und des Weiblichen ist die Basis des Lebens schlechthin: Obwohl ich jeweils selbst nur ein Pol – eine begrenzte Ausgestaltung – bin, kann ich in einer guten Bezogenheit auf den anderen Pol über mich hinauswachsen und in allen Lebensbereichen ein umfassendes Gleichgewicht finden.

Das I Ging – Abbild der geistigen Ordnung des Wandels

I Ging und Taiji

Die  Wandlungsbewegungen im Kosmos werden im Buch der Wandlungen durch Symbole, Bilder und Texte dargestellt (Vgl.Heft Nr.40) Die Striche für  Yin und Yang bilden in dieser Symbolik die Grundbausteine des Lebens, dargestellt in einem offenen System, das Chaos und Ordnung, Stabilität und Kreativität in sich vereint. Doch wie kann ein so umfassendes geistiges System mir auf eine persönliche Frage antworten? Ist das I Ging tatsächlich in der Lage, diese oft unübersehbar scheinende Fülle des Lebens abzubilden und dazu uns noch konkret Antwort zu geben auf die drängendsten Fragen des Augenblicks?
Oft habe ich erfahren, daß eine der tröstendsten  Wirkungen einer Befragung  das Gefühl war, daß ich eine so exakte Antwort erhielt, daß ich tatsächlich verstanden worden sein muß: Meine Frage, die ich zuerst  nur für  meine Frage hielt und die mir das Gefühl gab, allein und abgeschnitten vom Rest der Welt zu sein, schien plötzlich in einem geistigen Kosmos geborgen, es schien tatsächlich so, als seinen in diesem Kosmos alle Fragen verborgen, die Menschen je hatten und haben werden.
Es ist dieses Erleben des großen Zusammenhangs aller Dinge, der in dem System der 64 Hexagramme symbolisch ausgedrückt ist.  Dies bedeutet, daß keine Situation für sich alleine steht  – sie ist mit immer verbunden mit Gewesenem und Kommendem, sie ist vielfältig eingebettet in innerseelische und physische Vernetzungen,  die wir zumeist nicht oder nur in geringem Umfang wahrnehmen. So ist auch jedes Hexagramm zwar der Spiegel einer  herausgehobenen Situation, gleichzeitig ist es jedoch eingebettet  in die vielfachen Verwebungen mit den anderen 63 Hexagrammen. Es schildert in gewisser Weise eine Extremlage und spiegelt eine besondere Lebenssituation, die immer gleichzeitig auch Ausdruck eines (inneren oder äußeren) Ungleichgewichts von zu viel Yin oder zu viel Yang ist.  Allein aber durch das Erkennen  des Ungleichgewichts und seiner Entwicklungstendenzen kann der Mensch in sich jene Kräfte wecken, die ihm helfen, zumindest  das innere Gleichgewicht zu finden und in einer Weise auf die Situation zu antworten, die zu einem guten Wandel führt. (Bsp. Ausbildung – Brunnen!)
Der Umgang mit dem Buch der Wandlungen führt in die wachsende Selbsterkenntnis und stärkt das Vertrauen in den Urgrund: Man lernt, das Leben als eine Reise zu begreifen, die zwar immer  viele unerwartete und auch manchmal schwer zu verstehende Überraschungen bereit hält, die  sich zumeist aber als  notwendige Stufen auf dem Weg zur eigenen Lebensfülle entpuppen.
Ab einem gewissen Grad der Vertrautheit mit dem I Ging  versteht man die „Zeichen der Zeit“ zu deuten und wird, wie Rilke so schön in einem Brief ausgedrückt hat, „dem Leben immer ähnlicher“: Am Ende kann es sein, daß man die Zeichen der Zeit selbst so gut entziffern kann, daß man das Orakel nicht mehr zu befragen braucht. (S.Hex.49). Wer solchermaßen frei geworden ist, dessen  dessen Geist wird geschmeidig in der Bewegung  und fest in seiner Haltung – bereit, sich vom  Strom des  größeren Lebens tragen zu lassen.

Taiji – die   kosmische Ordnung  im Körper erfahren

Sobald wir gesammelt und aufmerksam, entspannt und gut geerdet beginnen, uns dem fließenden Ablauf der Taiji-Form anzuvertrauen, treten wir in einen Zustand ein, der nicht mehr von den Sorgen und Zielen, Ängsten und Zweifeln des Alltagsbewußtseins dominiert ist. Auch wenn diese selten mit dem Üben einfach verschwinden – eine gute Übungssequenz hat immer auch die Wirkung,    daß das sich sorgende, isolierte und unruhige Ich-Bewußtsein zur Ruhe kommt und wir uns dem Wandel von voller und leerer Gewichtung, dem Öffnen und schließen, dem Steigen und Fallen hingeben können: Durch die ganze Form hindurch ist es der stetig-fließende  Wandel von Yin und Yang, der unseren Körper und unseren Geist bewegt und ihn hierdurch in einen größeren Zusammenhang einbettet. Dieser Zusammenhang drückt sich auch in dem Ablauf der einzelnen Stellungen aus. Diese werden zwar auch isoliert geübt, aber die eigentliche Taiji-Erfahrung eröffnet sich nur durch die ganze Form.
Nur in der ersten und in der letzten Stellung (mit Ausnahme der Kreuz-Hand) ist das Gewicht in den Beinen gleich verteilt – alle anderen Stellungen sind Ausdruck von Kampf-Haltungen, in denen das Gleichgewicht in der Bewegung gesucht wird. Jede Stellung ist somit – den einzelnen Hexagrammen vergleichbar – eine herausgehobene Situation, in der bestimmte Qualitäten oder Energien geübt werden können.  Doch die Übung besteht immer auch in der Verwurzelung in die Erde – im Sinken. Mit anderen Worten: Jede herausgehobene Situation ist  eingebunden in den Ablauf der ganzen Form und in die aufrechte und in den Boden verwurzelte Grundhaltung.
Wenn man beginnt, zu  erspüren, wie sich die Bewegung aus dem inneren Energiefluß ergibt, wird diese nicht mehr aus dem Gefühl heraus entstehen, daß die Form stimmen muß, sondern aus der inneren Wahrnehmung von Yin und Yang, von Stoßen und Zurückziehen, von Steigen und Fallen. Man kann den Moment in sich wahrnehmen, in dem das Öffnen in das  Schließen, das Zurückrollen in das Pushen übergehen will. So wird man frei von „der Form“ und gestaltet sie aus seinem eigenen Körper und Geist neu: als Abbild der uralten kosmischen Ordnung, die jedoch in diesem Moment einzigartig verwirklicht wird. Auch dieser Erfahrung  wird von Taiji-Übenden seit Jahrhunderten als ein Fließen beschrieben – ein Eintreten in den Strom des Lebens, der sich aus dem rythmischen Wechsel von  Festigkeit und Weichheit, von Erdung und Öffnung zum Himmel, von Geschmeidigkeit und Entschiedenheit der Bewegung ergibt.

In der Bewegung des Lebens Ruhe finden

I Ging und Taiji

Der uralte daoistische Gedanke des „tunlosen Tuns“ (weiwuwei) stellt für westliches Verständnis einen unauflösbaren Widerspruch dar: Entweder ich bin aktiv oder passiv, ich wirke in der Realität oder ich ziehe mich zurück. Die Bereiche des Profanen und des Heiligen haben im Abendland eher selten zu einer guten Synthese gefunden.
Im Buch der Wandlungen finden wir jedoch ein subtiles Weltbild, das die Polarität von  Heiligem und Profanem, von  Tun und Nicht-Tun in vielen Facetten zeigt. In vielen Orakeltexten lesen wir die deutliche Aufforderung zu Geduld und Beharrlichkeit: Zumeist, wenn wir voller Tatendrang neue Ziele ansteuern wollen, wenn wir ungeduldig ein Ergebnis wollen, bevor wir  die notwendigen „kleinen“ Schritte gegangen sind. Aber es gibt auch die entgegengesetzten Botschaften: Wenn wir zu träge oder zerstreut sind, wenn wir unsere Kraft nicht fokussieren und nicht „in die Gänge kommen“, dann werden wir mitunter streng aufgefordert, die Energie ins Fließen zu bringen. Wenn uns diesen Botschaften anvertrauen, werden wir langsam erkennen, das hinter ihnen eine freundliche Aufforderung zum Gleichgewicht von Yin und Yang liegt – ein Gleichgewicht, das in jeder Phase des Lebens und oft auch in jeder Situation neu gefunden werden will. Doch je tiefer wir dieses Prinzip verstehen, desto leichter fällt es auch, diese Bewegtheit des Lebens anzunehmen und gerade in ihr die Ruhe zu finden.
Diese wechselseitige Verwobenheit von Bewegung und Ruhe erfahre ich auch im Taijiquan  zunehmend als Paradox, als ein Schlüssel zum tieferen Sinn der Übung: Je besser ich sinken und mich in den Stand hinein entspannen kann, je gelöster die Muskeln und die Atmung sind, desto mehr erlebe ich die Bewegung – desto beweglicher fühle ich mich. Gleichzeitig vertieft sich meine Wahrnehmung des Umfelds – der anderen Übenden, des Ablaufs der Form, der geistigen Impulse und Blockaden. In den guten Momenten der Übung erahne ich das große Potential des Lebendigen in mir und um mich herum – gerade weil ich zu einem tiefen Erleben der Ruhe gekommen bin.

Ausblick

Eine Vertiefung in das I Ging verlangt Geduld und Ausdauer, denn es geht nicht nur um das Verstehen eines unvergleichlich tiefen Weltentwurfs, sondern um die Beziehung zum  eigenen Leben: Erst wenn ich die Botschaften für mich verstehen und verwirklichen kann, kann ich aus dem Weisheitsschatz dieses Werks schöpfen. Wer als Taiji-Übender beginnt, sich dieser Welt zu öffnen, wird sicher nicht auf den ersten Blick Parallelen ziehen können. Doch wer die Wirksamkeit des Orakels als eine lebensbegleitende geistige Präsenz zu erfährt, wird  gleichzeitig auch ein neues Verständnis für den geistigen Nährboden des Taiji entwickeln. Es eröffnet sich ihm ein kreativer Raum, in dem er die  Facetten des Wechselspiels von Yin und Yang in seinem Leben gestalten lernen kann.

Autor: Henrik Jäger

Kaligraphien: Henrik Jäger