Fajin erweitert verstehen

Fajin“, also alle Formen einer Energieabgabe innerhalb der Kampfkunst, ist ein dehnbarer Begriff. Im allgemeinen Sinne kann unter „Fajin“ jede Form einer Technik verstanden werden, die einen Partner kampfunfähig machen soll. Dazu gehören Schläge, Tritte, Hebel usw. Jede Bewegung, bei der es darum geht, eigene Energie abzugeben, um das energetische System des Partners zu stören, kann „Fajin“ genannt werden. Damit ist aber noch nichts über die Qualität der Energieabgabe gesagt.

Die qualitative Bestimmung von Fajin erlaubt die Definition von „Fajin“ im engen Sinne.

Fajin

Demnach kann alles als „Fajin“ bezeichnet werden, was auf elastischer Kraft beruht und nicht auf rein mechanischer bzw. muskulöser. Auch der Begriff der elastischen Kraft ist nicht einheitlich definiert. Am verbreitetsten ist der Ansatz, elastische Kraft dahingehend zu verstehen, dass Energie nur sekundär über Muskeln übertragen wird und primär über die Gelenkstruktur samt des dazugehörigen Gewebes. In neuerer Zeit ist hier das Schlagwort „Faszien“ relevant.
Da der Körper aber als Einheit agiert, sind die Muskeln nicht zu vernachlässigen. Sie sind an jeder Bewegung beteiligt. Hinzu kommt, dass unter „Fajin“ oft auch eine Form der federnden Kraft verstanden wird, die im Zusammenhang mit einem Partner entsteht: Der Partner gibt Energie ab, man nimmt sie auf, speichert sie im verwurzelten Bein und lässt sie dann in den Partner zurücksteuern.
Ein oft vernachlässigtes Problem sind hierbei die Voraussetzungen des Fajin. Um die Energieabgabe zu ermöglichen bedarf es nämlich mehrere Faktoren, die aufeinander abgestimmt sein müssen:

  1. fester Stand
  2. Entspannung und Aufrechthaltung einer guten Körperstruktur
  3. Winkel, Distanz und Timing mit bzw. zu dem Partner

In einer dynamischen Situation mit unkooperativen Partnern sowie unter dem Vorhandensein von Stress dürfte es schwer sein, alle Prämissen einzuhalten, weshalb „Fajin“ einer neuen Definition bedarf, damit die Energieabgabe effektiv sein kann. „Effektiv“ bedeutet hierbei die größtmögliche Abgabe von Energie unter so wenige Grundvoraussetzungen wie möglich.
Demnach sind alle „äußeren“ Bedingungen hinfällig: Winkel, Distanz, Timing, aber auch der korrekte Stand.Wesentliche Bedingung bleibt die Entspannung im eigenen Körper, um jeglichen Druck absorbieren oder umlenken zu können. „Druck“ meint sowohl die Energie des Partners als auch die Schwerkraft als unaufhörlich wirkender Druck oder eigene Kollisionsenergie.

Innen als Basis aller Bewegung

Daraus ergibt sich „Fajin“ als keine Form der Energieabgabe, sondern als eine Form der Energieübergabe, indem das Potential der Schwerkraft im eigenen Körper genutzt wird, um sie in den Partner zu übertragen. Man verzichtet auf eigene Kraft ebenso wie auf die Kraft des Partners, die wie bei einer zusammengedrückten Feder zurückgegeben werden könnte.
Fajin darf nicht länger, wie allzu oft angenommen, als explosive Form der Energieabgabe verstanden werden, weil die Explosivität unnötige Verspannungen oder brüchige Bewegungen begünstigt. Fajin ist in gewisser Weise eine Art Begleiterscheinung der Anpassung des Körperinneren an die Schwerkraft: Es entsteht aus sich selbst heraus; der eigene Körper gibt keine warnenden Angriffssignale, sondern agiert in Harmonie mit/als Schwerkraft. Es existieren keine druckerzeugenden Bewegungen, weshalb der Partner diese Art von Fajin nicht deuten kann. Wo es keinen Druck gibt, gibt es auch keinen Gegendruck.
Das Wichtigste hierfür ist die Erfahrung der Wirkung der Schwerkraft im Körper inklusive des Erkennens von Kraftwegen im Körper, die der Leitung von Energie dienlich sein können.
Eine erste Annäherung kann selbst erprobt werden:

  1. normaler Stand,
  2. plötzliches Sinken, was einen Rebound im Körper begünstigt.

Der Rebound, also das Aufsteigen einer nach unten fließenden Energie, funktioniert allerdings nur mit einem Aufprall und ist daher nur für Übungszwecke geeignet: Der Körper, der plötzlich entspannt und strukturiert steht, ermöglicht das „Abstürzen“ der Schwerkraft durch den Körper auf den Boden. Die Kraft kommt auf dem Boden an und kann von dort nach oben in den Körper zurückgeschlagen werden wie bei einem Basketball, den man auf einen Boden schleudert. Er prallt ab. Die aus dem Abprall vorhandene Energie durchfließt den Körper und kann sich z. B. als Schlag manifestieren.
Der Partner kann diesen Schlag nicht als Gefahr identifizieren, weil die Bewegung entspannt erfolgt und es sich nicht um körpereigene Energie handelt, sondern um die Wirkung der Schwerkraft, die in umgekehrter Weise vom Boden über den Körper zu dem Partner hin fungiert. Es findet im engen Sinne auch keine Kraftübertragung, sondern lediglich Kraftwirkung statt.
Fajin wird so zu einem äußerlich unspektakulären Phänomen. Im Inneren ist es aber der Einsatz der größten Kraft, die ein Mensch nutzen kann.
Im nächsten Schritt wäre der Aufprall am Boden zu vermeiden, weil dieser Zeit bedeutet und Zeit und Raum korrelieren. Der durch das Sinken entstandene Aufprall mit anschließender Rückwirkung braucht Zeit und damit Raum. Dieser Raum ist somit besetzt und damit – wenn auch nur kurz – unbrauchbar. Deshalb gilt es, will man Fajin in diesem Sinne erzeugen, die von oben nach unten wirkende Schwerkraft im Körper „einzufangen“ und direkt auf den Partner zu übertragen. Man erspart den Abprall am Boden und wirkt flexibel und unmittelbar.
Bedingung ist aber das bereits erwähnte Wissen um die Kraftwege im eigenen Körper. Ein Weg ist auch immer der Zusammenhang von Zeit und Raum, also Distanz. Letztlich ist Fajin somit die Distanzüberwindung der Schwerkraft im eigenen Körper.
Dies kann mit Körperkontakt zum Partner oder ohne erfolgen, denn die Bedeutung der Distanz wird aufgegeben. Man muss nicht nah oder fern am Partner stehen, um diese Form der Kraft zu nutzen.
Dies hängt mit der Bedeutung des eigenen Körpers im Raum zusammen. Durch die Nutzbarmachung der Schwerkraft, verringert sich die Rolle des Körpers im Raum, weil dieser gewissermaßen mit dem Raum verschmilzt. Damit auch mit der Zeit.
Der Partner kämpft so im Raum und gegen diesen Raum, sehr wohl aber nicht gegen den Körper seines Partners, da dieser nur noch eine Hülle ist, in der die Schwerkraft des Raums wirkt.
Je entspannter man ist und je mehr die Aufmerksamkeit auf dem Inneren liegt, desto besser kann die Wirkung der Schwerkraft entdeckt und genutzt werden. Dann braucht es auch für Schläge keinen verwurzelten Stand mehr, weil es keinen Abprall gibt, der aufgegangen werden müsste. Man ist deutlich flexibler und auch unberechenbar, denn die im Körper wirkende Kraft kann je nach Niveau des Könnens mehr oder weniger stark gelenkt werden.

Autor: Christoph Eydt

Foto: Taiji Forum