Wo– Das unterdrückte Ich

Von Wang Ning

Das Ich zu vergessen gilt im Daoismus, im Buddhismus und im Konfuzianismus als wichtiges Ziel – tatsächlich hat das Ich in der chinesischen Lebensauffassung ohnehin keinen rechten Platz. Das Zeichen ist von vornherein negativ besetzt, seine Verwendung wird als Ausgrenzung und Herablassung empfunden. Gleichzeitig besteht jedoch zunehmend der Wunsch, das zu tun, »was ich möchte«.

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Das chinesische Schriftzeichen für das Ich – Wo wird im alten Zeichen wie ein stehender Mensch dargestellt, der in der Hand eine Hiebaxt hält. Einige andere Schriftzeichen werden ähnlich dargestellt, zum Beispiel der Vater – Fu zeigt einen Menschen mit einer erhobenen Hand mit einem Stock, während der Fürst – Jun die Hand mit dem Stock hochhebt und dabei spricht. Auch das Schriftzeichen für das Lehren – Jiao trägt das Bild – jemanden, der aufpasst, dass die Kinder richtig lernen, mit erhobener Hand mit einem Stock – und daraus abgeleitet bedeutet dieses Zeichen auch Religion, wobei hier alle belehrt werden müssen. Hier finden wir auch das Schriftzeichen für den Begriff Politik – Zheng mit der gleichen Darstellung: einer erhobenen Hand, die den Befehl erteilt, wie man auf dem richtigen Weg gehen sollte.

Alle diese Zeichen stellen Herrscher dar. Das Ich steht gegenüber dem Du – Ni, das wie ein Gefangener gefesselt kniet. Der Fürst steht dem Untertan – Chen gegenüber, wobei sich das »Auge« eines Untergebenen nach unten richtet. Der Vater steht der Frau und den Kindern gegenüber, der Lehrer den Schülern und Religion und Politik stehen dem Volk gegenüber. Sie sind die ersten Macht- und Autoritätssymbole. Das Gruppenleben führt den Menschen zu der Erfahrung, dass jeder sich immer in die Hierarchie fügen muss. Somit werden Ich und Du als das erste Paar abstrakter Worte bezeichnet, die viele Gedanken erregt haben. Das Erkennen des Ich-Bildes führt dazu, dass die Menschen sich in einem Kreis oder in einer Gruppe dementsprechend benehmen müssen, weil niemand wie »Ich« allein dastehen möchte. Wang Wo – sich zu vergessen oder das Ich zu vergessen – ist damit automatisch das höchste Prinzip in allen Erziehungsrichtungen geworden. Mit dem Ich-Bild beziehungsweise mit einem Herrscher- oder Siegertyp mag sich keiner gerne identifizieren, wenn er kein Gegenbild hat oder den Gegenüberstehenden nicht von oben herab behandeln will. Deswegen entstanden eine Menge Ersatzwörter für das Ich und das Du.

Die Chinesen verwenden in einem Satz häufiger kein Subjekt, schon hat man möglicherweise das Ich vermieden, oder sie verwenden stattdessen die Pluralform Wir, weil sie dann nicht mehr allein dastehen. Wenn das Ich vorkommen muss, ordnet man sich nach Rang oder Alter oder vielen anderen Kriterien unter und verwendet eine Höflichkeitsform. Man nennt sich gerne: Xiao Ren – den kleinen Menschen, Bi Ren – den schäbigen Menschen, Bu Cai – den Untalentierten, Zai Xia – den Untenstehenden … Es sind zu viele Ausdrücke für meine Wenigkeit.

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Auch der Kaiser nannte sich Gua Ren – den einsamen Menschen statt Ich, weil er in der Hierarchie ganz oben stand und sich mit keinem im Rang messen musste. Die Frauen verwenden noch mehr erniedrigende Begriffe wie etwa Nu Bei – unwürdige Sklavin, Jian Nei – billige Innere (Der Ehemann ist für die Arbeit draußen, die Frau für das Haus – die inneren Angelegenheiten zuständig.). Sogar die Mönche stellen sich als Pin Seng – arme Mönche vor.

Mit dem Du kann man auf die entsprechende Art und Weise umgehen. Man redet die andere Person an mit Da Ren – der große Mensch, Xian Sheng – der Herr oder der Lehrer, was eigentlich den Erstgeborenen bezeichnet, oder mit Shang Ren – der oben Stehende. Die Frau redet ihren Mann mit Lao Ye – alter Opa an, was wiederum »großer Mächtiger« bedeutet, oder mit Dang Jian De – der Familietragende. Das Ich ist nicht nur ein Schriftzeichen oder eine einzelne Person, sondern verkörpert das wichtigste Wertgefühl – das Wertgefühl eines einzelnen Menschen, was im Westen als Individuum bezeichnet wird. Sonst würde man sich doch nicht solche Mühe geben, es zu umgehen. Das chinesische Herz sagt, dass das Ich-Phänomen die tiefste Kraft im Herzen ist – Sigmund Freud nennt es die Triebtheorie. Kontrolliert man das Herz, verhindert man das Ich. Verhindert man das Ich, herrscht Frieden unter dem Himmel. Wo immer das Ich betont wird, herrscht Unruhe.

»Daher muss man das Ich beseitigen, um die himmlische Ordnung herzustellen.« (Konfuzius) Yangzi (ca. 5. Jh. v. u. Z.), als der einzige Mensch, der das »Ich« schon zu seiner Zeit betont hat, wurde von den Konfuzianern als »Ich- Bezogener« dargestellt, man hinterließ einen Spruch, dass »er kein einziges Haar entbehren wird, um einem ganzen Land Gunst zu bringen«. Ich nehme an, dass seit diesem Spruch keiner mehr wagt, das Ich zu erwähnen. Das Ich wird als »Eigennutz« dargestellt, sein Gegenüber ist nicht mehr das Du allein, sondern die gesamte Sippe, die gesamte Gruppe oder das ganze Dorf, sogar das ganze Land.

Das unterdrückte Ich äußert sich in dem Fall in einer ganz anderen Form, nämlich darin, dass ein Chinese deutlich seine zwei Seiten hat, oder besser gesagt, dass er zwei »Gesichter« hat. Diese Lebensart führt zu einem eigenartigen Schutzschild. Man fragt dann, wovor schützt man sich?

In der Mao-Zeit hatte man die alte Regelung zunichte gemacht, Konfuzius wurde zum wiederholten Male kritisiert und niedergeschlagen, es gab keine unterschiedlichen Anreden mehr, alle nannten sich »Genossen«. Die Revolution brachte anscheinend eine Gleichheit. Das Ich wurde aber zu der Zeit noch stärker unterdrückt als je zuvor. Denn die Einigkeit mit der Partei war der höchste Rang. Wagte es jemand, eine andere Meinung zu haben, stand er allein da, gegen das gesamte China. Dennoch teilt man sich in Gruppen. Innerhalb der Gruppe nannte man einander »eigene Leute« (Zi Ji Ren), wodurch man das Ich in ein Wir verwandelt hat. Wenn einer aus der Reihe tanzte, wurde er als »einzelner Mensch« (Ge Bie Ren) bezeichnet; der einzelne Mensch ist seltsam (Te Bie) oder er musste mit einer »besonderen Aufgabe« (Te Wu) unterwegs sein, wobei Te Wu einen Spion bezeichnet.

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Das Ich zu unterdrücken führt die Menschen dazu, nach außen »gleich« zu sein, als ob sie unter einer Folie versteckt wären, wir sehen hier und da einzelne Stachel, die durchkommen mögen. Zhong Guo Ren bedeutet »Menschen aus dem Reich der Mitte«, also die Chinesen, keinesfalls ist damit ein Einzelner gemeint.

Die Unterdrückung dieser Zeit ist noch heute daran zu erkennen, dass Chinesen es sehr selten wagen sich allein zu bewegen, sei es in China oder im Ausland.

Im Westen zeichnet das Ich die Persönlichkeit und deren Eigenschaften aus. Auch in China wird das philosophische Ich als Zi Wo – das eigene Ich bezeichnet, indem man noch das Wort für »selbst oder eigen« hinzugefügt hat. Das Zeichen für selbst oder eigen wird als eine Nase dargestellt, weil man gewöhnlich seine Nase zeigt, um das Ich zu präsentieren.

Mit dem Einfluss der westlichen Länder bekommt man langsam die Luft, tief aus dem Inneren zu atmen. Dabei wird die Chance geboten, das eigene Ich zu verwirklichen. Der Selbstwert steigt hoch. Mit enormer Kraft drängt das Ich aus dem Versteck nach draußen. Wang Wo – das Ich zu vergessen – als ein wichtiges Dogma im Daoismus, im Buddhismus und vor allem im Konfuzianismus will keiner hören. Man bekommt einen Hauch zu spüren, wie toll es sein könnte, »Freiheit« zu haben. Freiheit heißt hier im Chinesischen Zi You. Das bedeutet etwas wie »aus sich heraus« oder einfach gesagt, »was ich möchte«. Der Verstand befürwortet das Vorhaben des inneren Ichs. Wir leben in einer Zeit, in der wir auf einmal überall hören: »Ich tue, was mein Herz (das innere Ich) sagt«.

Zhuangzi wird eine Geschichte zugeschrieben, bei der er auf einer schmalen Brücke einen Gegner getroffen hat. Der Gegner sagt: »Ich werde nicht einem ›Idioten‹ den Vortritt gewähren.« Daraufhin antwortet Zhuangzi: »Ich mache genau das Gegenteil«, und geht zur Seite.

Eine andere Geschichte, die aus dem »Buch der Kriegskunst« von Sunzi stammt, belehrt den Menschen auf jeden Fall, dass in einer solchen Situation der »Tapfere« frontal durchgeht.

WangNing

Die Weisheit steckt darin, dass das Ich sehr »groß« bedeuten kann, dennoch objektiv sehr »klein« ist. Wir (nicht Ich) mögen den Unterschied nicht erkennen, aber wir ehren die Weisheit des Zhuangzi und trainieren die »Tapferkeit« für unser Leben.