Alchemie im Qigong

Philosophie

Rückkehr zum Ursprung – Gedanken zur Alchemie im Qigong

Weg des Goldenen Elixiers („Jindan zhi dao“)

Die Alchemie verzaubert Menschen bis in unsere vernunftgesteuerte, materialistische „moderne“ Welt. Der Goldrausch und das Versprechen eines jugendlichen und ewigen Lebens erscheint in Zeiten von „Anti-Aging“ und dem Höhepunkt des Kapitalismus passender denn je. Doch die stofflichen Ziele der Alchemie sind ohne die Aspekte der Seelenalchemie missverständlich. Und vielleicht sind dies die Gründe warum heutzutage die Alchemie nicht recht verstanden werden mag: Für die Transmutation muss der Blick nach innen gerichtet werden und ein weiter arbeitsreicher Weg liegt vor dem Novizen. Kontinuität, Treue, Ausdauer, Demut und Verantwortlichkeit sind Tugenden, die heutzutage selten zu finden sind.

Alchemie

Denn weit, weit muss der wandern

Über fremdes Reich und Meer

Der den alten Bergen nachgeht

Wo der Stein der Weisen wär…[i]

Geschichte
Gibt es die Alchemie heute noch?
Vom Groben zum Reinen
Ursprünge des Qigong
Qigong als spiritueller Weg
Der alchemistische Weg und die Werkzeuge der Wandlung
Fazit
Surftipps zu „Alchemie im Qigong“

Geschichte

Die westliche antike Alchemie wurzelt in etwa im 1. Jh. n. Chr. in Ägypten und dauerte bis etwa ins 7. Jh. n. Chr. an. In den antiken Zentren, wie z.B. Alexandria, wurde in den Tempelwerkstätten die Alchemie betrieben. Hierbei flossen chemisch-technische wie auch spirituelle Aspekte in die Praktiken mit ein. Das praktische Ziel war die Veredelung unedler Substanzen. So wurde die Umwandlung von Blei und Eisen in edlere Verbindungen versucht. Die moderne wissenschaftliche Chemie ging aus den Erkenntnissen der damaligen Zeit ebenso hervor wie viele andere Berufe (Metallurgie, Glasmacherei, Färberei, Brauerei, etc.). Der spirituelle Anteil diente der seelischen Läuterung und Vervollkommnung, also ebenso der Umwandlung von unedler in edlere „Substanz“. Die alchemistische Naturphilosophie wollte die Entstehung des Kosmos erklären.[ii]

In der westlich europäischen Welt des Mittelalters war die Alchemie bis ins 12. Jh. weitestgehend unbekannt. Durch den Text „De compositione alchimiae“ von Morenius (1144 n. Chr.) wurde das Feuer der Alchemie jedoch erneut entfacht. Das Werk „De mineralibus“ von Albertus Magnus (1250 n.Chr.) schob die Verbreitung der Alchemie weiter an. Er erklärte die Zusammenhänge der Alchemie in Bezug auf die Bildung der Salze und Metalle im Erdinneren. Im Dunst der okkulten Wissenschaften entbrannte eine große Diskussion über die Alchemie. Auch wenn die Alchemie keine Religion ist, so richteten besonders die Kirchenorden der Franziskaner und Dominikaner ihre „Pfeile“ auf die Alchemie, die „neue“ und unerwünschte Blickwinkel auf das Thema Geistigkeit eröffnete.[iii]

Auch wenn in unserem Kulturkreis ausreichend Literatur und Spezialistenwissen zur Verfügung steht, so sind die Wurzeln auch außerhalb Europas zu suchen. In Ägypten, Kleinasien, im syrisch-arabischen Raum, in Indien und China entwickelte sich die Alchemie in vergleichbarem Stil und Umfang. Die chinesische Alchemie wurzelt tief im Daoismus. Auch dort wird die innere (Neidan) und die äußere Kunst (Waidan) unterschieden.

Gibt es die Alchemie heute noch?

In der heutigen Zeit finden wir die Anwendung des alchemistischen Geistes in unserer Kultur eher in Randgruppen und Spezialbereichen. Wenige pharmazeutische Hersteller im naturheilkundlichen Sektor wenden das Wissen z.B. in der Spagyrik (Herstellung von Heilmitteln nach den Gesetzen der Alchemie) noch heute an. Sie beziehen sich meist auf die Recherchen von Paracelsus und setzen seine Errungenschaften um. Unterschiedlichen Alchemisten wie z.B. C. J. Glückselig, Carl-Friedrich Zimpel oder Alexander von Bernus ist es zu verdanken, dass das alte Wissen in die heutige Heilkunde gerettet werden konnte. Letzterer pflegte auch eine enge Freundschaft mit Rudolf Steiner.

Yin-Yang

Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, bezieht in seinen Werken die geistrale Erfahrung und Entwicklung in jeglichem Handeln mit ein. In Ausbildung, Beruf, Landwirtschaft, Bewegung (Eurhythmie) und Medizin (und vielem mehr) sind seine ganzheitlichen Gedankengänge zu finden. Immer wieder bezieht er sich in seinen Werken und Vorträgen auf die Rosenkreuzer-Tradition. Er unterscheidet dabei zwischen „falscher“ (äußerer) und „wahrer“ (innerer) Alchemie. Die falsche Alchemie strebt nur danach Stoffe zu formen und nach persönlichem Reichtum. Die wahre Alchemie strebt jedoch nach innerer Reinheit.

Der in China als eigenständige Philosophie und sogar Religion angesehene Daoismus erfreut sich auch heute noch großer Verbreitung und beeinflusst dort das tägliche Leben in Politik, Wirtschaft, Philosophie, Literatur, Kunst, Medizin und vielem mehr. Vor allem die uralte Lehre des Qigong ist tief vom Wissen und den Erfahrungen des inneren Wegs durchdrungen.

Carl Gustav Jung, Begründer der analytischen Tiefenpsychologie, spannt 1928 den Bogen zur chinesischen Tradition als er den Daoismus von dem befreundeten Sinologen Richard Wilhelm kennen lernt. 1929 veröffentlicht er sein Grundlagenwerk „Das Geheimnis der goldenen Blüte. Ein chinesisches Lebensbuch.“ Er nennt als Motiv der Alchemie die „Königserneuerung“, d.h. die „Wandlung des Königs aus einem unvollkommenen Zustand zu einem heilen, vollkommenen, ganzen und inkorruptiblen Wesen“.

Vom Groben zum Reinen

Alle alchemistischen Richtungen streben nach einer Entwicklung des „Groben“ zum „Reinen“. Je nach Tradition wird der Weg zum Opus Magnum / Stein der Weisen / Elixier / vollkommenen Wesen / Dao in mehreren Stufen beschrieben. Hier einige Beispiele westlicher und östlicher Tradition:

Christliche Tradition

  1. Fußwaschung
  2. Geißelung
  3. Dornenkrönung
  4. Kreuzigung
  5. mystischer Tod
  6. Grablegung und Auferstehung
  7. Himmelfahrt

Rosenkreuzer Tradition

  1. Studium
  2. Imaginative Erkenntnis
  3. Inspirierte Erkenntnis oder Lesen der okkulten Schrift
  4. Bereitung des Steins der Weisen
  5. Entsprechung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos
  6. Hineinleben in den Makrokosmos
  7. Gottseligkeit
Taoismus

Daoistische Tradition

  1. lianjing huaqi: Veredelung von Essenz in Atem
  2. lianqi huashen: Veredelung von Atem in Geist
  3. lianshen huanxu: Veredelung von Geist und Rückkehr in die Leere

Allen Traditionen gleich scheint das gemeinsame Ziel der „Himmelfahrt“, „Gottseligkeit“ bzw. die „Rückkehr zur Leere“. Das höchste Ziel der Inneren Alchemie ist dementsprechend die Rückkehr zu unserer wahren Wesensnatur. Dies wird auch als „Rückkehr zum Ursprung“ bezeichnet und ist mit der Erlangung des Dao gleichbedeutend. Dies ist nach daoistischer Auffassung die universelle Medizin zur Heilung all unserer Probleme und der Schlüssel zur Erweckung der in uns ruhenden geistig-seelisch-körperlichen Potentiale.

Ursprünge des Qigong

Qigong ist eine Kunst, deren Wurzeln Jahrtausende zurückreichen. Es zählt zum großen Kulturerbe Chinas. In verschiedenen Bereichen entwickelten sich die Übungen zur Stärkung des Körpers, zur Gesundherhaltung oder um spirituelle Erfahrungen zu machen. Die Ursprünge reichen vermutlich auf schamanische zeremonielle Tänze zurück, die zu therapeutischen Zwecken bereits vor 10.000 Jahren durchgeführt worden sind.

Der Begriff Qigong selbst ist noch relativ jung und entstand erst nach dem Untergang der großen Kaiserreiche in der Volksrepublik China, vor allem in der Zeit der Kulturrevolution. Zerstörerische Kräfte wollten die traditionellen Verfahren verbieten lassen, doch auf Grund vieler positiver Erfahrungen angesehener Politiker konnte das traditionelle Wissen gerettet werden. Unter dem Begriff „Energiearbeit“ (chin. Qigong) wurden viele Methoden unterschiedlichster Richtungen zusammengefasst, darunter auch das Neidan, die innere Alchemie.

Als Begründer des Neidan Gong gilt Qiu Chu Ji (1148 – 1227). Er selbst war Schüler des Quan Zhen Dao Begründers Wang Chong Yang und ging später als einer der sogenannten „sieben Unsterblichen“ in die Geschichte ein. Neidan ist eine der am weitesten verbreiteten Erleuchtungstechniken.

Qigonguebung

Qigong als spiritueller Weg

Heutzutage wird Qigong in unserem Kulturkreis häufig als Entspannungsverfahren praktiziert oder dient im Sinne der Prävention zur Steigerung der Alltagsbewegung. Wer über die Praxis der äußeren Qigong Form hinausblickt oder besser: in sich selbst hineinblickt, begeht den Weg des Eingeweihten.

  1. Schritt: lianjing huaqi: Veredelung von „Essenz“ in „Atem“

Die Essenz – Jing wird einerseits als eine substanzielle flüssige Form der Vitalenergie – Qi verstanden. Bei näherer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass die Essenz – Jing alle verdichteten Formen des Qi meint. Alle materiellen Aspekte des menschlichen Körpers können unter Essenz – Jing verstanden werden. Hier wird Qi mit „Atem“ übersetzt. Gemeint sind die feinstofflichen, flüchtigen Anteile unseres Daseins. Alle mentalen, emotionalen Regungen, Sinneswahrnehmungen und natürlich auch die Atmung. Veredelung von Jing in Qi beschreibt den natürlichen Übungsprozess im Qigong, wenn die äußere Form nicht mehr „nur nachgeturnt“ wird, sondern die äußere Bewegung der inneren Empfindung folgt. Energie-/Kraftfluss und Struktur verschmelzen zu einer Einheit. Praktiziert der Übende auf diese Weise, so erfährt er sich als mehr als nur ein fleischlicher Körper, er erfährt seinen belebten Körperleib.

  1. Schritt: lianqi huashen: Veredelung von „Atem“ in „Geist“

Doch wer bewegt das Qi? Wird das Qi als Grundlage der Bewegung praktiziert, so ist außerordentliche Konzentration bzw. Aufmerksamkeit notwendig. Das Qi wandelt sich in Geist-Shen. Viele, die auf eine regelmäßige Übungspraxis blicken können, bemerken im Alltag auf einmal höhere Bewusstheit, z.B. in Form von größerer Distanziertheit vom alltäglichen Ego, dadurch mehr Gelassenheit. Der Qigong-Praktizierende stärkt den „Beobachter“ und schafft so die Grundlage, um die bewussten und unbewussten Denk- und Verhaltensmuster zu entlarven.

  1. Schritt: lianshen huaxu: Veredelung von „Geist“ und Rückkehr in die „Leere“

Die Fokussierung auf die geistige Bewegung schafft innere Distanz vom Denken und Fühlen. Je größer die Distanz vom „Bewegten“ und dem „Beweger“, d.h. dem Ego, desto mehr öffnet sich das Bewusstsein für die allseits präsente innere Stille. Dieses unidentifizierte Bewusstsein ist das „Bewegte“, der „Beweger“ und die „Bewegung“ zugleich. Losgelöst von der Identifikation stellt sich das Bewusstsein als die „Leere“ dar.

Was für den äußeren Alchemisten also die Wandlung von Blei zu Gold ist, das ist die Wandlung des „tierisch“ Menschlichen zum „edlen“ bzw. erleuchteten Bewusstsein. In der inneren Alchemie ist der Alchemist selbst Teil der Prima Materia – in diesem Fall die nicht geläuterte dunkle Erde, die es zu verwandeln gilt. Die Rezepturbestandteile der inneren Alchemie sind die menschliche Körperlichkeit, die Atmung und das individualseelische Prinzip (Die drei Schätze – San Bao: Körper / Atem / Geist).

Der alchemistische Weg und die Werkzeuge der Wandlung[iv]

In der daoistischen Weltanschauung entsteht der Kosmos aus einer ursprünglichen Quelle. Dieser Kosmos basiert auf den polaren Prinzipien Yin und Yang, welche im Großen wie im Kleinen wirksam und beobachtbar sind. Die Trennung der beiden Pole bringt eine Spannung – das Qi – hervor. Das Qi ist die wandelnde Kraft, die alles Leben hervorbringt. So unterliegen Yin und Yang der stetigen Wandlung durch das Qi. Diese universellen Prinzipien können wir im Großen wie im Kleinen wiederentdecken. Was sich im Makrokosmos als die drei Kräfte zeigt – der Himmel (Yang), die Erde (Yin) und der Mensch (Qi) – das spiegelt sich auch im Mikrokosmos Mensch wieder: Geist – Shen, Essenz – Jing und Vitalkraft – Qi.

Die Kräfte unterliegen einem ständigen Wandel und das harmonische Wechselspiel der drei Schätze ist der Schlüssel zu geistiger und körperlicher Gesundheit und langem Leben. Sind alle drei Schätze in Harmonie, verschmilzt auch das menschliche Dasein im Makrokosmos. Wir erlangen Zugang zu geistiger Führung und zu einem höheren Bewusstsein.

Der Heilungsbegriff ist etymologisch durch das Wieder-Ganz-Werden bestimmt. Heilung geschieht im alchemistischen Umkehrprozess, in der „Rückkehr zum Ursprung“. Wir lösen uns von der Illusion der Trennung. In der Mitte zu sein bedeutet Yin und Yang auszugleichen und beide untrennbaren Pole nebeneinander gleichwertig zu vereinen.

Yin und Yang sind im Qigong durch die zentripedalen, schließenden und die zentrifugalen, öffnenden Erfahrungen im Sinken und Steigen erlebbar. Sie bringen das Qi hervor, die Vitalkraft. Im kontinuierlichen Wechsel von Sinken und Steigen fließt das Qi. In der Atmung können wir die Prinzipien von Yin und Yang im Aus- und Einatmen erfahren. Auch auf geistraler Ebene lässt sich ein kontinuierlicher Dialog wahrnehmen.

Wenn wir Yin und Yang auf allen drei Ebenen vereinen und so in Harmonie sind, kehren wir zu unserem Ursprung zurück. Wir werden eins mit der Schöpfung, wir werden ganz und heil. Der Geist erfährt in diesem Zustand eine Erhöhung. Durchdringt der erhöhte Geist in der Verdichtungsphase, während des Schließens, den Körper, so wird auch dieser erhöht und geheilt.[v]

Fazit

Sowohl westliche als auch östliche Tradition blickt auf einen vergleichbaren kulturellen und geschichtlichen Unterbau zurück. Die asiatische Weisheitslehre des Qigong lässt sich durchaus auch im Westen als eine wertvolles Werkzeug für die spirituelle Aufwärtsentwicklung einsetzen. Lediglich die sprachlichen Hürden und die unterschiedlichen Weltanschauungen sind zu transformieren. Qigong ist aus meiner Sicht eine Möglichkeit die alten westlichen Unsterblichen „auferstehen“ zu lassen.


Surftipps zu „Alchemie im Qigong“

Was ist Qigong?
Was ist Qi (Chi)?
Philosophie
Taoismus

Autor: Markus Ruppert
(Heilpraktiker, Qigong Lehrer)

Fotos: Loni Liebermann und Markus Ruppert

Literatur:

[i] Aus einem alten englischen Gedicht, entnommen aus: Alexander von Bernus, Das Geheimnis der Adepten, Esoterischer Verlag Paul Hermann Burstadt, 2003, S. 18

[ii] Claus Priesner und Karina Figala, Alchemie: Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, Verlag C.H.Beck, München, 1998, S.22

[iii] Claus Priesner und Karina Figala, Alchemie: Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, Verlag C.H.Beck, München, 1998, S.26ff

[iv] Markus Ruppert, Die Drei Schätze des Qigong – Ein Wegbegleiter durch die ersten Jahre der Qigong Praxis, Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft Uelzen, Mediengruppe Oberfranken 2015

[v] „In der Ausdehnungsphase wird die Bindung des Geistigen an das Stoffliche gelockert. Der an den gelockerten bzw. ‚geschmolzenen‘ Stoff gebundene Geist wird so vom Allgeist geläutert und damit erhöht. Im Verlauf der Ausdehnungsphase wird gleichsam der ‚gute‘ vom ‚schlechten‘ Geist getrennt. In der folgenden Verdichtungsphase wird die Bindung des erhöhten Geistes an das Stoffliche wieder gefestigt. […] Im Verlauf der Verdichtungsphase bewirkt der ‚gute‘ Geist die Transmutation des Stofflichen zum ‚Guten‘. “ aus „Eine geistige Reise durch den Kosmos“ von Christoph Proeller, Alchemia medica – Alchemie und Spagyrik nach Alexander von Bernus, Erasmus Grasser Verlag, 1. Auflage 2007