In der I Ging-Praxis das eigene Schicksal umarmen
Seit dem Erscheinen der meisterhaften Übersetzung des I Ging von Richard Wilhelm im Jahr 1924 hat es in Europa und den USA eine denkbar merkwürdige Geschichte durchlaufen und gestaltet: Abgesehen von wenigen begeisterten Lesern wie Hermann Hesse und C.G. Jung, Bob Dylan und John Craig, Fritjof Capra und Richard Smith gab und gibt es wenige Vertreter von Wissenschaft und Kultur, die sich ernsthaft mit der „Bibel Chinas“ auseinandersetzen. Allein schon die Benennung als ein „Orakelbuch“ löst heftiges Stirnrunzeln aus und so verwundert es nicht, dass das „Buch der Wandlungen“ nach wie vor ein Schattendasein in der esoterischen Schmuddelecke führt. Wer sich trotzdem aufmacht, die Kunst der Befragung und Deutung zu erlernen und die eigenen existentiellen Fragen auf diese Weise zu klären, wird erstaunliche Erfahrungen machen: Gerade in der Verbindung von existentiellem Anliegen, dem Ringen um die Grundfragen des eigenen Lebens und Wirkens mit dem tiefsinnigen Kosmos von Bildern, Symbolen und Texten, die in Jahrtausenden gereift sind, kann deutlich werden, wieviel Bildung, aber auch wieviel gutes Gespür und intuitives Denkvermögen notwendig sind, um diesem Buch gerecht zu werden.
Divination im Kontext der Wissensformen
Verschiedene Techniken der Weissagung gehörten auch in der antiken Welt Europas zum Alltag. Diese wurden im alten Rom unter dem Begriff „Divination“ (von lat. divinari „mit dem Göttlichen in Verbindung treten“) zusammengefasst. Hinter der Erfahrung, dass man durch ein Orakel oder eine Traumdeutung zukunftsrelevante Zeichen erhalten kann, stand auch hier eine hochkomplexe Kosmologie, die das Zusammenwirken von Makro- und Mikrokosmos in einer allumfassenden Resonanz (sympatheia) von Kosmos und Menschenleben erklärte.
In dieser Hinsicht gibt es zwischen den Grundauffassungen von Divination keine nennenswerten Unterschiede zwischen Europa und China: Die Erfahrung, mit dem Orakel in äußerlich und innerlich unübersichtlichen Zeiten Orientierung und Klärung zu finden, beflügelte das philosophische Denken. In China führte dies dazu, dass dem Ratsuchenden nahegelegt wurde, eine ethische Grundhaltung einzuüben. Nur dem „Wahrhaftigen“, so hieß es, würde sich die Antwort des I Ging erschließen, nicht demjenigen, der auf einen kurzsichtigen Vorteil aus ist.
Ein Grund, warum eine solche Praxis – trotz vielfach belegter, sinnstiftende, gut dokumentierter Befragungen – bis heute so gut wie keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit erwerben konnte, liegt vor allem darin, dass seit dem Ende der Renaissance der Vernunftbegriff so verengt wurde, dass alle Formen eines hermetischen, eines „verborgenen“ Zugangs zu Phänomenen der Natur und des Kosmos ausgeblendet wurden und werden. Allein die Astrologie hat sich einen gewissen Raum in der geistigen Welt Europas bewahren können – jedoch wird sie bis heute aus dem Bildungs- und Wissenskanon ausgeschlossen.
Seit Sigmund Freud im Wien des beginnenden 20. Jh. seine Klienten auf die Couch legte und sie bat, „frei zu assoziieren“, hat sich das Wissen um die erlösende und befreiende Wirkung des Erkennens unbewusster Inhalte und Muster auf den verschiedenen Wegen psychologischer Schulen verbreitet. Je fundierter solch ein therapeutischer Weg ist, desto klarer vermag er erfahrbar zu machen, was auch in einer Befragung des I Ging geschieht: Wer sich von verengenden unbewussten Überzeugungen lösen kann und anstatt dessen nährende, entwicklungsfördernde Bilder in sich aufnimmt, kann seine Vergangenheit anders sehen und seine Zukunft souveräner gestalten. Er erlebt sich nicht mehr als Opfer der Umstände, sondern gewinnt mit jeder neuen Entscheidung an Souveränität und vermag auf diese Weise „sein Schicksal zu umarmen“.
Die Befragung als Wechsel der Perspektive auf die eigene Geschichte
Jede mögliche Frage, die wir haben, steht in einem Zusammenhang mit den Grundthemen unseres Lebens, ja mit der Geschichte unseres Lebens selbst: Auf diese Weise ist eine jede Frage immer auch ein Mosaikstein der gesamten Geschichte. Je differenzierter und sorgfältiger vor einer Befragung die Frage geklärt, ihr Umfeld ausgeleuchtet und ihr Zusammenhang mit dem ganzen Leben bewusst wird, desto leichter fällt es letztlich, die Bilder und Texte des I Ging für die Frage fruchtbar zu machen. Hierbei geschieht nicht selten ein gründlicher Perspektivwechsel, den man unter dem in der Psychotherapie gängigen Begriff der „paradoxen Intervention“ gut beschreiben kann. Ein Mann in recht hohem Alter verliert seinen Sohn durch Selbstmord und versinkt in eine schwere jahrelange Depression. Er erhält durch das Teilen der Schafgarben das Hexagramm 24 „Die Wiederkehr“, in dem ihm im Bild der größten Dunkelheit sein Zustand gespiegelt wird – aber gleichzeitig auch das wiederkehrende Licht, da dies das Zeichen für die Wintersonnwende ist, in der die Tage wieder länger werden: Aus dem Zeichen ergibt sich, daß das Lichte mit naturgesetzlicher Notwendigkeit wieder in sein Leben treten wird. Eine Frau mit lebensbedrohlicher Magersucht erhält das Zeichen 27, „Die Ernährung“ mit dem Hinweis, sich dringend von spirituellen Höhenflügen zu verabschieden, und vermag sich mit diesem Bild einem fürsorglichen Umgang mit ihrem Körper zu widmen. Ein Mann mittleren Alters, der in seiner Familie seit frühester Zeit die typische „Schwarze Schaf“-Rolle hat, erhält im Zeichen 37 “Die Familie“, den Linientext „Wie ein König nähert er sich seiner Familie“: Seinem Unbewussten, das über Jahrzehnte verschiedenste Weisen des Opferseins eingeübt hat, wird nun in paradoxer Intervention das Bild des Königs als Identifikation angeboten.
All dies sind Bilder, die – wie ein einem guten therapeutischen Vorgespräch – das Problemfeld spiegeln und gleichzeitig ganz neue, unerwartete Denk-und Fühlmöglichkeiten eröffnen. Ob und wie der Fragende diese für den weiteren Verlauf seiner Geschichte fruchtbar macht, bleibt ihm überlassen: Im I Ging ist im Hinblick auf die Verantwortung des Fragenden vom „Edlen“ die Rede, – gemeint ist hier Konfuzius‘ idealtypische Gestalt eines Mannes/einer Frau, die für ihr Handeln und Reden mit großer Sorgfalt und Selbsteinsicht Verantwortung übernimmt. (Vgl. hierzu auch Hex. 61, 2. Linie!)
Eine Befragung des I Ging ist somit das exakte Gegenteil eines abergläubischen Fatalismus. Anstatt uns das Schicksal vorhersagen zu sagen, gibt es uns eine Technik an die Hand „die Keime des Kommenden“, die unbewussten Anteile und Überzeugungen, die unser Leben leiten, bewusster werden zu lassen und somit zu Autoren unserer Geschichte zu werden.
Diese „offene“ Struktur hat den großen Vorteil, dass die Befragung nicht eine Sache des Glaubens ist, der in einer religiösen Gemeinschaft eingeübt und gegenüber anderen verteidigt werden muss, wobei ja bekanntlich in der Religionsgeschichte viele Fragen unterdrückt wurden und werden. Vielmehr ist das Fragen selbst der Dreh- und Angelpunkt des Verstehens – und zwar jedes Fragen von existentiellem Belang. Der Nachteil dieser offenen Struktur ist, dass dem Fragenden aus der Sicht des I Ging eine große Verantwortung zugemutet wird: Indem ich die Antwort (möglicher Weise mit Hilfe eines Beraters oder Freundes) auf meine Lebenssituation deute und aus dieser Deutung heraus mich entscheide, schreibe ich meine Geschichte um. In den notvollen Momenten der Arbeit an der Frage, der Deutung oder der Entscheidungsfindung kann es sein, dass ich mich nicht mehr in einem sicheren, Orientierung gebenden Kollektiv geborgen fühlen kann – sondern im Gegenteil in einer existentiellen Einsamkeit mich vollständig auf mich selbst zurückgeworfen erlebe.
Das Wechselspiel von Frage, Antwort und Entscheidung kann vielleicht am Besten als die Grundstruktur eines kreativen Prozesses verstanden werden. Jeder Künstler, der eine auch noch so keimhafte Ahnung von dem Werk hat, das in ihm reifen will, wird unentwegt diese Ahnung in bestimmten Fragen formulieren, er wird in seinem Suchen nach Antwort ringen – und wenn er diese hat, sich zuerst einmal für eine Realisierung, eine konkrete Gestaltung entscheiden.
In ganz ähnlicher Weise kann ich auch meine Lebensgeschichte als kreativen Prozess begreifen, der durch die lebenslange Suche nach eigener, authentischer Gestaltung bestimmt ist, der immer wieder neue Bedingungen, Aufgaben, Sehnsüchte, Abschiede u.v.a.m. einbeziehen und fruchtbar werden lassen muss. Da nun die Worte und Bilder, mit denen ich über mich nachdenke, immer begrenzt sind, und da man gerade in krisenhaften, notvollen Phasen zum sogenannten „Tunnelblick“ tendiert, zu einem Blick der vielleicht naheliegende Optionen völlig übersieht, der blind ist für Hilfestellungen, für neue innere und äußere Räume der Gestaltung, kann das Befragen des I Ging gerade in solchen „Tunnelblickzeiten“ den Blick weiten und mir helfen, meine Situation mit neuen Bildern und Gedanken zu (ver-)sehen. Wenn es mir gelingt, diese auf eine ganz grundlegende Weise „anzueignen“ und in meine Selbstreflexion, mein Verständnis meiner Gegenwart und Zukunft einzubeziehen, dann wächst zum Einen das Verständnis für meine Geschichte als solcher, zum Anderen aber auch das Vertrauen in den (kreativen) Prozess der Wandlung als solchem: Je mehr schwierige Lebens“stufen“ (Vgl. das wunderbare Gedicht „Stufen“ von Hesse!) auf diese Weise erklommen wurden, desto größer die innere Sicherheit, auch die nächste mit zunehmender Leichtigkeit zu bewältigen.
Das Wechselspiel von Denken und Fühlen,
von Rationalität und Intuition
Viele I Ging-Freunde sind überrascht, wenn sie hören, daß die erste große „I Ging-Welle“ vor 300 Jahren durch Europa geisterte: In Folge des großen Interesses, das Wilhelm Leibniz an dem Buch hatte, galt es bis Mitte des 18.Jh. als ein Meisterwerk des Rationalismus! Seine logische, dyadische Struktur, die Verheißung, das Leben durch die Mathematik der Symbole zu erklären, führte zu einer sehr einseitigen Sicht. Die gegenwärtige, durch Wilhelms Werk ausgelöste Welle des 20. Jahrhunderts scheint unter entgegengesetztem Zeichen zu stehen: Eine Befragungstechnik, in der der Zufall solch eine Rolle spielt, erscheint als höchst dubios und irrational, die Unmöglichkeit, eine Befragung zu wiederholen, wird als Beweis dafür gesehen, daß es sich hier um Hokuspokus handelt. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, sich der Möglichkeit eines guten Wechselspiels von Vernunft und Gefühl, von rationalem und intuitivem Denken zu öffnen. Ein solches Wechselspiel von Denken und Fühlen ist im klassischen Chinesisch sinnbildlich im Herzen des Menschen verortet: das Herz steht somit für die personale Mitte, für das, was einen Mensch im Kern ausmacht, seinen Charakter und sein Schicksal wesentlich prägt. Von diesem Verständnis aus ist es durchaus nachvollziehbar, daß ein so umfassender Prozeß wie die Befragung des I Ging auch nur mit ganzem Herzen gelingen kann. Denn jeder, der sich über längere Zeit mit Theorie und Praxis des I Ging beschäftigt, wird darin ein gutes Fingerspitzengefühl entwickeln, der dabei rational und intuitiv vorgeht. Indirekt fordert die archetypische Bildersprache und die logische Struktur eine wechselseitige Resonanz der verschiedenen Erkenntnisweisen. Ein solches eigentlich offensichtliches Verständnis von Ganzheit des Menschen, der auch in Europa seit der Antike bis zur Renaissance, selbstverständliches Gedankengut der „Bildung“ bzw. der Kultivierung der Persönlichkeit war, gilt es wieder zu entwickeln, wenn man dem I Ging und damit sich selbst näher kommen will.
Das I Ging als Gegenentwurf zu einer Zivilisation der Beschleunigung?
Ich habe in der Vorbereitung dieses Aufsatzes das I Ging gefragt, ob es etwas zum Thema der „Beschleunigung“ als eines der beängstigenden Grunddynamiken unserer Zeit sagen kann. Hierzu wurde ich angeregt durch das lesenswerte Buch „Beschleunigung“ von Hartmut Rosa, das umfassend die ökonomischen und gesellschaftlichen Prozesse und deren Folgen für das Zeit- und Lebensgefühl der meisten Menschen in der sogenannten ersten Welt schildert.
Es kam das Zeichen 26 „Des Großen Zähmungskraft“ mit der 2. Linie: „Das Rad verliert die Verbindung zur Achse“ (Übs. Henrik Jäger). Liest man das Zeichen 26 als Bild einer Zeit, in der große Energien vielfältige Bewegungen auslösen und die Aufgabe es wäre, diese Bewegungen von einem ruhigen Punkt aus zu lenken, so wird die 2.Linie in ihrer prophetischen Dimension sehr anschaulich: Hier ist ein Wagen gezeichnet, der – auf Grund überhöhter Geschwindigkeit? – gar nicht mehr steuerbar ist und dessen Räder sich langsam aus den Achsen lösen…
Dieses erstaunliche Bild zeigt einerseits, das sinnlose Beschleunigung gar nichts so Neues ist und wie auch die blinde Naturzerstörung schon in alten Kulturen bekannt war. Im Gesamtzusammenhang mit dem I Ging zeigt es aber auch, daß man immer die Wahl hat: Laße ich mich von der allumfassenden Beschleunigung infizieren? In welchen Bereichen werde ich von ihr bestimmt? Wie komme ich meinem eigenen Wachstumsrhythmus auf die Spur?
Ich möchte mit diesen wenigen Andeutungen des Leser einladen, das I Ging über die persönliche Befragung hinaus auch als Entwurf einer Welt zu erkunden, in der Yin und Yang, Ruhe und Bewegung, Abschwung (Minderung, Hex. 41) und Aufschwung (Mehrung, Hex. 42) ihren organischen Platz haben. Mit seinem in den Jahreszeiten und Naturrhythmen eingebundenen Bild vom Leben strahlt es die Ruhe eines 3000- jährigen Wissens um Höhen und Tiefen, Wege und Irrwege. Sich immer wieder neu mit seinen eigenen Sorgen und Fragen von diesem Wissen bereichern lassen zu können, – das ist ein Grund mehr, die Divination als einen Herzensweg für sich zu entdecken!
Autor: Dr. Henrik Jäger
Kaligraphien: Henrik Jäger und Wang Ning (Kalligraphie „Yijing)