Shi Jian – die Zeit

Von Wang Ning

Der chinesische Begriff für Zeit beinhaltet gleichzeitig zeitliche wie räumliche Aspekte. Er umfasst Anfang, Unendlichkeit und Ende – die Unendlichkeit wird wiederholbar und Zeit damit bedeutungslos. Für die Menschen erhält sie durch das Streben nach einem langen Leben jedoch wieder große Wichtigkeit.

Shi_Jian

In der chinesischen Philosophie hat man sehr selten direkt das Wort »Zeit« erwähnt, dafür gibt es »Dao« – den Weg, der sowohl die Zeit als auch den Raum umfasst. Die Erkenntnisse sagten, dass die Menschen in einer begrenzten Zeit leben, un- unterbrochen von Unsterblichkeit träumen und an ihrer Vergangenheit arbeiten müssen. Dao ist in diesem Sinne nicht nur eine Weltanschauung, sondern die direkte Lebensphilosophie.

Der chinesische Begriff für die Zeit heißt Shi Jian, wobei das Zeichen Shi bereits die Zeit darstellt, die sowohl ein »Moment« als auch eine »Zeit lang« wie eine ganze »Saison« oder »Periode« sowie »Jahreszeit« bedeutet, während Jian eigentlich den »Raum« repräsentiert, der wiederum den »Zwischenraum« wie eine »Spalte« sowohl zeitlich als auch räumlich bezeichnet. – Da ich in alter Literatur den Begriff für Zeit nicht mit diesen beiden Zeichen zusammen gefunden habe, gehe ich davon aus, dass es sich hier um einen modernen Begriff handelt. – Die Zeit kann nicht ohne Raum existieren. Das passt ganz gut zur westlichen Philosophie der Dimensionalität, ein Thema, das Mathematiker, Physiker und auch Astrowissenschaftler weiter beschäftigen wird. Das Zeichen Shi für die Zeit setzt man aus »einer Sonne und einem Tempel« zusammen, wobei der Tempel durch die Symbole »Hand und Räucherstäbchen« im Sinne eines Gebets dargestellt wird. Das Sonnenlicht steht für die göttliche Kraft, die unsere Welt erschafft. Deswegen haben die Menschen zu ihr gebetet. Das Zeichen Sonne selbst stellt auch den »Tag« dar, vor allem ihr »Auf- und Untergang« symbolisieren einen Zyklus, der sich immer wiederholt. So wird beispielsweise Ming für Morgen aus einer »Sonne und einem Mond« zusammengesetzt, in der Andeutung, dass die Sonne den Mond ablöst. Das ist der Morgen, eben der Tagesanbruch. Für die Nacht ist der Mond zuständig.

Schriftzeichen Jiu
Das Schriftzeichen Jiu – ewig kann man als abstrahierte Darstellung eines Menschen lesen, der am Feuer steht und beispielsweise einen Schildkrötenpanzer zur Orakelbe- fragung hineinwirft.

Das ist der Moment, in dem die Menschen an »Zeit« denken müssen. Sie fangen an zu zählen und zu rechnen, indem sie eine »Sonnenuhr« errichten: Gui, zu einer Säule aufgehäufte Erde. In der Folge entstehen eine Menge Worte wie etwa Stunde (Shi Chen), Tag (Ri), Monat (Yue), Vier-Jahreszeiten (Si Ji), Jahr (Nian) und die zehn Himmelsstämme (Tian Gan) und zwölf Erdzweige (Di-Zhi), mit denen die größeren Zeitzyklen berechnet werden. Man erfindet die »Glocke« – Zhong (Uhr), um die Zeit anzukündigen. Das Wort für Trigramm oder Hexagramm im Yijing heißt Gua, man setzt es aus Gui und Bu zusammen. Das bedeutet, man wirft an einer Sonnenuhr kurze und lange Stäbchen, um eine Antwort zu bekommen.

Man fängt ebenfalls an, zur Sonne zu fragen: Seit wann gibt es die Zeit schon? Wann beginnt sie? Wann endet sie? Das Zeichen Jian für den Raum oder Zwischenraum setzt man aus »einem Mond oder einer Sonne in einem Tor« zusammen. Das Zeichen ist Shi als neuem Begriff für Zeit hinzugefügt worden. Jian stellt einerseits das Licht dar, dass durch eine Türspalte scheint, somit hat der Zwischenraum nicht nur die Breite der Türöffnung, sondern auch die Länge des einfallenden Lichts. Dabei bildet das Licht eine Fläche, die auf dem Boden zu sehen ist.

Diese Darstellung sagt aus, dass der Raum eigentlich nur der Zwischenraum sein kann. Zhong- Jian heißt die Mitte, womit der mittlere Raum gemeint ist, der Platz, den wir im Taijiquan und Qigong immer suchen. Die Fragen häufen sich: Wie groß ist der Raum? Wie tief ist er? Wie sieht er aus? Dafür werden wie- der eine Menge Worte geschaffen, um ihn zu messen und zu berechnen. Kreisrund (Yuan)? Oder quadratisch (Fang)? Oder ballförmig (Qiu)?

Zeichen Gua

Man kann mit einer kurzen Frage all diese Fragen zusammenfassen: Wie sieht die Zeit aus? Bei der Orakelbefragung nimmt man einen Schildkrötenpanzer, in den man vorher an einer Stelle ein kleines Loch gebohrt hat, und legt ihn ins Feuer. Der Panzer zerspringt an der Stelle, wo das Loch ist. Das Bild Zhao, das sich dabei zeigt, ist die Antwort, es ist das Zeichen für »Vorhersage«, abgeleitet für das »Omen«, also das »Schicksal«. Das Zeichen deutet auf vielfältige Splitterungen hin, die in »alle Richtungen« gehen, niemals gleich sind. Daher ist Zhao auch die für damals und die für heute höchste Zähleinheit – eine Million oder jetzt eine Billion.

Das chinesische Schriftzeichen für die Ewigkeit Jiu wird nach dem Philosophen und Wissenschaftler Mozi als Erklärung über die Zeit gesehen. Ewig beinhaltet den Anfang und in der Mitte (Zhong Jian) die Ewigkeit, und das Ende. Und die Zeit be- findet sich in Yü – dem Raum, der sich nach Osten, Süden, Westen, Norden und in der Mitte – in alle fünf Richtungen ununterbrochen und grenzenlos ausdehnt.

Zhong-Jian

Im daoistischen Denken stellt ein Kreis als Bild die Welt dar, es passt viel mehr zum menschlichen Leben. Der Verlauf des Lebens im Kreis deutet darauf hin, dass die Unendlichkeit sich wiederholt. Insofern können wir die Zeit vergessen. Dennoch träumen die Menschen von Unsterblichkeit. Ein langes Leben wird als höchstes Ziel gesetzt. Daher spielt die Zeit jetzt wiederum im Leben eine wichtige Rolle. Die heutige westliche Philosophie definiert die Zeit: Die Zeit beschreibt die Abfolge von Ereignissen, hat also im Gegensatz zu anderen physikalischen Größen eine eindeutige, unumkehrbare Richtung. Die Zeit ist in der Physik als Fortschreiten der Gegenwart von der Vergangenheit kommend zur Zukunft hin beschreibbar.

Dao – den Weg gibt es, wenn man anfängt zu gehen. Auch in der Kalligraphie beginnen wir mit einer Eins – dem Querstrich. Man setzt den Pinsel an (Anfang), bewegt ihn rhythmisch und zieht sorgfältig eine Linie (Weg gehen), setzt den Pinsel wieder an (Ende) und führt ihn zurück, um einen neuen Strich zu ziehen. Der geschriebene Strich ist die Vergangenheit, während man schreibt, ist er die Gegenwart und was man noch schreiben wird, ist die Zukunft. So bewegt sich die Zeit.

Eins bedeutet Anfang und damit ist Taiji gemeint. Dao – der Weg- baut auf dieser Eins auf, erschafft den Himmel und die Erde und verwandelt sie in alle „zehntausend Dinge“ (Wan Wu)
Eins bedeutet Anfang und damit ist Taiji gemeint. Dao – der Weg- baut auf dieser Eins auf, erschafft den Himmel und die Erde und verwandelt sie in alle „zehntausend Dinge“ (Wan Wu)
Mit_Zhong_wird_die_Glocke_be-_zeichnte_die_die_Zeit_anzeigt_und_damit_auch_die_Uhr.
Mit Zhong wird die Glocke be- zeichnte, die die Zeit anzeigt, und damit auch die Uhr.
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Zhao, die Vorhersage, leitet sich ab von den Sprüngen in einem zur Orakelbefragung benutzten Schildkrötenpanzer.

 

Der Philosoph und Wissenschaftler Mozi

lebte wohl zwischen 468 und 381 v. Chr. Er hat zu seiner Zeit viele Begriffe in der Mathematik und der Physik, in der Mechanik und in der Kampfkunst eingeführt. Von seinen Anhängern wurde er fast wie eine Gottheit verehrt.