Taijiquan – Partnerübungen

Taijiquan – Partnerübungen als Interaktion, oder: Wie man einen Partner „fliegen“ lässt

Warum und wie Partnerarbeit im Taijiquan wesentlich für den individuellen Fortschritt ist und was es mit Chi-Demonstrationen auf sich hat.

Taijiquan, Push Hands

Taijiquan ist in vielen Facetten bekannt. Die bekannteste dürfte das Schattenboxen sein, also das Laufen einer Bewegungsabfolge nach vorgegebenen Mustern. Ein anderer wesentlicher Bestandteil des Taijiquan sind die Partnerübungen, mit denen sowohl die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Gegenübers überprüft werden können als auch die eigenen. Vor allem das Tuishou, was als „schiebende Hände“ bekannt ist, trägt dazu bei, den Blick auf das Innere zu richten und Gleichgewichte kontrollieren zu lernen.

Wie gut jemand Taijiquan beherrscht, kann mit unterschiedlichen Parametern festgestellt werden. Häufig dienen Bewegungen, die mit einem Partner ausgeführt werden, als Indikator für das Können des Praktikers. Schafft er es, den vom Partner ausgehenden Kräften auszuweichen, sie umzulenken, verpuffen zu lassen oder gegen ihn zu richten? Bleibt er verwurzelt, entspannt genug und verfügt stets über eine hohe Aufmerksamkeit? Taijiquan wird gerne auf das Laufen der Form reduziert. Doch das Erlernen und regelmäßige Üben einer Bewegungsabfolge ist nur ein Bruchteil dessen, was unter Taijiquan verstanden wird. Wer nur die Taiji-Bewegungen lernt, ohne sie an einem Gegenüber zu testen, der kann nur schwer erkennen, ob das, was er tut richtig oder falsch ist. Die Partnerübungen im Taijiquan dienen daher nicht nur der Vorbereitung auf einen Kampf, sondern sind – einfach gesagt – Kontrollmechanismen, mit denen der eigene Fortschritt geprüft werden kann.

Worauf es beim Partnertraining ankommt

Je nach Ausrichtung, Zielen, Motiven und den individuellen Ansprüchen kann das Partnertraining extrem variieren. Von leichten Druck-, Zug- und Ausweichbewegungen kann es bis zum freien Kampf reichen. Im Zentrum aller Übungen sollte dabei stets der Fokus auf körperinneren Vorgängen liegen – nicht umsonst ist Taijiquan eine innere Kampfkunst. Beim Partnertraining kommt es darauf an, eigene körperinnere Vorgänge optimal zu initiieren und die des Trainingspartners rechtzeitig zu erkennen. Dieser sendet beständig Signale und je besser man sie erkennen, deuten und nutzen kann, desto besser sind die Taiji-Fertigkeiten. Umgekehrt gilt dies nicht: Hier geht es darum, sich so unauffällig zu bewegen, dass der Partner die eigenen Signale nicht oder nur falsch wahrnehmen kann. Was als Vorbereitung für den Kampf dient, ist für jeden Taiji-Praktiker ein essenzielles Instrument, um die eigene Bewegung zu intensivieren. Sich vor einem Spiegel alleine zu bewegen, ist (zu) einfach – schnell schleichen sich Fehler ein, die nicht immer erkannt werden können. Wenn aber jemand von außen Druck ausübt und man mit dem eigenen Taiji diesem Druck nicht standhalten kann, weiß man, dass etwas nicht stimmt und man sich besser bewegen muss. Der Fehler kann im Timing, der Distanz, bei der Gleichgewichtsverlagerung, der Körperstruktur oder der Konzentration liegen. Hier gilt es, genauestens zu forschen.

Das Subtile erkennen und Interaktion fördern

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Kampf bzw. jede Form körperlicher Auseinandersetzung, so auch die Partnerübungen, ist Interaktion. Interaktion heißt Kommunikation. Die Partner senden und empfangen kontinuierlich Signale des Gegenübers, ordnen diese ein und (re-)agieren in vielfältiger Form. Bei der beliebten Partnerübung des Händeschiebens geht es darum, mittels lockerem, aber beständigem Körperkontakt die Bewegungen des Partners zu erkennen, bevor dieser sie ausführen kann. Außerdem müssen Kräfte umgeleitet und eigene freigesetzt werden. All dies macht das Tuishou (Push Hands) zu einer komplexen Übungsanordnung. Grundlegendes Merkmal sämtlicher Tuishou-Übungen ist, dass nichts mit unnötiger Muskelkraft bewirkt werden soll. Das heißt, eine Anspannung wie man sie von anderen körperlichen Betätigungen kennt, um Widerstände zu überwinden, sollte vermieden werden, stattdessen sind Beweglichkeit, Timing, Gewichtsverlagerung und Distanz ausschlaggebende Elemente, um die scheinbaren Widerstände zu umgehen oder zu Fall zu bringen. Doch was genau ist ein Widerstand?
Ein Widerstand ist eine Aktion des Partners, die gegen den anderen Partner gerichtet ist. Er beginnt im Kopf/Herz mit der Intention, gegen den anderen vorgehen zu wollen. Er mündet in der Manifestation einer physischen Bewegung. Dazwischen liegt Zeit, die vom Partner genutzt werden kann, um das Konzept des Partners durcheinanderzubringen, so das Gleichgewicht zu rauben und mühelos Kontrolle zu gewinnen.
Ein einfaches Beispiel ist der gerade Druck mittels Arm/Hand gegen die Brust, um den Partner nach hinten zu stoßen. Diesem Druck, der mathematisch ausgedrückt, nichts weiter als ein Vektor, also eine Kraftlinie ist, muss man sicher stehend ausweichen. Das setzt voraus, den Ausgangsort der Kraftlinie, den voraussichtlichen Endpunkt und die eigene Position dazwischen zu kennen. Mittels einer stabilen Körperstruktur können die eigenen Gelenke so bewegt werden, dass man mit minimalen Bewegungen der Kraftlinie ausweichen kann. Im Tuishou spricht man oft vom Sinken, also dem bewussten Entspannen und Gewichtverlagern. Mit dem Sinken ist nicht nur ein Ausweichen des gesamten Körpers möglich, sondern zugleich das Generieren eines Kraftpotentials, welches wie bei einer zusammengedrückten Feder schockartig freigesetzt werden kann. All dies wird in der Taiji-Form mit den einzelnen Bewegungen angedeutet, geübt kann es nur mit einem Partner werden, der Druck geben und nehmen kann.

Vom Subtilen zum Großen

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In vielen Taiji-Demonstrationen (Chi-Demonstrationen) sieht man, wie Trainingspartner wie vom Blitz getroffen vom Partner wegfliegen, wie sie scheinbar unter einem enormen Druck zusammenbrechen oder sich mühelos in jede beliebige Richtung steuern lassen. Was einigen als Show, Betrug oder Absprache vorkommt, ist nichts weiter als das oben Beschriebene in einer extremen Form, das heißt, unter Optimalbedingungen.
Bleiben wir beim Beispiel des Drucks mittels Arm gegen die Brust. Was passiert? Partner A setzt seine Masse nach vorne in Bewegung und nutzt seinen Arm als Stoßstange, um Druck zu übertragen. Gelingt ihm dies und Partner B steht nicht gut (schlechte Körperstruktur, Verspannungen, keine Gleichgewichtskontrolle), kann sich der Druck voll manifestieren und Partner B aus dem Gleichgewicht bringen – er würde nach hinten taumeln oder stürzen.
Partner B übt aber schon lange Taiji und achtet auf die subtilen Bewegungen von Partner A. Kurz bevor die Hand von Partner A die Brust von Partner B berührt, sinkt Partner B auf sein rechtes Bein. In einer nach unten gerichteten Spiralbewegung wird das rechte Bein komplett belastet und der Oberkörper dreht sich nach links. Partner A folgt seinem Angriffsschema, dass er bei Partner B auf Widerstand, nämlich die Masse des Oberkörpers, trifft, den er mit einem Stoß der Hand überwinden will. Er schiebt also weiter geradeaus. Partner B setzt diese Masse aber ab dem Zeitpunkt in Bewegung, ab dem Partner A seine Vorwärtsbewegung nicht mehr stoppen kann. Im allerletzten Moment zieht er das Ziel aus der Kraftlinie und Partner A hat keine Fläche mehr, auf die er Druck ausüben kann. Das bedeutet für ihn den Verlust des Gleichgewichts. Er muss nach vorn überkippen. Ein ähnliches Beispiel lässt sich im Alltag finden: Man sieht einen Beutel und glaubt, dass darin schwere Sachen liegen würden. Wie schnell taumelt man dann zurück, wenn sich herausstellt, dass der Beutel sehr leicht ist. Die Erwartung „Ich muss was schweres anheben“ geht an der Wirklichkeit vorbei. Im Taiji ist es ähnlich. Die Erwartung „Ich treffe dich jetzt an der Brust“ wird nicht erfüllt, ergo stehen Geist und Körper nicht mehr im Einklang. Das Gleichgewicht ist verloren.
Damit könnte es Partner B auf sich beruhen lassen. Aber er will zeigen, was er alles kann. Also geht es weiter. Partner B kann aus der gesunkenen Position heraustreten und unter dem Schwerpunkt des Partners Gegenmaßnahmen ausführen. Eine davon ist das Wegfliegen-lassen von Partner A, was scheinbar mühelos vonstattengeht. Das Ganze gelingt aber nur, wenn Partner A sein Gleichgewicht geopfert hat – wissentlich oder unwissentlich. Partnerübungen sind immer Interaktion. Das heißt, Partner B kann nur seine Fertigkeiten optimal umsetzen, wenn Partner A diese nicht unterbinden kann/will.
Durch das rechtzeitige Wegnehmen des Ziels „Brust“ muss Partner A sein Gleichgewicht für einen kurzen Moment aufgeben. Er ist mit seiner Intention noch nach vorne gerichtet und sein Körper kann auf die Aktion von Partner B nicht mehr reagieren, weil er noch in Bewegung ist. Es ist wie beim Fahren auf der Autobahn, wenn man eine Abfahrt viel zu spät erkennt. Man kann sie irgendwie noch erkennen, weiß aber dass es zu spät ist, kann nicht bremsen und schon gar nicht wenden. Man ist dazu verdammt, die eingeleitete Richtung zu Ende zu fahren.
Partner A kippt nach vorne – das ist der Verlust seines Gleichgewichts. Diesen Moment nutzt Partner B, indem er seine im gesunkenen Bein gespeicherte Kraft einsetzt. Dazu braucht er aber keine Muskeln anzuspannen. Es reicht, wenn er das eigene Körperzentrum korrekt in Bewegung versetzt. Um das zu erlernen, sind Partnerübungen und die Taiji-Form unverzichtbar!
Er berührt mit seiner Linken den nach vorne gerichteten Arm von Partner A und geht mit seiner rechten Hand an dessen linke Schulter. Durch die Gleichzeitigkeit einer Gewichtsverlagerung auf das linke Bein und einer Bewegung des Körperzentrums Richtung Körperzentrum von Partner A kann die Kraft voll auf den im Ungleichgewicht befindlichen Körper übertragen werden. Partner A „fliegt“ zurück, weil sein Körper mit mehreren Richtungen konfrontiert ist, die er nicht bewältigen kann. Von der Absicht her ist er nach vorne ausgerichtet (Kopf/Herz), auf der körperlichen Ebene steht er vornübergekippt. Das heißt, sein Gewicht ruht auf dem vorderen Bein und sein Oberkörper ist geneigt. Wenn Partner B die nach vorne gerichtet Bewegung von Partner A noch leicht mitführt und auf eine minimale Ellipse führt, sind drei Richtungen im Spiel, die Partner A in Einklang bringen muss. Das gelingt aber nicht. Schlussendlich fliegt er von Partner B weg, weil dieser mit seinem Schwerpunkt einen Raum unter dem von Partner A besetzt und dessen Zentrum direkt ansteuert.

Spiralen und Ellipsen

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Partnerübungen geben einem, egal in welcher Form, die Möglichkeit, zu erkennen, dass Bewegungen stets bogenförmig auszuführen sind. So haben sie keinen Anfangs- oder Endpunkt. In der Taiji-Form erkennt man dies an den aufwandslosen, leichten und fließenden Bewegungen von einer Position zur nächsten. Es gibt kein Stoppen und kein Anfangen. Alles fließt mit- und ineinander. Geometrisch beschreibt man mit seinem Körper Spiralen oder Ellipsen. Auch hier kann nur das Partnertraining ein Indikator sein, zu prüfen, ob und inwieweit diese Bewegungen korrekt ausgeführt werden. Sobald einer der Partner unnötig Kraft aufwendet, also fest zieht oder drückt, statt zu sinken oder zu begleiten, sollte geguckt werden, wo der Fehler liegt. Wenn nötig, muss die Übung in alle Einzelteile zerpflückt werden. Ein Beispiel zum Schluss soll die Bedeutung der Kreisbewegungen verdeutlichen: Ausgangspunkt ist die Position Abwehr links im Yang-Stil. Es kommt die sogenannte Peng-Energie zum Einsatz. Von außen betrachtet, wirkt es so: Partner A drückt gegen den gewölbten Arm von Partner B und wird von diesem zurückgefedert wie von einem Trampolin. Das suggeriert Geradlinigkeit: Der Druck von Partner A geht ins Trampolin und wird genauso zurückgegeben. Partner B ist aber kein Trampolin. Er muss sich behelfen, indem er Winkel und Distanz im richtigen Moment verändert. Dann braucht er auch keine Anstrengung. Was tut er? Partner A drückt gegen den Arm von Partner B und Partner B gibt diesem Druck leicht nach. Das heißt, er lässt seinen Arm leicht zurückdrücken und sinkt zugleich auf das rechte Bein. Das ist bereits eine ellipsenförmige Bewegung. Partner A kippt durch diese nach vorne, da seine Stütze, die Projektionsfläche „Arm“ für seinen Druck, weg ist – der Arm wurde ja von Partner B nach hinten versetzt und in der Tiefe durch das Sinken verändert. In dem Moment, wo Partner A nach vorne kippt, wird die Ellipse vollendet. Partner B positioniert seinen Körperschwerpunkt so, dass er dem von Partner A direkt gegenübersteht. Dann verlagert er sein Gewicht auf das linke Bein (Sinken!) und durch eine gute Körperstruktur sind Schwerpunkt und linker Arm so miteinander verbunden, dass die gespeicherte Energie direkt übertragen werden kann. Es reicht ein leichter Impuls durch die Hüfte und Partner A fliegt weg, was für Außenstehende wie ein Abprallen vom Arm wirkt.

Taijiquan Partnertraining nicht unterschätzen, denn Interaktion ist alles

Viele, die Taiji üben, üben nur die Form oder machen einzelne Qigong-Übungen. Das ist unzureichend. Die Soloübungen sind zwar eine gute Methode, um Bewegungsabläufe zu verinnerlichen oder auf körperinnere Vorgänge Einfluss zu nehmen. Die Korrektheit aller Bewegungen lässt sich aber nur mit einem Partner erproben. Daher sollten auch all jene, die Taiji „nur“ aus Gesundheitsgründen praktizieren, regelmäßig Partnerübungen machen, um die eigenen Fortschritte zu erkennen. Gerade das Zusammenwirken von Sinken, kreisförmigen Bewegungen und der Verlagerung des eigenen Schwerpunktes sind Dinge, die Taiji erst zu Taiji machen. Wer diese Dinge nicht beherrscht, beherrscht letztlich kein Taiji.
Wer mit einem Partner übt, tritt mit einem anderen System in Kontakt, tauscht sich aus, ergänzt sich und reibt sich aneinander. Das macht das Partnertraining so wesentlich, denn Bewegung heißt auch immer Interaktion. Und jede Taiji-Fertigkeit ist nur so gut, wie das Interaktionsmuster der Partner. Das heißt, jemand ist nicht per se im Taiji gut, sondern immer nur in Relation zum Gegenüber. Wer nur alleine übt, vergisst diesen Aspekt und kann zu Selbstüberschätzung neigen genauso wie zur Geringschätzung dem eigenen Können gegenüber. Der Austausch ist das, was zählt. Bei den obigen Beispielen könnte Partner B zum Beispiel daran scheitern, dass Partner A dessen Bewegungen rechtzeitig mitbekommt, sich noch umorientieren kann oder etwas gänzlich Unerwartetes tut. Die Interaktion ist immer zweiseitig. Partner B kann noch so gut sinken oder den eigenen Schwerpunkt kontrollieren, wenn er etwas bei Partner A übersieht, nützt ihm all das wenig. Genauso ist es, wenn Partner A die Interaktion über seinen Muskeltonus definiert. Er kann sich z. B. extrem anspannen oder die ganze Zeit über ganz weich bleiben, so dass Partner B gar keine Möglichkeit hat, Kontrolle aufzubauen. Hier muss ständig austariert werden, um den richtigen Moment zu erkennen. Die Partner müssen einander zuhören, sich verstehen und letztlich im Strom der unzähligen Signale die wesentlichen von den unwesentlichen trennen.

Autor: Christoph Eydt

Fotos: taiji-forum.de, S.Aschermann, G. Pace und Lau K King