Von Wang Ning
Der Anfang wird in der chinesischen Schrift durch vielerlei Bilder dargestellt – Geburt, Kopf, Quelle, Morgenlicht, Osten, Frühling, Wurzel, das Öffnen einer Tür und anderes mehr. Den eigentlichen Anfang bildet die Eins, die wiederum als Beginn des Universums gleichzeitig das Ganze beinhaltet. Als waagerechte Linie hat sie zwei Enden, die gleichermaßen Anfang und Ende sein können.
Das Alphabet beginnt mit einem A. Auch das moderne chinesische Wörterbuch beginnt mit einem Zeichen, das »A« gesprochen wird. Dieses Schriftzeichen weist besondere Merkmale auf. Wir befinden uns in einer Höhle und sehen eine Höhlenmalerei an: Viele Menschen jagen, manche haben Stöcke in der Hand, manche Steine, manche haben nur ihre Fäuste, sie schreien laut, ein großes Tier rennt weg, die Menschen fangen das Tier, indem sie es von einer steilen Felswand hinunterscheuchen … Das Schriftzeichen kürzt die gesamte Jagdszene ab: ein Mund, ein Berg, ein Mensch und noch ein Mund.
Das Schriftzeichen beschreibt lediglich einen Ton – A. Ausgerechnet A, nichts anderes? Es kann nichts anderes sein! Die Jagdgeschichte sagt uns, wenn man den Mund am weitesten aufmacht, kommt der lauteste Ton heraus. Das ist A. A ist ein weit geöffneter Mund. Der Mund bildet eine große Kreisform: Vor ihm die Welt unter dem Himmel, hinter ihm eine unendliche »Höhle«.
Lassen Sie uns noch eine Weile in der Zeit der Höhlenmalerei verweilen. Wir sehen dann den »Anfang«, der einige Zeit zurückliegt. Es ist ein »Shi« (Anfang) – eine Frau gebärt ein Kind. Sein Kopf »Yuan« (Anfang) oder auch »Shou« (Anfang) berührt den Himmel, sein Fuß berührt die Erde. Schon haben sich die drei Kräfte Himmel, Erde und Mensch vereint. Das Kind steht nun zwischen Himmel und Er- de. Die Mutter näht aus Tierfell und Blättern ein Kleid »Chu« (Anfang), bringt es zur Quelle »Yuan« (Anfang), damit es Wasser zu trinken hat und es später selbst findet. Es schläft und wacht wieder auf, es erblickt das Morgenlicht »Chen« (Anfang). Die Sonne geht im Osten »Dong« (Anfang) auf. Es gedeiht und wächst, irgendwann geht das Kind den ersten Schritt (»Qi« – Anfang/Start).
Der Frühling »Chun« (Anfang), der Sommer »Xia«, der Herbst »Qiu« und der Winter »Dong« wiederholen sich. Die Bäume ändern ihre Farbe, die Blätter kommen »Lai« (Anfang) und fallen wieder zur Wurzel »Gen« oder »Ben« (Anfang). Das Kind wird erwachsen, eines Ta- ges öffnet es seine Tür »Kai« (Anfang)und darf mit auf die Jagd gehen. Später gründet es eine eigene Familie und baut das Fundament (»Ji« – Anfang) für das eigene Haus. An einem sonnigen Abend erzählt es den Enkelkindern von den Urgroßeltern »Zhu« (Anfang der Sippe) … Alle diese Wörter bedeuten unmittelbar den Anfang. Man kann sie fast ganz frei zu vielen Begriffen für den Anfang zusammensetzen, die zu diesen oder jenen Anlässen verwendet werden. In der deutschen Sprache finden wir vor allem folgende Wörter dafür: Anfang, Ursprung, Start, Wurzel, Herkunft, Eröffnung. Hierbei ist das Zeichen »Kai« besonders vielfältig. Das Zeichen setzt sich zusammen aus einer Tür und zwei Händen, die gerade die Tür öffnen. Wenn man die Tür öffnet, bedeutet das symbolisch, dass man mit einer Sache anfängt. Man kann nahezu alles »öffnen«. Hier sind einige Beispiele: Derjenige, der zuerst geht, heißt »Kai Dao«, das bedeutet den »Weg öffnen«. Blühen heißt hiermit »Kai Hua« – Blumen öffnen. Fahren heißt »Kai Che« – Wagen öffnen. Operation heißt »Kai Dao« – Messer öffnen. »Kai Xin« – das Herz öffnen bedeutet Freude haben, »Kai Ming« – Helligkeit öffnen bedeutet aufgeklärt, zivilisiert und Ähnliches.
Alle nach Radikalen verfassten Lexika beginnen mit einem »–«. Das »–« hat nur einen Strich. Es ist ein vollständiges Schriftzeichen. Da die Schriftzeichen nach Strichzahl sortiert sind, finden wir die Schriftzeichen mit wenigen Strichen immer vorne. Deshalb findet man dieses immer an der »ersten« Stelle. Das »–« bedeutet eins. Ihm nach folgen zehntausend Sachen, in dem Fall zehntausend andere Wörter.
Im Chinesischen ist die Eins wahrscheinlich das wichtigste und am meisten verwendete Wort. – Bei einem kurzen Blick in das moderne Lexikon Xinhua bekommt man sofort diesen Eindruck. – Bereits im ersten Lexikon »Shuo Wen Jie Zi« (Wort- und Zeichenerklärung, etwa 100 n. Chr.) wurde die Eins als der »Beginn des Universums« bezeichnet, ganz entsprechend der Formulierung von Laozi: »Dao erzeugt die Eins, die Eins die Zwei und alle anderen Sachen.« Aus diesem Blickwinkel bedeutet die Eins zweifellos das »Ganze«.
Die Eins ist das »Kleinste«, aber auch das »Größte«. Aus bestimmten Wortkombinationen können wir das leicht und besser verstehen, wie zum Beispiel »einigen« oder »vereinen« – auch hier finden wir die Bedeutung, dass »aus allen eins gemacht« wird. In der westlichen Philosophie haben viele bereits darüber geschrieben.
Betrachten wir »–« als einen bildhaften Gegen- stand, wird dieser in der Orakelschrift durch ein ganzes Stäbchen dargestellt, daher wird er als Yang-Linie bezeichnet, während die gebrochene Linie »- -«, also zwei gebrochene kurze Stäbchen, als Yin-Linie bezeichnet wird. Das Yijing – das Buch der Wandlung erklärt ausführlich die Kombinationen aus diesen bei- den, die 64 Hexagramme bilden. »–« ist nicht nur eine Ziffer in der Mathematik, sondern ein Symbol des daoistischen Denkens. Betrachten wir »–«, kann man es einen geraden Querstrich nennen, es hat einen Anfang und führt zu einem anderen Ende, beide Seiten können der Anfang sein, wenn der Strich ganz gerade ist, treffen sich der Anfang und das Ende nie, so lautet eine mathematische Regel, wobei das »Ende« in der Ziffernreihe eigentlich »zehn« ist. Zehn wird in der chinesischen Schrift wie ein Kreuz dargestellt – »+«. Noch eine gerade Linie, die sich in einer anderen Richtung erstreckt. Das »+« zeigt einen neuen Anfang in einer anderen Richtung. So kann es unendlich geschehen, wenn die Frage kommt, was dann passiert oder was vorher war? Für einen ist et- was der Anfang, für einen anderen bedeutet es das Ende. Also bedeutet »–« Anfang und Ende. Das kann nur passieren, wenn es sich um einen Kreis handelt. In einem Kreis setzt man einen Punkt an, der ist der Anfang und das Ende. Eine gerade Linie ist nur dann gerade, wenn man sie als ein Stück betrachtet. Wenn man sie im Ganzen betrachtet, ist sie ein Kreis.
Das westliche christlich geprägte Denken betont das »–«. Man betrachtet es als ein Stück, daher ist es für einen wichtig, dass er jetzt und heute lebt, was das Leben vorher war und was es später sein wird, spielt keine Rolle. Das führt dazu, dass das Individuum gefördert wird. Dagegen denken die Chinesen anders, sie sehnen sich nahezu fanatisch nach einem besseren späteren Leben, das heißt sie arbeiten an ihrem früheren Leben und ihrem jetzigen Leben und ihrem zukünftigen Leben – ein Kreis » o «. Dao – den Weg gibt es, wenn man anfängt zu gehen. Auch hier in der Kalligraphie beginnen wir mit einer Eins – dem Querstrich. Man setzt den Pinsel an (Anfang), bewegt ihn rhythmisch und zieht sorgfältig eine Linie (Weg gehen), setzt den Pinsel wieder an (Ende) und führt den Pinsel zurück, um einen neuen Strich zu ziehen.