Cheng Man Ching (鄭曼青, heutige Transliteration (pinyin): Zhèng Mànqīng; zur Zeit der ersten Verbreitung seines Tai Chi (nach Wade-Giles): Cheng Man-ch’ing; im Internet gewöhnlich: Cheng Man Ching)
*Juli 1902 / ✝︎ 26.März 1975
Ein Leben für die chinesischen Künste
Cheng Man Ching war ein chinesischer Arzt, Tai Chi-Meister und ein leidenschaftlicher Kalligraph, Dichter und Maler. Er ist Autor zahlreicher eigener Schriften und wird als „Ghostwriter“ von Yang Chengfu’s Buch über Form und Anwendung des Yang-Stil Taijiquan betrachtet.
Seine bekannteste Neuerung auf dem Gebiet des Taijiquan ist die Erfindung und die Verbreitung der Kurzform als vollwertiges Mittel in modernen Zeiten Tai Chi zu lernen und zu unterrichten sowie die Reduzierung der Waffenformen auf eine einzige – die Schwertform. Diese Veränderungen können verstanden werden als Schritte, um mehr Raum für die praktischen Aspekte des Tai Chi zu schaffen: Push Hands und Schwertfechten waren ein ständiger Bestandteil von Cheng Man Ching’s Tai Chi-Unterricht und können als dritte Säule seines Tai Chi bezeichnet werden. Cheng Man Ching’s bemerkenswerteste Innovationen bzgl. des Yang-Stil Taijiquan, die Hand der schönen Dame (fair lady’s hand) und der höhere Stand — beide feine, aber dennoch bestimmte Veränderungen des traditionellen Yang-Familienstils — leiteten sich auch von seinen praktischen Studien der chinesischen Medizin her.
Cheng Man Ching ist eine der zentralen Figuren, die Tai Chi in den Westen gebracht haben. Als er nach New York zog und somit selber das erste Pflänzchen pflanzte, setzte er einen Prozess in Gang, bei dem es seinem Tai Chi vergönnt war, schließlich auf drei Wegen Europa zu erreichen: über seine SchülerInnen in den USA, über Taiwan sowie über Malaysia.
Cheng Man Ching’s Lebensleistung ruft das Bild eines Menschen zwischen dem Alten und dem Neuen hervor, zwischen Tradition und Moderne. — Folge uns auf einer Reise durch die Geschichte und bekomme einen tieferen Einblick in Cheng Man Ching’s Leben!
Cheng Man Ching’s Kindheit und Jugend
Cheng Man Ching wurde 1902 in Yongjia geboren, einer Siedlung an der Küste des chinesischen Festlandes. Sein Geburtsort existiert heute nicht mehr — heutzutage befindet sich an dieser Stelle Wenzhou.
Obwohl nicht viel über seine Familiensituation bekannt ist, fanden um die Zeit seiner Geburt einige weitreichende historische Ereignisse statt, die etwas Licht in das sozio-ökonomische Umfeld zur Zeit seines frühen Lebens bringen können.
Cheng Man Ching wurde kurz nach dem fehlgeschlagenen Boxeraufstand (1899-1901) geboren, in einer Zeit des Selbstzweifels und der Neuorientierung der Eliten. Das alte China mit seinem Mystizismus und Traditionalismus schien einen tödlichen Schlag erhalten zu haben – aber was nun? Alte Wahrheiten erschienen nicht mehr als vertrauenswürdig. Das Selbstbewusstsein, was auf jahrtausendealter Geschichte beruhte, war schwer geschädigt. China stand an den Toren der modernen Zeit.
Einige Jahre später wurde es offenbar, dass die alte Ordnung nicht überleben würde: Als Kind wurde Cheng Man Ching Zeuge des Endes der Qing-Dynasty, die 1912 nach fast 300 Jahren endete. Das Jahr 1912 markierte zugleich das Ende der Dynastie-Herrschaft in China, die bis dahin routinemäßig als über 4.000 Jahre zurückverfolgbar galt: die Herkunft der legitimen Ordnung wurde exakt bestimmt als aus mystischen Zeiten stammend — kondensiert in ein solides Reich mit strengen Hierarchien, die fraglos für die Ewigkeit gedacht waren.
Diese „Ewigkeit“ kam nun zu einem unzeitgemäßen Ende. Plötzlich, in Folge der Errichtung der ersten Republik in China, konnten Staatsführer gewählt und ein paar Jahre später fallen gelassen werden, allein dem Willen des Volkes nach, welches sich in einer simplen Abstimmung äußerte. Diese Veränderung muss zu den größten gerechnet werden, die damals vorstellbar waren. – Und der junge Cheng Man Ching als Heranwachsender war mittendrin.
Nach dem frühen Tod seines Vaters, wurde er von den Frauen in seiner Familie erzogen und ausgebildet, insbesondere von seiner Mutter und seiner Tante. Er bekam von frühem Alter an viele Impulse, indem er schon als Kind eine künstlerische Ausbildung genoss (und vermutlich auch erlitt). Er hatte verschiedene Lehrer in Shanghai, Hangzhou und schließlich in Peking, wo seine Tante eine bekannte Malerin war. Auch seinen ersten Kontakt mit der chinesischen Medizin machte er in diesen Jahren.
Cheng Man Ching’s Biographie verweist auf eine Familie, die gute Verbindungen in Künstlerkreisen hatte: verschiedene Stationen seines frühen Lebens eröffneten ihm die Welt der Malerei, der Poesie und der Kalligraphie.
Als junger Erwachsener: Professor für Schöne Künste
In Folge dessen war es vielleicht keine Überraschung, dass Cheng Man Ching schon in relativ jungen Jahren Anerkennung fand. Sein Nachruf zeichnet seine sich schnell entwickelnde Karriere nach: 1920 – Lehrer für Poesie an der Ye-Wen Universität; 1922 – Professor für chinesische Tintenmalerei an der Pekinger Akademie des Feinen Künste; 1925 – Direktor der Abteilung für Malerei an der Schule der Schönen Künste in Shanghai. Diese Zeit scheint für Cheng Man Ching prägend gewesen zu sein, da er den Titel „Professor“ für den Rest seines Lebens beibehielt.
Was für ein beeindruckende Leistung — Cheng Man Ching’s Leben schien darauf ausgerichtet, ein Leben für die schönen Künste zu sein.
Chinesische Medizin und Tai Chi in Zeiten des Krieges
1927 begann mit dem Aufstand der Kommunisten der chinesische Bürgerkrieg. Der sich daran anschließende Überlebenskampf der ersten nicht-dynastischen Ordnung auf dem chinesischen Festland lud Japan zu einer zweiten Invasion ein. — 1931 begann der Zweite Chinesisch-Japanische Krieg, der bis 1945 andauern sollte. Während des Krieges hinterließ die japanische Besatzung eines Großteils der östlichen Gebiete Chinas tiefe Spuren an den Schauplätzen von Cheng Man Ching’s Kindheit und Jugend sowie an seinen ehemaligen Arbeitsstätten. — Die älteren Menschen erlebten abermals den Horror der Japanischen Besatzung, den sie schon vom ersten Chinesisch-japanischen Krieges 1894/95 kannten, aber für den jungen Cheng Man Ching schien sich praktisch alles, was er bisher kannte für immer verändert zu haben — ein zweites Mal in seinem jungen Leben.
Cheng Man Ching’s Leben bewegte sich nun auf anderen Pfaden. Zunächst beschäftigte er sich noch mit seiner Karriere in der Bildung, gründete 1926 eine Gesellschaft für Chinesische Medizin und 1930 ein College für Chinesische Kultur und Künste. Dann kam Tai Chi in sein Leben. Schwer überarbeitet und an etwas erkrankt, was damals als Tuberkulose diagnostiziert wurde, fing er um 1930 an, für seine Gesundheit bei Yang Chengfu Tai Chi zu lernen.
Allerdings war der Wandel die einzige Konstante in seinem Leben: das Jahr 1933 erlebt Cheng Man Ching an der Zentralen Militärakademie; er unterrichtet dort Tai Chi Chuan. Während der Kriegszeit praktiziert Cheng Man Ching Chinesische Medizin und bringt militärischen Trainingsgruppen Tai Chi bei. Es kann nur darüber spekuliert werden, dass das Militär ebenfalls zu einem wichtigen Teil seiner Identität wurde, da er 1938 die 37er Form, die erste heute bekannte Variante seiner berühmten Kurzform, mit der Fußposition der militärischen Habacht-Stellung beginnen lässt und dies auch in späteren Versionen nicht mehr ändert.
1941 heiratete Cheng Man Ching. Er bewegte sich nun in politischen Kreisen — als Mitglied der Nationalversammlung, die gebildet wurde, um eine Verfassung für die chinesische Republik zu entwickeln, und als Repräsentant für die medizinischen Berufe in den Jahren 1946/47.
Nach dem Krieg — Ein neues Leben in Taiwan
Da er sich mit den Werten des „modernen China“ identifizierte im Gegensatz zur kommunistischen Herrschaft — und auch weil er vermutlich nach seinem militärischen Engagement kaum eine andere Wahl hatte — begab sich Cheng Man Ching 1949 nach Taiwan, wohin die nationalistische Partei des Bürgerkrieges, die Kuomintang, flohen, um ihre Herrschaft in Taipei zu errichten — als Besiegte.
In Taiwan schien Cheng Man Ching seinen Lebensstil aus Friedenszeiten wieder aufgenommen zu haben — nun mit der Ergänzung von Tai Chi in seinem Lehrplan. Er gründete die Shih Chung T’ai Chi-Gesellschaft, den zentralen Lernort für seine asiatischen SchülerInnen, und fuhr fort, Chinesische Medizin zu praktizieren. Er bildete zudem einen Künstlerkreis mit Freunden, wo sich mit Malerei und Kalligraphie beschäftigt wurde. Anerkennung wurde erreicht und es gab keinen Mangel an Arbeit: Cheng Man Ching bekleidete auch eine lebenslange Professorenstellung am College für Chinesische Kultur und unter seinen PrivatschülerInnen war die Mutter des Staatsführers Chiang Kai-Shek.
Tai Chi in den Westen bringen — Brücken zwischen Taipei und New York
Andererseits — warum nicht in die USA ziehen? 1964 zog Cheng Man Ching mit seiner Familie nach New York — ursprünglich auf Einladung einiger Mitglieder der chinesischen Gemeinschaft, um diese im Tai Chi zu unterrichten. Allein die Vorstellung: Manhattan, Chinatown, das New York der 60er — und mittendrin ein Meister der chinesischen Künste in traditioneller Kleidung!
Es schien als hätte die junge Generation auf so etwas gewartet in den Zeiten der Proteste gegen den Vietnamkrieg, des „flower power“ und der Suche nach einem passenden Guru. Die chinesische Gemeinschaft und die jungen Westler kamen nicht miteinander klar — aber Cheng Man Ching entschied sich, seine Arbeit dennoch fortzusetzen und das zu schaffen, was als sein eigentliches Meisterstück gelten kann: Tai Chi in den Westen zu bringen.
In nur wenigen Jahren machte sich Cheng Man Ching in New York einen Namen als „Meister der fünf Vortrefflichkeiten“ und inspirierte junge WestlerInnen alte chinesische Künste zu praktizieren. Obgleich er auch Malerei und Kalligraphie unterrichtete, sollte seine moderne Version des Tai Chi und seine an die westlichen SchülerInnen angepassten Lehrmethoden bei weitem die erfolgreichste der drei Künste sein.
Der hoffnungsvolle Gründungsvater dieser noch nicht voll entwickelten zukünftigen Tai Chi-Familie starb 1975 plötzlich während eines seiner Besuche in Taiwan.
Der letzte Teil von Cheng Man Ching’s (westlichem) Leben wird eingefangen vom englischsprachigen Film „Der Professor — Tai Chi’s Reise nach Westen“.
Für diesen Artikel genutztes Material: eigene Recherche (Internet und gedruckte Veröffentlichungen), mündliche Erzählungen von Ken van Sickle, Homepage der Familie Cheng [engl.] (bzgl. der Daten und Lebensstationen).
Autorin: Gabi Kannenberg
Fotos: Ken van Sickle und Nils Klug
Englische Version dieses Artikels