San Bao – die drei Schätze im Menschen Jing, Qi und Shen

Philosophie

Das Dao, über das man sprechen kann, ist nicht das ewige Dao,
Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der wirkliche Name.
„Nichtsein“ nenne ich den Anfang von Himmel und Erde,
„Sein“ nenne ich die Mutter jedes Wesens.
Darum:
Gehen wir in die Richtung des Nichtseins, gehen wir in Richtung des wunderbaren Wesens.
Gehen wir in die Richtung des Seins, begegnen wir räumlicher Begrenztheit.
Dem Ursprung nach ist anfänglich beides eins, doch ist es verschieden durch seine Namen.
In seiner Einheit ist es das Geheimnis.
Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis ist die Geburt, durch die alle Wesen hervortreten.

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Im Qigong richtet man den Blick nach innen, um die Qi-Bewegungen des Körpers besser zu verstehen, um sie zu unterstützen und um sie lenken zu lernen. Dabei haben die Gesetze der Natur, sowie sie sich auch im menschlichen Körper offenbaren, eine anführende Bedeutung. Denn folgt man ihnen, kommt man der ursprünglichen Einheit, aus der alles Leben hervorgeht wieder näher. Dies ist eine Methode, mit der man in China seit alters her der Gesundheit dient und das Leben verlängert.

Numerologische Deutung der Dantian Theorie

Mikro- und Makrokosmos, der Vergleich von Himmel und Erde

Drei Mal Vier, der Große Kreislauf entsteht

Die Zwölf in der Übung

Die Vermessung der Welt und des Menschen bedarf eines Standpunktes

Die drei Schätze Jing, Qi und Shen

Das Herz, die Mitte der Drei und der Vier im Menschen

Die Kraft der inneren Einkehr

Verknüpfen und weben

Der Knoten, der die sechs Richtungen des Raumes zur inneren Mitte macht

Das Tor des Lebens, Mingmen und der Lebensfaden

Transformation

Die Kreis-Bewegung des Qi erzeugt in der Zeit die Spiralbewegung

Mingmen-Atmung und das Yuan-Qi

Bewusstsein

Vier Meridiane bilden die äußere Form und das innere Achsenkreuz des Lebens

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Numerologische Deutung der Dantian Theorie

Bereits das Nánjīng 難經, der Klassiker der Schwierigkeiten, geht bei der Beschreibung der Entstehung des Lebens von der großen Einheit aus, welche in der Trennung und dem Wieder-aufeinander-Zugehen von Himmel und Erde das alles bewegende Qi hervorbringt. Es ist eine numerologische Betrachtung der Welt, die bei Laozi mit den Worten beschrieben wird: „Der Sinn [das Dao] erzeugt die Eins. Die Eins erzeugt die Zwei. Die Zwei erzeugt die Drei. Die Drei erzeugt alle Dinge. Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle und streben nach dem Licht, und die strömende Kraft gibt ihnen Harmonie“.
Die Eins bezieht sich auf das Dao, die ursprüngliche Einheit, aus der alles entsteht. Sie ist vor- und außerhalb unserer erfahrbaren Welt der Dualität und kann deshalb nach Laozi nicht benannt werden. Die Zwei ist eine abstrakte, eine geistige Größe. Wir nutzen die Dualität, um uns selbst und die Welt denkend und ordnend zu verstehen – zum Beispiel, um unseren Körper von oben bis unten, vorne bis hinten, rechts wie links zu fühlen und zu beschreiben. So sind Yin und Yang Werkzeuge des Geistes, der die „räumliche Begrenztheit“ zwischen den Polaritäten unterscheiden und benennen kann. Yin und Yang sind in uns, weil wir das Dazwischen sind, das die Dualität zum Leben erweckt. Dabei ist nach Laozi`s Aufzählung die Dualität näher am Ursprung als die Drei, mit welcher alle Dinge, also auch das Leben erst in Erscheinung treten. Sie steht für die zwei Seiten der Erfahrung, welche wir, sie erkennend, in unser Bewusstsein rufen. Denken ist aber auch das Gegenteil von Einheit. Es ist auch der Ursprung von Trennung und Teilung, denn der vergleichende Geist, der einerseits annimmt und andererseits verneint, ruft diese Trennung hervor, und lässt uns damit das Gefühl der Einsamkeit erleben. Denken betrifft den Kopf, die obere Zentrale im Menschen. Im Qigong befindet sich dort das obere Dantian. Das begreift man in aller Unmittelbarkeit, berührt man tastend und fühlend den eigenen Kopf mit beiden Händen.

Erst die Drei erzeugt alle Dinge, also das Leben. Damit handelt es sich bei der Drei nach Laozi um die Mutter jeder Form, denn es gibt nichts, das nicht wenigstens aus drei Teilen besteht. Im chinesischen Denken heißt diese Einheit Yin, Yang und Qi (Chi) oder Himmel, Erde, Mensch. Yin, Yang und Qi sind Kategorien in der Betrachtung von Mikro- (Yin) und Makrokosmos (Yang). Der Makrokosmos offenbart sich als Einheit von Sonne (Yang), Mond (Yin) und Sternen (Qi). Sich selbst und die Welt betrachtend erfährt sich der Mensch auf der Erde als Wesen zwischen Himmel und Erde. Dabei steht die Eins für den Himmel (Yang) in seiner zeugenden, die Zwei für die Erde (Yin) in ihrer hervorbringenden und nährenden Kraft und die Drei, die als Kind von Himmel und Erde erst in der nachfolgenden Generation in Erscheinung tritt, steht für das Qi sowie für den Menschen. Das ist das Gesetz der Drei. Es vereint Yin und Yang zu einer neuen, eigenständigen Kraft, die Yin, Yang und das Qi in sich trägt. Somit steht in dieser genealogischen Betrachtung der Welt, die Drei für das Prinzip Leben, das, sich entwickelnd, Yin, Yang und Qi in jeder weiteren Generation erneut hervorbringt. Als Folge der Vermählung von Himmel und Erde verfügt das Qi wie der Mensch damit über eine unendlich große Potentialität. Sie beinhaltet auch die Befähigung zur Transformation, zur beständigen Wandlung in der Zeit und zeichnet das Leben aus durch Bewegung, denn keine Bewegung bedeutet Stillstand und Tod.

Zählt man im Sinne von Laozi weiter, führt uns das Gesetz der Drei, das wir damit überall in uns und außerhalb von uns erkennen, im folgenden Schritt zu den vier Richtungen des Raumes. Dann, mit der Entwicklung bis zur Zwölf, die für die zwölf Monate im Jahr (Makrokosmos) sowie für die zwölf Meridiane im Menschen (Mikrokosmos) stehen, erreicht die Entwicklung von einer Generation zur nächsten die Wiederkehr des Dao (Einheit) in der Welt der Dinge. Denn aus Sicht der Numerologie vereint die Zwölf die sechs geraden und ungeraden Zahlen, wie die Drei und die Vier (dreimal vier wie viermal drei) auf perfekte Weise. Mit der Zwölf haben sich Yin, Yang und das Qi auf der Erde ausgeglichen materialisiert. Die Zwölf bringt in einer bestimmten Zeit jedes Wesen als begrenzten Raum hervor. Dabei kann kosmisch wie irdisch alles fließen. Oben am Himmel bewegen sich die Sterne und Planeten in ihrem ewigen Reigen, der auf der Erde als die zwölf Monate des Jahres oder die zwölf Doppelstunden des Tages erscheint. Im Menschen verbinden die zwölf Meridiane alles mit allem und durchziehen die sechs Richtungen des Raumes, oben und unten (Kopf/ Hände bis Damm/ Fuß), vorne und hinten (Brust und Rücken), rechts und links (Körperseiten).
Der ursprüngliche Dao-Kreis umschließt dabei immer noch jedes Wesen und jede Einheit und bewahrt sein Yin und Yang als dynamische, sich gegenseitig ergänzende Opposition. Wir erleben dies im kosmischen Wechsel von Tag und Nacht, unter den Elementen als Feuer und Wasser und im Menschen als Mann und Frau. Gemeinsam ruft ihr jeweiliges Yin-Yang die zyklische Wiederkehr der Erscheinungen und den beständigen Wandel in der Zeit hervor. Dem geborenen Menschen, perfekt ausgerüstet für die Welt, verleiht seine Umhüllung (Einheit) die Möglichkeit zur Individuation. Damit ist der Kreis auch ein Symbol für Heilung. Doch kommt das ursprüngliche Dao nun, wie alles in der Welt der Dinge, auch im Menschen zweimal vor, einerseits als Körperhülle (Yang) und andererseits als Zentrum des Selbst (Yin), als Ganzes und als kleinster Teil, äußerlich sichtbar und zugleich verborgen im innersten Kern.

Mikro- und Makrokosmos, der Vergleich von Himmel und Erde

Den Zyklus der Zeit hat der Mensch seit jeher im Kreislauf der Jahreszeiten beobachtet und die lichten Zeichen des Himmels mit den Erscheinungen auf der Erde verglichen. Dieser Mythos geht in China auf den ersten der fünf Urkaiser, auf Fuxi (frühe Zhou-Dynastie, 11. Jh. v. Chr. bis 771 v. Chr.) zurück, dem Erfinder der Acht Trigramme. Sie werden im I Ging, dem ältesten Buch der chinesischen Philosophie, beschrieben. Der Vergleich von Licht (Himmel) und Dunkelheit (Erde) wird dort als Strichcode ausgedrückt. Das Licht wird mit einem durchgezogenen Strich (Yang) und die Dunkelheit mit einem unterbrochenen Strich (Yin) symbolisiert.
Diese Bezeichnung führte zur nächsten Unterscheidung. Der Wechsel von Licht und Dunkelheit bringt als Kreisbewegung (Verdoppelung des ursprünglichen Yin-Yang) den Rhythmus der vier Himmelsrichtungen Osten, Süden, Westen und Norden und die irdischen Bedingungen der vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter sowie Morgen, Mittag, Abend und Nacht hervor.
Indem Fuxi die beiden ersten Yin- und Yang-Striche verdoppelte, blieb die Bedeutung des Yang- und des Yin-Striches erhalten, doch ließ sich eine weitere Bedeutung hinzufügen. Mit der Kombination der vier Bilder (Sixiang) entwarf er die Darstellung, welche die Grundfesten des Lebens symbolisiert (Bild 1). Fügt man einen dritten Strich hinzu, entstehen die Acht Trigamme, verdoppelt man diese, kommt man zu den 64 Hexagrammen, die im I Ging beschrieben werden. Ich beziehe mich in dieser Ausführung lediglich auf die vier Bilder, welche die Idee dieses Denkens begründen.

Mit der Beobachtung des Himmels im Vergleich zu den Bedingungen auf der Erde bezogen sich die vier Bilder in ihrer ursprünglichen Bedeutung sowohl auf die Bewegung der Sonne, als auch auf die Bewegung des Mondes, wie man sie im Laufe eines Jahres (Sonne) und eines Monats (Mond) beobachten kann. In ihrer polaren Deutung zeigen sie Sommer und Winter, Frühling und Herbst, Mittag und Nacht, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Sie zeigen auch den Voll- und den Neumond sowie den zu- und abnehmenden Mond. Als kreisrunde Bewegung beschreiben die vier Bilder den Ablauf der Zeit, die sich im Innern der Monade als ursprüngliches Yin-Yang der vorherigen Generation beständig bewegt und so alles erzeugt und erhält. Und wir erkennen die äußere Hülle, die zusammen mit der nicht sichtbaren, doch wahrnehmbaren inneren Mitte für das Dao steht.

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Bild 1: Die vier Bilder als Strichcode: Sixiang, Ulla Blum

Unterteilt man die vier Jahreszeiten weiter bis zur Zwölf, hat jede Jahreszeit drei Monate. Die Vier vertritt den Raum (gerade), das statische Yin, die Drei die Zeit (ungerade), das dynamische Yang. Dreimal vier, wie viermal drei, ergibt Zwölf. Die Zwölf ist kosmisch gesehen die Verbindung von Yin, Yang und Qi mit den vier Richtungen des Raumes. In Analogie dazu finden sich im Menschen die drei Kräfte Yin, Yang und Qi, die für die drei Daseinsbereiche Körper, Seele und Geist stehen. Im Chinesischen werden sie repräsentiert durch Jing, Qi und Shen. Sie wohnen: Shen, der Geist, im Kopf, das Qi, die Atmung und das Gefühl, in der Brust und Jing, die Essenz, im Bauch. Diese Drei vereinen sich mit den vier Gliedern, den Armen und Beinen, mit denen der Mensch die Welt erobert.
Man kann aber genauso gut auch von oben – Mitte – unten, vorne – Mitte – hinten, rechts – links und der Mitte, dem Dazwischen, reden. Unterscheidet man jeden erscheinenden Raum auf diese Art wieder und wieder, ganz ähnlich, wie sich Bäume und alle anderen Pflanzen sichtbar verzweigen, kann man jeden Ort im Raum genau bestimmen. Diese Art der Vermessung der Welt, die man im Rhythmus der geraden und ungeraden Zahlen vornehmen kann, wurde vom Menschen schon immer, also vor der heute üblichen Vereinheitlichung der Maße, benutzt. Sie geht zurück auf das relative Maß, mit dem die chinesische Medizin die Lage der Akupunkturpunkte bestimmt und mit dem in der westlichen Welt der Goldene Schnitt berechnet wird.

Drei Mal Vier, der Große Kreislauf entsteht

Kosmisch gesehen erzeugen also die drei Kräfte Yin, Yang und Qi den Kreislauf der vier Jahreszeiten. Im Menschen entsteht damit der Große Kreislauf, der vom ersten Atemzug Tag für Tag rechts wie links (Zwei/ Symmetrie) dreimal von der Brust zu den Händen, von den Händen zum Kopf, vom Kopf zu den Füßen und wieder zur Brust verläuft. Der aufrechte Mensch existiert, weil sich die inneren Flüssigkeiten in Beziehung zur Gravitation und der Bewegung der Sterne und Planeten in Übereinkunft mit den vier Richtungen des Raumes bewegen, weil so die Zeit im Raum erscheint. Indem die zeitlich begrenzte Form entsteht, weiß das darin eingefangene Leben von Beginn an, wo in ihm oben und unten, vorne und hinten, rechts und links liegen. Damit weiß es auch, wo jedes Teil des Körpers seinen Platz erhält, um eine bestimmte Funktion im Ganzen zu erfüllen.
In Beziehung zur Erde rollt der Mensch deswegen seine Füße ab, weil ihn die Erde trägt und weil ihm, überwiegend bestehend aus Flüssigkeiten, die Gravitation als Gegenkraft zusammen mit dem flüssigen Gleichgewicht jeder Zelle zur Bewegung im aufrechten Gang verhilft. Selbst ohne das zu verstehen, bewegen wir uns sicher in Übereinkunft von innen und außen überall hin. Der Himmel (Sonne) gibt dabei die Richtungen vor. Die räumliche Dimension, die im werdenden Menschen mit der ersten Zellteilung alle Bedingungen des irdischen Lebens annimmt, ermöglicht die Einheit des Menschen in der Welt. Erwachsen geworden gibt sie ihm Bewegungs- und Handlungsfreiheit in alle Richtungen. Dabei weiß er was er tut. Denn sich selbst und die Welt erkennend, vergleicht er das Eine mit dem Anderen, Gestern und Heute, und hat handelnd Einfluss auf die Welt.

Die Zwölf in der Übung

Teilt man die zwölf Meridiane in sechs Yin- und sechs Yang-Meridiane, entsprechen die Yin-Meridiane dem Weiblichen, die Yang-Meridiane dem Männlichen. Yin steht in der chinesischen Philosophie auch für die geraden und Yang für die ungeraden Zahlen, weshalb Frauen traditionell Übungen in geraden Schritten von vier-, sechs-, acht- und zehnmal und Männer in ungeraden Schritten von drei-, fünf-, sieben- und neunmal wiederholen. Da die Zwölf dreimal vier wie viermal drei ist, kann sich der Mensch, ausgestattet mit Kopf, Brust und Bauch, Händen und Füßen, in alle Richtungen entfalten und er hat die Möglichkeit, sich aufrecht und in Übereinkunft von denken, handeln und fühlen der ursprünglichen Einheit wieder zu nähern. Wiederholt man eine Übung in diesem Sinne zwölfmal, drückt man damit die Harmonie von Yin und Yang aus, was auch Taiji genannt wird.

Die Vermessung der Welt und des Menschen bedarf eines Standpunktes

Doch auch der Standpunkt (Geburt/ Wurzel) ist Teil des Ganzen. Er muss noch Beachtung finden, denn nur mittels eines Standpunktes kann man eine Bewegung und die damit verbundene Wirkung bemessen. Die Füße fest auf der Erde, folgen wir noch einmal Laozi und „wenden den Rücken zum Dunkel und streben nach dem Licht“. Die Beziehung des Menschen zum Licht, also zur Sonne, geht nicht allein auf Beobachtung zurück, sondern sie wird bestimmt von einer Festlegung im Denken. Wendet man sich mittags in Richtung Sonne, geht die Sonne zur Linken auf, was im chinesischen Denken dem Osten und der linken Seite des Menschen entspricht, die damit zur Yang-Seite wird. Erst mit der Festlegung des Standpunktes in Hinblick auf die größte Kraft im Universum findet der Mensch Klarheit über die Richtungen im Raum, erst mit dieser Festlegung bestimmt er, von wo nach wo die Zeit im Kreis der Jahreszeiten verläuft.
Im traditionellen China wurde dies in der Beziehung des Kaisers zum Kosmos wie zu seinem Volk ausgedrückt. Deshalb ist der Kaiserthron als Zentrum des Reiches in der Verbotenen Stadt nach Süden gerichtet, denn so wurde er im Licht der Sonne als höchste Person des Staates erkennbar, hingegen die Minister, die vor ihm erschienen und damit die Sonne im Rücken hatten, waren dem Kaiser untergeordnet.
Wie früher in der westlichen Welt verlief die Zeit damit auch im traditionellen China von links (Osten) über oben (Süden/ vorne) nach rechts (Westen). Legt man in der Übung diese Vorstellung zu Grunde und greift mit den Füßen die Erde, wird man selbst zur Achse zwischen oben und unten, also zum Zentrum der vier Richtungen. Wir sind der Kompass, der jede Bewegung bestimmen kann. Mit dieser Idee, das relative Maß nutzend, lässt sich jede beliebige Wendung und Drehung im Körper genau ausführen und beschreiben. So erfahren wir, in welchem Maß welcher Meridian an einer Bewegung beteiligt ist und können den Körper in der Übung lenken. Erst die Festlegung eines Standpunktes verleiht uns Orientierung und die Möglichkeit der Vermessung der inneren und äußeren Räume. Sie hilft auch, die Wirkung einer Übung zu verstehen.

Die drei Schätze Jing, Qi und Shen

Wie wir gesehen haben, spiegelt sich die Einheit der Drei, von der alles Leben ausgeht, nach chinesischer Vorstellung im Menschen durch die Verschmelzung der drei Schätze Jing 經, Qi 氣 und Shen 神 wider. Es ist ein Prozess des Werdens, der, folgt man dem Licht, von links über oben nach rechts verläuft. Als Prozess der zunehmenden Materialisierung bewegt er sich ein erstes Mal von oben nach unten und heißt auch „Weg der Erde“ (Bild 2). Er kommt aus der Ebene des Shen (Geist/ Licht/ oben), wandelt sich im Dazwischen in Qi (Energie/ Mitte), um schließlich unten zu Jing (Essenz/ Dunkelheit/ Form) zu werden.

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Bild 2: Die drei Schätze des Menschen, Ulla Blum

Erst in der Vereinigung der drei Schätze im Jing nimmt diese Bewegung des Werdens Form an in der Tiefe des späteren Unterbauchs (Bild 3). Doch hat das Jing (Essenz) zunächst noch keine feste Form. Es ist ein noch flüchtiger, ein zellulär-flüssiger erster Ausdruck des Qi der Erde im Menschen.

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Bild 3: Vereinigung der drei Schätze im unteren Dantian.

Damit beginnt die Lebenskraft im Unsichtbaren. Dennoch ist die Ebene des Nicht-Sichtbaren äußerst nützlich und potent, denn aus ihr erwächst die Einheit der lebenden Wesen. Dieser, vorerst nicht sichtbare Ausdruck des Qi erzeugt den Energiekörper, also die Meridiane. Ihre Ausdehnungen knüpfen Verbindungen und erzeugen Wege. Damit entstehen immer weitere Räume mit unterschiedlichen Funktionen. Es ist ein Netz, das alles mit allem verbindet. Sie bilden den Menschen bereits vor seinem tatsächlichen Erscheinen (Form) in seiner Ganzheit ab. Es handelt sich um jene Kraft, die den physiologischen Prozess der Entwicklung in Gang setzt. Einmal in Gang gesetzt, wächst die Form heran. Dabei hat der Mensch wenig Einfluss auf das, was zwischen Werden und Vergehen geschieht, denn alles das, was nun den Menschen zum Menschen macht, folgt einem vorgegebenen und perfekten Plan. Diese Kraft wird in der chinesischen Medizin als vorgeburtliches Qi bezeichnet, seine Wirksamkeit umfasst Werden und Vergehen.

Der zeugende Prozess der Vereinigung der Drei wirkt sich zeitlich (Yang) wie räumlich (Yin) aus und betrifft als Kreisbewegung, die wieder aufsteigen muss (Vergehen), auch die Vergeistigung und Bewusstwerdung des Menschen. Denn geboren beginnt der Mensch selbstständig zu nutzen, was ihm gegeben ist. Selbst wenn es noch eine Zeit der Entwicklung bedarf, bis sich der Mensch seines mitgegebenen Potentials bedienen kann, verläuft dieser Prozess im erwachsenen Menschen als Aufwärtsbewegung umgekehrt von Jing über Qi zu Shen. In zunehmender Entmaterialisierung wird er auch „Weg des Himmels“ (siehe Bild 2) genannt. Er vollzieht sich von unten nach oben und beschreibt nicht nur den Weg des Vergehens, sondern auch Atem- und Bewegungstechniken zur Verlängerung des Lebens, wie sie der Daoismus, der Konfuzianismus und später auch der Buddhismus hervorgebracht haben. Doch wächst der Mensch heran, entfernt er sich immer weiter vom Ursprung und der ursprünglichen Einheit. Dazu heißt es bei Laozi: „Gehen wir in die Richtung des Seins, begegnen wir räumlicher Begrenztheit“. Es heißt aber auch: „Gehen wir in die Richtung des Nichtseins, gehen wir in Richtung des wunderbaren Wesens“. Im Qigong heißt es dazu:

„Konzentrieren des Geistes trainiert das Qi [Qi 氣];
trainieren des Qi bringt Essenz [Jing 經] hervor;
Essenz wandelt sich durch Training in Qi;
Qi wandelt sich durch Training zu Geist [Shen 神].“

Das Herz, die Mitte der Drei und der Vier im Menschen

In der Vereinigung der drei Kräfte, wird die Brust zum Wohnort des Qi und zum Zentrum des Menschen zwischen oben, dem Dritten Auge (Wohnort des Shen), und unten, der Mitte des Unterbauchs (Wohnort des Jing). Doch ist die Mitte der Brust auch die Mitte zwischen rechts und links. Es ist der Punkt, auf den man zeigt, wenn man mit den Händen „Ich“ sagt. Diese instinktive Mitte ist mit dem Herzen, der Kaiserin/ dem Kaiser aller Organe verbunden, welches fühlt und Einheit verspricht. In der Akupunktur heißt dieser Punkt schlicht die „Mitte des Menschen“, Tanzhong (Renmai 17). Im Qigong bezeichnet er das mittlere Dantian auf der vorderen Symmetrieachse.
Das hinter dem Brustbein gelegene Herz ist der Regent über die inneren Organe, in denen die Emotionen zu Hause sind. Sie gestalten den Kontakt des Menschen mit der Welt. In der chinesischen Medizin definiert man die beweglichen Emotionen (Yang) in ihrem gesunden Zustand als verankert im substanzreichen Yin der inneren Organe (fünf Zang), wodurch zwischen Organ und Emotion ein Yin-Yang-Ausgleich stattfinden kann. Das Herz, als übergeordneter Kommunikator und innerer Vermittler zwischen den fünf emotionalen Grundaussagen des Menschen, die da heißen Ärger (Leber), Freude (Herz), Sorgen (Milz), Trauer (Lunge) und Angst (Nieren), vereint alle emotionalen Impulse zu einem Ausdruck und beauftragt seinen ersten Minister, das Perikard, mit dem Ausdruck des Menschen in Richtung Welt.
Das Herz, als Kaiserin/ Kaiser der Organe, hat in seiner Position zwischen oben, dem Kopf (Verstehen), und unten, dem Bauch (Erfahren), die Aufgabe, in Übereinstimmung mit dem Geist des Himmels (Shen) dem Menschen auf der Erde den richtigen Weg zu weisen. Doch wird Shen, der Geist, in der chinesischen Medizin als geliehene Kraft beschrieben, die uns mitgegeben nur vernommen wird, ist der Mensch äußerlich still und in sich ruhend. Anders ausgedrückt, wenn er im Unterbauch, dem Entstehungsort alles Irdischen, die drei Schätze Jing, Qi und Shen zu einer Kraft vereint.
Wie im Bild der drei weisen Affen richtet man deshalb in der Übung die Sinnestätigkeit nicht in die Außenwelt, sondern schaut, horcht und schmeckt in sich hinein. So kann sich der Geist des Himmels im Menschen niederlassen. Es heißt, er sei schreckhaft wie die Vögel, die beim ersten Anlass wieder vom Baum auffliegen, auf dem sie sich von Zeit zu Zeit niederlassen. So braucht der Geist die sichere Anbindung an den Körper und die Einheit der drei Schätze, um sich zu offenbaren, was der inneren Ruhe entspricht sowie dem Ausgleich von Feuer und Wasser im Menschen. Auch der Schlaf als Gegenpol zur Aktivität des Tages erfüllt diese Aufgabe. Doch im Vergleich zum Qigong oder der Meditation ist der Schlaf ein unbewusster Vorgang, den wir täglich anstreben.

Die Kraft der inneren Einkehr

In innerer Einkehr tut man dazu vorerst nichts weiter, als dem Atem, der ja schon da ist, im unteren Dantian zuzuschauen. Die natürliche Bauchatmung ist wellenartig wie das Qi, und bewegt sich wie Wasser, Feuer oder Luft. Ist die Atmung an das untere Dantian gebunden, ist sie langsam, gleichmäßig und tief. In der Übung kann man diese Worte innerlich bewusst sprechen. Man nennt es „viele Gedanken durch einen ersetzen“, denn sowohl die Gedanken, als auch die Emotionen neigen dazu, uns nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Doch sind diese drei Worte, wieder und wieder gesprochen, Zauberworte für die Entspannung, betrachtet man dabei die Bewegungen des Atems im Innern. Da jede Zelle im Körper vom Geist des Himmels durchdrungen ist, versteht der Körper die Worte des Geistes unmittelbar. So kommt es in der Übung zur Vereinigung der drei Schätze und zur Einheit von Bewegung (Körper: Hier ist der Körper in Stille gemeint), Atem (Qi) und Vorstellungskraft (Geist) im unteren Dantian. Dann erkennt das Herz die Weisung des Himmels in innerer Klarheit (Intuition). Wichtig dabei ist die aufrechte Haltung der Wirbelsäule, welche sitzend oder stehend, gebunden an die Erde, die drei Dantian auf einer Linie vereint, um so, im Sinne eines Yin-Yang-Ausgleichs auch alle Impulse des Nervensystems zu regulieren. Das Herz hat also zwei Aufgaben. Im Schmelzvorgang der drei Schätze, der sich im Unterbauch vollzieht, erkennt es intuitiv den richtigen Weg und es eint die fünf Emotionen zu einem Ausdruck. Himmel und Erde im Herzen verbunden, kann sich der Mensch seinem Gegenüber öffnen, ohne sich selbst zu verlieren. Deshalb ist das Herz die Mitte des Menschen.

Verknüpfen und weben

Spricht man im Qigong vom Kleinen Kreislauf, der als Verbindung der Meridiane Renmai und Dumai zirkuliert, beschreibt man lediglich zwei Dimensionen im Körper, da er auf der vorderen und hinteren Symmetrieachse vom Unterbauch über den Damm und hinten über die Wirbelsäule nach oben zum Kopf und wieder zum Unterbauch verläuft. Doch kann der Kleine Kreislauf in der körperlichen Form nur fließen, berücksichtigt man den Chongmai, das Durchdringungsgefäß, der in der Mitte das Menschen zwischen Ren- und Dumai, den Raum zwischen Mund/ Nase und den unteren Öffnungen durchzieht und so das Innen von einem Außen unterscheidet, sowie den Daimai, das Gürtelgefäß, welches rechts und links zwischen vorne und hinten, zwischen Mingmen und dem Nabel, durch und um die Taille verläuft und damit horizontal zwischen oben und unten unterscheidet. Nur gemeinsam bilden die vier Gefäße den dreidimensionalen Raum, in dem der Kleine Kreislauf zirkulieren kann (Bild 4). Deswegen wohl heißen sie die vier Gefäße der ersten Generation.

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Bild 4: Die vier Meridiane der ersten Generation, Ulla Blum

Mit diesen vier Meridianen entsteht die grundlegende menschliche Form und in ihr alle weiteren Meridiane, Organe und Strukturen, die den Menschen zum Menschen machen. Das chinesische Wort für Meridian enthält das Zeichen für Seide. Meridiane werden also mit einem Gewebe assoziiert. Ebenso wie man auf einem Webstuhl Fäden zu einem Stoff verknüpft, verweben sich auch die Meridiane unter- und miteinander. Die vertikal verlaufenden Meridiane Ren-, Du- und Chongmai, die im Unterleib entspringen und von dort aus in ihrer ersten Bewegung nach oben zum Kopf ziehen, um sich dort erneut zu vereinen, bilden die „Kettfäden“. Der Daimai, der horizontal verläuft, ist der erste „Schussfaden“. Er umfasst die Form und bestimmt den Rahmen zwischen vorne und hinten, rechts und links, damit die Form, sich selbst schützend, entstehen kann. Zusammen sind sie das Gewebe, in dem die Form entsteht.

Der Knoten, der die sechs Richtungen des Raumes zur inneren Mitte macht

Dies geht nicht ohne einen Knoten, denn mit der vertikalen Bewegung ist ein Wechsel in der Richtung verbunden, die genauso aussieht, als wenn man mit den Händen vor sich das Binden eines Knotens imitiert, eine verdichtende Bewegung, die man im Qigong häufig vor dem Unterbauch ausführt (Yin-Yang Monade). Mit der gleichen Bewegung wird auch der Nabel nach der Geburt geschlossen, damit der Mensch, geboren und von der Mutter getrennt, eigenständig werden kann.
Ein Knoten ist eine universelle Bewegung, die alle Dimensionen des Raumes durchläuft, oben und unten, vorne und hinten, rechts und links. Wir treffen ihn deshalb auch in anderen Lebensbereichen an, wo er ebenso ein Ganzes entstehen lässt. Drei Beispiele verbildlichen dies. (siehe Abbildung 5 – 7)

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Abbildung 5: Hände verknüpfen die Richtungen des Raumes im unteren Dantian / Foto: Tilo Schönknecht
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Abbildung 6: Menschliches Innenohr, Theodor Schwenk, Das sensible Chaos, Verlag Freies Geistesleben 1997, Seite 83
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Abbildung 7: Form und Richtung in der Zeit, Stephen Hawking, Das Universum in der Nußschale, Hoffmann und Campe, 2001, Seite 41 immer noch nicht autorisiert

Damit erzeugen die vier Meridiane der ersten Generation den grundlegenden Körperraum, der, wenn auch noch ohne Arme und Beine, bereits die Ganzheit des Menschen ausdrückt. Das liegt daran, dass zwischen Kopf und Unterleib alle lebenswichtigen Organe und Funktionen zu finden sind. Deshalb nennen wir Arme und Beine Anhangskelett, denn sie agieren ausschließlich Impulse aus, die zwischen Kopf und Unterleib entstehen oder aus der Welt zu uns zurückkommen. Arme und Beine stellen selbst keine Energie her und bewegen sich nur in Verbindung mit Kopf, Brust und Bauch. Sie dienen dem Menschen als differenzierte Verlängerungen mit der Welt, und geben ihm die Möglichkeit, sich handelnd (Arme und Hände) auf der Erde zu bewegen (Beine und Füße).

Das Tor des Lebens, Mingmen und der Lebensfaden

Knoten für Knoten (Zellteilung) wird sich der Körper weiter entfalten. Damit das Gewebe als Ganzes wächst, braucht es einen (Lebens-) Faden, der von Beginn bis zum Ende mit dem Ursprung verbunden bleibt. Das sind die nicht sichtbaren, doch der Wahrnehmung zugänglichen Meridiane, die zwischen den Kräften von Himmel und Erde, rechts und links ein wirksames Fließgleichgewicht herstellen. Sie folgen der Form und durchziehen den ganzen Körper, um jeden Ort zu jeder Zeit zu beleben und um alles mit allem zu verbinden. In der dreidimensionalen Anlage des Körpers strömt das Qi (Drei/ Bewegung) deshalb unaufhaltsam, sich immer weiter verzweigend, aus der ursprünglichen Mitte in alle Richtungen. Vorerst strömt es aus Mingmen, dem Tor des Lebens. Später in der Entwicklung erleben wir diesen Ort als hinteres Dantian im unteren Dantian, gelegen auf der Symmetrieachse des Rückens zwischen dem 2. und 3. Lendenwirbel.
Das vorgeburtliche Qi kommt aus Mingmen und macht vorne (Süden) im Nabel Kontakt mit der Mutter, die den werdenden Embryo ernährt. Dies ist, wenn auch noch vorgeburtlich, ein erster Ausdruck des nachgeburtlichen Qi im Menschen. Im geborenen Menschen, wo der Nabel verschlossen ist, verzweigt und verlagert sich diese Verbindung und wird zur Beziehung zwischen dem unteren Dantian (vorgeburtliches Qi) und Magen und Milz (nachgeburtliches Qi) im Menschen. Im unteren Dantian ist die Quelle der Kraft, fühlbar und nutzbar als kreisrundes Zentrum im Zentrum der Schwerkraft, welches alle Bewegungen ausgleicht und dem Körper sein ursprüngliches Qi verleiht, das Yuan Qi. In zyklischer Wiederkehr wird es erhalten und geschützt vom nachgeburtlichen Qi der Nahrung aus Milz und Magen. Als mittleres Dantian im unteren Dantian bleibt es verborgen und geschützt in der zeitlichen und räumlichen Tiefe des Unterbauchs, verbunden mit dem Ursprung des Lebens (Mingmen).
Neben der hinteren Begrenzung des unteren Dantian bildet der Dammbereich (Perineum) die tiefste Begrenzung im Körper, der in seiner ganzen Ausbreitung (drei Muskelschichten des Beckenbodens) in der chinesischen Medizin als Ahnenmuskel bezeichnet wird, da er als Muskelgewebe alle Strukturen des Körpers trägt, umfasst und bewahrt und so auf den ganzen Körper einen formgebenden Einfluss hat. Damit ist das untere Dantian, welches oben vom Zwerchfell begrenzt wird, ein Raum mit vier Richtungen, in dem das Qi beständig fließt und sich auf allen Ebenen austauscht und alle darin befindlichen Räume (Organe und Strukturen) erfüllt und belebt. Wie wir bereits gesehen haben, vollzieht das Qi an den Wendepunkten der Kreisbewegung eine Transformation. Austausch ist deshalb auf allen Ebenen gewährleistet, weil die Qi-Transformation der Flüssigkeiten nicht nur innerhalb einer Form, sondern auch zwischen jedem Innen und Außen, zwischen allen Formen und Funktionen stattfindet.

Transformation

In Übereinkunft mit dem großen kosmischen Vorbild, der ewig gleichen Bewegung der Sterne und Planeten um ein Zentrum, steigt auch das Qi des Körpers von unten, dem Norden (großes Yin), nach links auf und wird zum Osten (kleines Yang). Es steigt weiter auf, doch fließt es jetzt nach rechts, um oben in der Mitte zum Süden (großes Yang) zu werden. Als sinkende Bewegung fließt es weiter nach rechts, und erreicht auf der rechten Seite den Westen (kleines Yin). Es wandelt sich erneut in eine Bewegung nach links, um zum großen Yin zurückzukehren. So geht es rhythmisch, wie im Jahres-, Tages- und Stundenkreislauf, auch im dreidimensionalen Körperraum in die ewig gleiche Richtung (Bild 1). Doch findet die Bewegung, die sich, wie wir gesehen haben, überall zwischen oben und unten, vorne und hinten, rechts und links ausbreitet, in jeder Richtung und auch als Umkehrung statt. Damit sind die tatsächlichen Bewegungen wesentlich vielschichtiger als in dieser Beschreibung, die uns lediglich das Gesetz der Wandlung offenbart.

Die Kreis-Bewegung des Qi erzeugt in der Zeit die Spiralbewegung

Nur scheinbar schließt sich der Kreis, denn im Laufe der Zeit begreift man, dass der Kreis kein Kreis, sondern eine Spirale ist. Nur als Spiralbewegung geht die Kreisbewegung weiter in der Zeit. So lernt der Mensch Tag für Tag und Jahr für Jahr dazu, denn in der Entwicklung zwischen Werden und Vergehen möchte man einen Unterschied zwischen dem Anfang und dem Ende machen. Die Themen, mit denen sich der Mensch im Kreislauf der Zeit beschäftigt, bleiben die gleichen, doch steht es uns frei, zu lernen und Situationen selbst mitzubestimmen.
Dabei ist es hilfreich zu verstehen, dass im „Strahl der Zeit“ immer neue Kreise im großen Kreis, immer neuer Raum im großen Raum entsteht. Zudem ist jedes individuelle Leben ausgestattet mit der Kraft zu überleben und den eigenen Raum zu schützen, selbst wenn es schwierig wird. Deshalb verfügt das Qi, immer auf dem Vorherigen aufbauend, über die Fähigkeit, sich beständig zu erneuern, und nimmt, alles durchdringend und belebend, je nach Ort und Zeit, immer neue Formen an.

Mingmen-Atmung und das Yuan-Qi

Neben dem Körper sind es die Atmung und die Vorstellungskraft, die wir im Qigong zu einer Kraft vereinen. Dabei ist der Atem Ausdruck des Qi (mittleres Dantian), die Vorstellungskraft Ausdruck des Shen (oberes Dantian) und der Körper (unteres Dantian) Ausdruck des Jing.
Wollen wir etwas als lebendig erkennen, suchen wir das Ein und Aus der Atmung, denn Atem ist Leben. Im heranwachsenden Menschen geschieht Atmung in jeder Zelle. Im Menschen, der gerade gezeugt wird, findet die Verschmelzung von Shen, dem Geist des Himmels, mit Jing, der Form, ein erstes Mal im Punkt Mingmen, dem „Tor des Lebens“, statt, wodurch die Lebenskraft, das Qi, entsteht. Als Pulsation hat das Leben dort begonnen, wo im geborenen Menschen der Punkt Mingmen (Dumai 4), genau auf der Grenze zwischen oben und unten, auf der Symmetrieachse des Rückens liegt. Jeder Mensch findet diesen Punkt, wenn er sich bewegt und seine Hände fragt, wo das wohl sein könnte. Der Körper weiß die Antwort. Mit der Geburt findet diese anfängliche Pulsation im ersten Atemzug einen weiteren, doch nun einen sichtbar selbstständigen Ausdruck. Dabei bleibt die Einatmung als tiefe Bauchatmung ein Leben lang an Mingmen und das untere Dantian gebunden.

Zusammen mit den Nieren, deren doppeltes Vorkommen rechts und links der Wirbelsäule als Feuer- und Wasser-Niere bezeichnet wird, bewegt sich das Qi vom ersten Moment der Befruchtung bis zum letzten Atemzug ohne Unterbrechung zwischen den beiden Nieren und durchfließt beständig Mingmen, weshalb dieser Punkt auch Tor der Atmung genannt wird. Dieser Wechsel des Qi zwischen der rechten und linken Niere durch Mingmen vollzieht sich in Form der „liegenden Acht“. Es ist die Geburt der Spiralbewegung im Körper des Menschen, denn im dreidimensionalen Raum ist dieser Austausch nur in dieser Form möglich. Schon die Vermischung der zeugenden Flüssigkeiten der Eltern erzeugte diese Form. Fortan findet sie im flüssigen Austausch jeder Zelle bis in die härtesten Strukturen der Zähne, Knochen und Gelenke immer und überall im Körper statt.
Da der Impuls der Einatmung das Annehmen der irdischen Bedingungen bedeutet, bestimmt Mingmen jede weitere Entwicklung im Menschen. Er ist der Ursprung von Zeit und Raum im Menschen. Deshalb nennt man ihn auch „Tor des Schicksals“, die Qi erzeugende Quelle (Yuan-Qi), die Quelle des San Jiao, die Wurzel der fünf Yin- und Yang Organe und der zwölf Meridiane. Als erste Mitte des Menschen ist dieser hintere, äußere Bereich das Tor, durch welches das Yuan-Qi ein- und ausgeht. Im geborenen Leben ist diese Quelle im Innern des unteren Dantian verborgen und geschützt der „geheime Ursprung“ des Yuan-Qi, welches wir über die Beobachtung der Atmung aktivieren können. Deshalb beginnt und endet jede Qigong-Übung im unteren Dantian, deshalb versammeln sich alle Kräfte des Menschen in der Nacht im Zentrum des Körpers.

Bewusstsein

Zusammen mit dem Herzgeist ist die Atmung (Verbindung von Herz und Lunge im oberen Dantian), Zugang und zugleich Zeuge des Bewusstseins über uns selbst. Der Mensch (Jing) kann das Innere seines Körpers mittels der Atmung in Verbindung zum Herzgeist (Qi und Shen) bewusst erleben, denn der Atem ist das „Fahrzeug“ des Geistes im Körper. Ich atme und nehme mich selbst dabei wahr. Die Übung sagt, fühle, was unten ist. Sie sagt, fühle, was vorne, oben und hinten ist. Finde deine Mitte, und der Körper tut es. In den alten Schriften heißt es: Indem Shen und Qi gemeinsam Einzug in den Körper halten, wird Mingmen der Ort, wo Geist (Shen) und Essenz (Jing) zusammen hausen. Die Einatmung, die von der Region um Mingmen ausgeht, steht damit auch in direkter Verbindung zur zentralen Verarbeitung aller Impulse im Kopf. Und das Gehirn, alle körperlichen Impulse abbildend, orientiert sich, um zu funktionieren wie der Körper zwischen oben und unten, rechts und links, vorne und hinten. Das Gleichgewicht wahrend, gleitet man langsam, gleichmäßig und tief, wie ein Surfer auf der Welle durch die „Innere Landschaft“, um das Leben immer tiefer zu verstehen.

Vier Meridiane bilden die äußere Form und das innere Achsenkreuz des Lebens

Indem sich bei der Konzeption des Menschen der Geist Shen mit den Substanzen der Eltern verbindet, erscheint Mingmen, der Ort, aus dem alle Formen entstehen. Indem drei der vier Meridiane der ersten Generation, die Meridiane Ren-, Du- und Chongmai auf vertikaler Ebene aus der Tiefe des späteren Unterbauchs zum Kopf Richtung Licht wachsen und sich dort ein zweites Mal vereinen, wird der Kopf der Bereich, der alle Informationen sammelt und auswertet (Denken).
Indem der Daimai den horizontalen Raum rechts wie links und von hinten nach vorne umschließt, um gemeinsam mit den anderen drei Gefäße einen Raum zu bilden, wird der Nabel, Shenque (Tor des Geists) der Ort, wo vorne das Zukünftige liegt, auf welches wir ein Leben lang zu gehen. Indem die vier Meridiane der ersten Generation im Körper eine horizontale und vertikale Mitte bilden, entsteht der zur Sonne orientierte Körperraum als Einheit von Kopf, Brust und Bauch als Abbild der universellen Kräfte im Menschen, in dem alle weiteren Strukturen entstehen. Der symmetrische Körper entfaltet sich dabei auf vielfache Weise. Doch schon mit den vier Meridianen der ersten Generation können nicht nur oben-unten, vorne-hinten, rechts und links, innen und außen, sondern auch acht Räume unterschieden werden (Bild 8). Die vier Meridiane der zweiten Generation (Zweige) bilden, zusammen mit den vier Meridianen der ersten Generation (Wurzel), sich rechts und links der Symmetrieachse weiter verzweigend, in Armen und Beinen die jeweils vier Öffnungspunkte der Acht Außerordentlichen Gefäße aus. Dort vertreten sie die vier Richtungen des Raumes. Als Übergang von den Meridianen der ersten Generation, erzeugen die Meridiane der zweiten Generation den Großen Kreislauf, und mit ihm alle weiteren Strukturen des Körpers.

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Bild 8: Vier Meridiane bilden acht Räume

Damit ist der ganze Körperraum entstanden und mit ihm der innere Kompass, welcher überall allen noch zu entstehenden Organen und Strukturen ihren Platz zuweist. Er unterscheidet verlässlich innen wie außen und dient fortan der sicheren Orientierung in Raum und Zeit. In der ersten, vertikalen Ausdehnung des Körpers zwischen Kopf und Damm, Shen und Jing, die im unteren Dantian in der Verschmelzung der drei Schätze entsteht, bewegt und erneuert die ursprüngliche Yin-Yang-Dynamik des Kleinen Kreislaufs, gebunden an die Gravitation, tief im Innern ein Leben lang die Kräfte des Menschen. Hingegen hat die umschließende, die horizontale Ausdehnung des Daimai, – die Achse der Erde, zu tun mit dem Gleichgewicht im Menschen. Es ist die Achse, auf der sich auch Hun, die Geistseele (Leber) und Po, die Körperseele (Lunge) nach dem Gesetz von Yin und Yang austauschen. Im Qigong finden wir diese Vorstellung im Sinken-Steigen, Öffnen-Schließen jeder Übung wieder. Wobei das Sinken-Steigen als erste Kraft und das Öffnen-Schließen als zweite Kraft beschrieben wird. Da die äußere Hülle wie die Meridiane im Innern, die nun überall zusammen mit den Muskeln, Sehnen und Faszien elastisch verlaufen, mit dem inneren Achsenkreuz der vier Richtungen verwoben sind, bleibt die Einheit des Wesens erhalten und geschützt, und kann im Sinken-Steigen, Öffnen-Schließen, wenn auch erst einmal äußerlich geübt, nach und nach auch die tiefsten Schichten des Menschen erreichen, versteht man das Qigong als Übung der drei Schätze.

Aus energetischer Sicht wird der Fötus bis zur Geburt also drei grundsätzliche Schritte durchlaufen, um vollständig und mit allen Organen und Funktionen zu erscheinen:

  • Die Entfaltung von Kopf, Brust und Bauch mittels der vier Meridiane der ersten Generation
  • Die Erweiterung der menschlichen Form um die vier Extremitäten mittels der vier Meridiane der zweiten Generation
  • Die Entwicklung der zwölf Meridiane bis zur Geburt

Die Geschichte geht weiter. Sie geht von der Vier über die Fünf (fünf Elemente) bis zur Zwölf. Auch wenn erst die fünf Elemente und mit ihnen die inneren Organe (Zang und Fu) alle Funktionen erfüllen, bezieht man sich im Qigong, den Ausgleich der Kräfte anstrebend, immer auf die Symmetrie des Körpers. Hier sei so viel gesagt: Praktiziert man das Qigong als Übung der drei Schätze, fördert es die Einheit im Menschen. Seine Wirkung ist damit tiefgreifend und verspricht Heilung auf allen Ebenen. Wird die Atmung in Verbindung zum Herzgeist geübt, kommt dem Qi als alles verbindende Kraft eine große Wirksamkeit zu, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Als Kind des Himmels folgt das Qi jedoch nicht der räumlichen Begrenztheit des menschlichen Geistes, sondern dem Dao (Wuwei) . So geübt wird das Qigong eine Kraft, die alle Ausdrucksformen des Menschen positiv beeinflussen kann.

Surf-Tipps zu San Bao – die drei Schätze im Menschen Jing, Qi und Shen

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Autorin: Ulla Blum, Berlin
Heilpraktikerin, Praxis für Akupunktur und ganzheitliche Körpertherapie (TCM)
Dozentin für die philosophischen Grundlagen der Chinesischen Medizin, Ausbildung, Supervision, Vorträge, Gastdozenturen, Publikationen
Qigong-Ausbildung bei Prof. Jiao Guorui und vielen anderen Lehrern.
1991 Mitgründung von Shou Zhong der AGTCM-Schule für Chinesische Medizin in Berlin. Als Qigong-Lehrerin unterrichtete ich dort viele Jahre das Meridiansystem mit einem Schwerpunkt auf die unmittelbare Wahrnehmung und die Ganzheitlichkeit des Menschen.
2012 Gründung der Qigong-Schule SAN BAO – DREI SCHÄTZE in der die Praxis das Qigong in Beziehung zur chinesischen Medizin und Philosophie gelehrt wird.

Fragen und Anmerkungen zum Artikel: tcm.qigong@ulla-blum.de
Weitere Informationen zur Autorin: www.ulla-blum.de / www.qigong-ausbildung-berlin.com

Fotos: siehe Bildunterschriften