Das Modell der Salutogenese beschreibt Aufgaben für Qigong und Taijiquan.
»Das Schädliche vertreiben und das Stärkende stützen« ist ein bekannter Leitgedanke des Qigong. Wenn es um Argumente geht, warum Qigong in unserem Gesundheitssystem nützlich sein kann, wird oftmals das Schwergewicht auf die »Vertreibung des Schädlichen«, die Heilwirkung insbesondere von medizinischem Qigong gelegt. Christian Auerbach plädiert hingegen für eine stärkere Beachtung der gesundheitsfördernden Aspekte. Er bedient sich dabei des Salutogenesemodells, mit dem die im Menschen selbst angelegten Fähigkeiten zu Selbstorganisation und Selbsthilfe untersucht und dargestellt werden. Den Kern dieser Widerstandsressourcen bildet nach Ansicht von Aaron Antonovsky, einem der Begründer dieser Wissenschaftsrichtung, ein »Sinn für Zusammenhänge« (sense of coherence), der dem Menschen Vertrauen in sich, den Sinn des Lebens und seine salutogenen Ressourcen verleiht. Der vielfältige Erfahrungsschatz des Qigong bietet sich hier als Unterstützung geradezu an.
Qigong und Taijiquan gelangen immer weiter in den Blick der breiten Öffentlichkeit, wie spätestens der halbseitige Artikel auf Seite 4 der Bild-Zeitung vom 26.06.2000 zeigt.
Damit werden zunehmend Fragen an Qigong und Taijiquan sowohl von anerkannten als auch stimmungsmachenden gesellschaftlichen Strömungen gestellt – von Krankenversicherern und Wissenschaftlern genauso wie von Zeitschriften oder „Otto Normalverbraucher“ – um sich ein Bild davon machen zu können, worum es bei Qigong und Taijiquan geht.
Qigong-Methoden (wenn ich ab jetzt nur Qigong schreibe, so meine ich immer auch die gesundheitsbezogenen Aspekte des Taijiquan mit, also den Bereich des Qigong im Taijiquan) werden zumeist in den Zusammenhang der Traditionellen Chinesischen Heilkunde als Methoden gerückt, die mit den Lebenskräften arbeiten, um etwas gegen Krankheit und für Gesundheit tun zu können oder auch um „Das Schädliche zu vertreiben und das Stärkende zu stützen“.
Häufig wird dann schnell nur die eine Seite dieser zweifachen Ausrichtung beachtet:
Wie kann mit Qigong das Schädliche vertrieben werden, oder zugespitzt: Welche Übung hilft gegen welche Krankheit, gegen welches Leiden?
»Das Schädliche vertreiben«
In diesem Sinne „nützlich“ scheinen auch sofort Übungsmethoden des medizinischen Qigong zu sein, wie z.B. das Herz-Qigong. Auch wenn es in den Übungen nicht z.B. um das isolierte „Organ Herz“ der westlichen Anatomie geht, so ist doch die Regulation des im Sinne der TCM vielleicht gestörten „Funktionskreis Herz“ in der Übung beabsichtigt!
Das ist der prinzipiell gleiche Blickwinkel, der in unserem Gesundheitswesen dem Dreiklang von Prävention (Vorbeugung durch Vermeidung von Risikofaktoren, Hygiene, Impfungen), Therapie (Krankheitsbehandlung mit verschiedensten Methoden der Schul- oder „alternativen“ Medizin) und Rehabilitation (Nachbehandlung einer Erkrankung, Wiedereingliederung) zugeordnet wird.
Damit wird Qigong ganz traditionell im Sinne der westlichen Medizin im Nachdenken über die Pathogenese (Krankheitsentstehung) und im Kampf gegen pathologische Entwicklungen des Organismus verortet. Qigong läßt sich dann schnell als besseres Aspirin bei aufkommenden Spannungskopfschmerzen, als Mittel zur Streßreduktion an Stelle von Betablockern, oder als Alternative zum Bewegungsbad verstehen.
So betrachtet Qigong gerät in die Notwendigkeit zu begründen, warum es besser sein soll als Aspirin.
In Qigong-Kreisen gängige Begründungsmodelle, die aus der TCM oder den subjektiven Erfahrungen von Einzelnen abgeleitet sind, treffen hierzulande bei den Kostenträgern unseres Gesundheitswesens oder bei Vertretern des naturwissenschaftlichen Bildes vom Menschen nur sehr selten auf Wohlwollen.
Will man sich in diesem Rahmen ernsthaft um eine Steigerung des Stellenwerts von Qigong bemühen, so bleibt nur der Rückgriff auf unser allgemein anerkanntes Begründungsinventar, d.h. der Nachweis der Wirksamkeit durch unsere Forschungsmethoden auf der Grundlage westlich-naturwissenschaftlichen Modelle.
Dazu muß kritisch angemerkt werden:
Es gibt bisher kaum anerkannte Studien oder Erklärungsmodelle, die die Wirksamkeit von Qigong in der Krankheitsbekämpfung belegen. Der größte Teil der bisherigen Forschung in der VR China harrt der Übersetzung in westliche Sprachen, oder die bekannten Untersuchungen halten meist einer Überprüfung nach den Kriterien unserer Forschungstradition nicht stand.
Bisher bleibt man in Diskussionen mit Vertretern klassisch westlicher Medizin zwangsläufig auf Behauptungen oder persönliche Einschätzungen beschränkt, die kaum dazu führen, daß das Gegenüber Verständis für Qigong als hilfreiche Methode bei der Krankheitsbekämpfung gewinnt.
Für mich eine unbefriedigende Situation. Auf der Ebene der klassischen Schulmedizin Anhaltspunkte für die Wirksamkeit von Qigong zu finden, halte ich aus Gründen der Akzeptanz für eine dringende Aufgabe, die aber viel Zeit, persönliches Engagement und Geld in Anspruch nehmen wird.
»Das Stärkende stützen«
Um dies zu erreichen wird man zumindest hilfsweise einem Glaubenssatz der Schulmedizin folgen müssen: „Der menschliche Organismus in seiner physikalisch-chemischen Funktion existiert nur im sichtbaren, nachrechenbaren, wissenschaftlich Überprüften“ (Voigt in Zukünfte, S. 76).
Daran lassen sich Kritikpunkte aus dem Blickwinkel des Qigong formulieren:
Eine so verstandene „Wissenschaft“ beruht auf dem Descarteschen Konzept der Trennbarkeit von Subjekt und Objekt. Demzufolge ist objektive Erkenntnis über das „Objekt menschlicher Körper“ unabhängig vom forschenden Subjekt und vom beforschten Individuum z.B. in Doppelblindstudien möglich.
In diesem „zweidimensionalen Denken“ (Voigt in Zukünfte, S.76), das in weiten Kreisen des Gesundheitswesens verbreitet ist, findet eine dritte Dimension, das subjektive Empfinden und die Emotionalität des Menschen, keine Anerkennung.
Will man in weitergehendem Sinne die Wirkung von Qi Gong im Vorgehen gegen Krankheit belegen, müßten andere Gedankenwelten für Wirksamkeitsnachweise bemüht werden:
Um das persönliche Empfinden mit in die Qigong-Forschung einzubeziehen, lassen sich zentrale Modelle der Psychosomatik heranziehen, in der die dritte Dimension des Subjektiven als wichtiger Faktor gesehen wird (v.Uexküll). Die Folgen des Übens können hier mit Methoden der qualitativen Forschung, also Interviews, Statistiken, Einzelfallauswertungen etc., in ihrer Wirksamkeit beschrieben werden.
Aber auch Psychosomatiker tun sich manchmal schwer, Grundannahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin, wie Qi, Yin/Yang, Wu Xing etc., als für den Menschen relevant anzuerkennen.
Um den Möglichkeiten von Qigong gerecht zu werden, müßte auch eine vierte, spirituelle Dimension einbezogen werden:
Es „kommt die Grundannahme hinzu, daß ein Mensch erst in seiner Verbindung mit dem Göttlichen (oder dem Kosmos, dem Großen Ganzen, d.V.) vollständig sei“ (Voigt in Zukünfte, S. 76).
Das heißt, von der Sinnfrage zu sprechen oder der Religiosität des Menschen.
Dieser Bereich ist in unserer Kultur bisher kaum in Sachen Krankheitsbekämpfung befragt worden, obwohl es hierzu aufschlußreiche Denkmodelle aus Philosophie und Psychologie gibt, wie z.B. Modelle menschlicher Bewusstseinsentwicklung von Gebser, Wilber, Neumann, die davon ausgehen, daß es über die soziale, emotionale und rationale Entwicklung des Menschen hinaus weitergehende Bewusstseinsschritte gibt; bewusst spirituelle Dimensionen einbeziehenden Psychologien von Jung (Archetypen im kollektiven Unbewussten , Assagioli (das Transpersonale Selbst als Steuerungsinstanz menschlichen Lebens aus dem überbewussten Bereich), Frankl (die Bedeutung der Lebenssinnfrage für psychische Gesundheit); Meditationsforschung von Kabat-Zinn und sein Ansatz der Achtsamkeitsschulung in der Therapie (MBSR).
Es scheint denkbar, daß eine „innere“, erfahrungsgetragene Religiosität – unabhängig von „äußeren“ religiösen Glaubensformen – zu größerer Lebenszufriedenheit führt und damit zu geringerer Streßanfälligkeit . Dies könnte z.B. im Sinne der Psychoneuroimmunologie einen stärkenden Effekt auf das Immunsystem haben oder Menschen nicht so leicht in Suchtkrankheiten gleiten lassen. (vgl. Kabat-Zinn und Murphy)
Ebenso nimmt der ehemalige Leiter des Max Planck-Instituts für experimentelle Medizin in einer Verknüpfung zur Chaosforschung an: „Im Netzwerk des Lebendigen ist alles miteinander verknüpft.“ (Cramer in Göpel/Schneider-Wohlfahrt, S. 72)
Sich darin zurechtzufinden sei eine Frage von Offenheit und Vertrauen in das Leben.
Alles in allem ein weites Feld für sinnvolle Forschung, die das Anliegen von Qigong stützen und zu einer Erweiterung der Möglichkeiten der Heilkunde führen kann.
Jetzt möchte ich mich aber der anderen Seite der Gesundheits-Krankheitsmedaille zuwenden:
„Das Stärkende stützen“ heißt im Qigong, daß ich mich wegbewege vom Gedanken der Krankheitsbekämpfung und der Lebenspflege zuwende.
„Das Gesundheitswesen ist der Ort der Bewußtseins-Bildung über uns selbst und unser Verhältnis zur Welt im menschlichen Leben.“ (Mitschrift eines Vortrags von Prof. J. Wiedemann, München)
Wenn ich Qigong im Gesundheitswesen verorten will, sollte die Rolle von Qigong als Methode gegen Krankheit oder für Gesundheit überdacht werden. Ich möchte bewußt dem weniger beachteten Blickwinkel die nötige Aufmerksamkeit schenken und mit westlichen Modellen verbinden, nämlich dem stützenden oder stärkenden Aspekt von Lebenspflege und Förderung der Gesundheit.
Dieser Aspekt war in den Jahren 1990 bis 1996 in der deutschen Gesundheitslandschaft sogar gesetzlich verankert über die Zuordnung von Gesundheitsförderung zu den gesetzlichen Krankenkassen über den alten § 20 SGB V als Leistung, die erbracht werden soll (Franzkowiak, S. 153 f) .
Damit begann sich eine 4. Säule des Gesundheitswesens zu formieren.
Gesundheitsförderung wurde vom Gesetzgeber der alten Trias von Prävention, Therapie und Rehabilitation zur Seite gestellt. Dies bedrohte naturgemäß die bisherige Stellung einiger Berufs- und Interessensgruppen und schuf Freiräume des Denkens und Handelns im Gesundheitswesen. Unter anderem aus diesem Grunde – nicht nur wegen der damals öffentlich angeprangerten Geldverschwendung in der Gesundheitsförderung (Ayurveda-Kur auf Sri Lanka, Drachenflugkurs etc.) – ist diese 4. Säule des Gesundheitswesens seit 1. Januar 1997 wieder aus der gesetzlichen Verankerung gerissen worden. Die offizielle Rolle von Gesundheitsförderung ist derzeit recht ungewiß, obwohl es wieder zaghafte Versuche gibt, Gesundheitsförderung in die Verantwortung der Krankenkassen zu legen.
Unabhängig davon gibt es eine in Deutschland noch junge wissenschaftliche Ausrichtung, die „Gesundheitswissenschaften“ (vgl. Hurrelmann/Laaser) und darin vor allem die „Salutogeneseforschung“ (vgl. Faltermaier), die zu einer Begründung der Wirksamkeit von Qigong im Sinne von Gesundheit beitragen kann.
Salutogenese als Begriff für die Entstehungsbedingungen von Gesundheit steht dem bekannten, im bio-medizinischen Denken benutzten Wort Pathogenese gegenüber.
Leben in Balance zwischen Gesundheit und Krankheit
Im Konzept der Salutogenese wird der Mensch in einem Kontinuum zwischen den Polen „höchste Lebendigkeit“ und „Tod“, zwischen gesund und krank gesehen.
Es ist in diesem Denken eine unzulässige Verkürzung, einen erkrankten Menschen nur als krank wahrzunehmen. Genauso wie ein Mensch nie vollständig krank ist, solange er lebt, wird er auf Dauer auch nie vollständig gesund sein. Krankheit wird dabei als Teil eines zum Gesunden hin ausgelegten Lebens betrachtet.
Die individuelle Balance zwischen Gesundheit und Krankheit zu suchen ist die Aufgabe des menschlichen Organismus, die Balance ist aber immer zerbrechlich und anfällig.
„Gleichgewicht halten“ gibt es eben nicht, nur eine ständige Suche nach Gleichgewicht !
In der Salutogeneseforschung geht es nun nicht darum, warum Menschen krank werden und wie eine Krankheit entsteht (pathogene Faktoren), sondern warum und wie Menschen „angesichts der Vielzahl und weiten Verbreitung bedrohlicher körperlicher, psychischer, sozialer und ökologischer Einflüsse“ (Pankoke, S. 9) es schaffen, ihre Balance immer wieder in Richtung Gesundheit zu bewegen (salutogene Faktoren).
Dementsprechend wendet sich die Aufmerksamkeit nicht der Bestimmung von Risikofaktoren z.B. von Herz-Kreislauferkrankungen zu – inzwischen sind über 250 an der Zahl beschrieben worden! (Pickel, S. 28) -, um anschließend Präventionsstrategien zu propagieren wie z.B. „Eßt weniger Cholesterin !“, „Joggt mehr, aber nicht zuviel !“ .
Nebenbei gesagt, sind im Risikofaktorenmodell auch Tür und Tor offen, beliebige Risikofaktoren – je nach Forschungsziel – zu beschreiben.
Zusammenhänge im Sinne eines Ursache-Wirkungsgeschehens lassen sich jederzeit von den verschiedensten Faktoren her hypothetisch konstruieren.
Bei ernsthafter Betrachtung der Vielzahl der Einflüsse, die gleichzeitig auf einen Menschen einwirken, lassen sich die meisten sogenannten Risikofaktoren aber nicht so einfach in Kausalketten darstellen und schon gar nicht ernsthaft präventiv verfolgen.
Sogar beim Rauchen, einem eindeutig beschreibbaren Risikofaktor, bleibt die Frage:
Was ist mit dem alten Kubaner, der über 100 Jahre alt und vital ist, dabei seit 88 Jahren jeden Tag eine Zigarre raucht …. ?
Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Risikofaktor zu einer statistisch beschriebenen Folge führt, ist und bleibt eben doch von den individuellen Bedingungen des jeweiligen Menschen abhängig.
Leben gefährdet einfach unsere Gesundheit !
Im Salutogenesemodell beschäftige ich mich mit den Möglichkeiten, die im Menschen selbst angelegt sind, die seine Fähigkeit zur Selbstorganisation und Selbsthilfe in allen möglichen Situationen ansprechen und ihn sein Leben aus ganzem Herzen leben lassen.
Unbewusste Kräfte halten den Organismus funktionsfähig
(Foto: „Lebe wild und gefährlich !“)
Die äußere Schädigung durch Streß oder Unfall oder der Angriff eines Bakterienheeres steht auf der einen Seite der Medaille Gesundheit – Krankheit, der Umgang damit auf der anderen.
Auf Menschen wirken ständig schädigende Einflüsse, die ausbalanciert werden wollen, damit der Organismus in einem Höchstmaß funktionsfähig bleiben kann.
Die Kräfte, die für diese Balance verantwortlich sind, sind in der Regel unbewußt.
Ohne bewußtes Zutun des Menschen sorgen seine salutogenen Ressourcen dafür, daß er lebt, Verletzungen heilen, ein Rausch nicht zur dauerhaften Vergiftung wird, die Körpertemperatur konstant bleibt etc.. Ebenso wollen die vielfältigen Prozesse im Organismus ständig koordiniert und synchronisiert werden.
Krankheit entwickelt sich meist über viele Jahre hin aus einem Geflecht verschiedener „äußerer Schädigungen, und … durch die ‚innere‘ Reaktion des individuellen Menschen aufgrund seiner genetischen Disposition und lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung.“ (Sturm in Zukünfte, S. 17)
Psychische und physische Gesundheit zeigt sich dementsprechend in der Fähigkeit, Schädigungen, Krisen und Belastungen im Sinne von Dysbalancen zu verstehen und so damit umgehen zu können, daß sich eine neue Balance entwickeln kann.
Im Schaubild lässt sich erkennen, daß in unserer Kultur die bisherigen Ressourcen vor allem in der Krankheitsbekämpfung angesiedelt sind. Dort ist Forschung und Praxis des heilkundlichen Denkens angesiedelt. Eine Unterstützung der Selbstheilungskräfte wird dagegen nur in geringem Maße bedacht.
Menschen sind sich meist ihrer Kräfte zur Eigenregulation und Selbstheilung nicht bewußt, nehmen sie als selbstverständlich hin und mißachten den Wert für das eigene Leben. Dementsprechend sind nur wenige in der Lage, sich so zu verhalten, daß diese Kräfte gut arbeiten können.
Um die gesundheitsfördernden Ressourcen zu erschließen „benötigen alle Beteiligten, auch die Patienten, entsprechende Kenntnisse, Fähigkeiten und eine neue Grundeinstellung. Die Voraussetzungen dafür sind in einem langfristigen Reformprozess zu schaffen durch Erforschung der umfangreichen salutogenen Ressourcen, über die jeder Mensch verfügt.“ (Sturm in Zukünfte, S. 17)
Nach einer führenden Pflegewissenschaftlerin, der Schweizerin Sr. Liliane Juchli, stoßen wir bei der Beschreibung möglicher Gesundheitsressourcen „an die Grenze des nicht Zählbaren. Ressourcen sind Wirkkräfte des Lebens und als solche, wie das Leben selbst, überall zu finden.“
(Juchli nach Sturm in Zukünfte S. 18)
Sie beschreibt folgende Bereiche als Salutogene Ressourcen (SR):
• Kognitive SR in Verstand, Bewußtsein, Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis und Vernunft, die Einsicht, Besonnenheit und Vorausschau ermöglichen
• Seelische SR die sich in Grundstimmungen, Antriebskräften und innerem Lebensgefühl äußern
• Kreative SR, die zur Gestaltung des Lebens und der Lebenswelt befähigen
• Kommunikative SR, die vertrauensvolle Beziehungen und die Fähigkeit, lieben zu können wachsen lassen
• Weltanschauliche SR, in denen Lebensziele durch Weltanschauung/Religiosität die Verknüpfung des Einzelnen mit der Gesamtheit des Seins herstellen
• Äußere SR, wie die Ressourcen der Natur (Luft, Wasser, Nahrung, Entspannungs- und Erholungsmöglichkeiten) und der Kultur (Wohnung, Medizin, Kunst, etc.)
• SR der Mitwelt, wie Familie und Beziehungsnetz
Dieser Auflistung möchte ich noch den der Bereich Körperlicher SR hinzufügen, also der Fähigkeit eines mehr oder minder wohl organisierten Körpers, mit Spannungsregulation und Körpermechanik bis hin zum Blutdruck dafür sorgen zu können, dass der Mensch sich in seiner Haut wohlfühlt.
Alle diese Ressourcenbereiche gilt es wissenschaftlich und praktisch zu erschließen, wobei jeweils der Mensch als Ganzheit auf unterschiedlichen Ebenen seiner Existenz als biologisches, soziales, spirituelles etc. Wesen zu betrachten ist (vgl. Schäffter S. 12 ff).
Hierzu noch ein kleines Modell, in dem sich nachvollziehen läßt, welche Ebenen in eine gesundheitsfördernde Ressourcensuche einbezogen werden könnten:
Die grundlegende Theorie von Aaron Antonovsky
Als grundlegende Theorie der heutigen Forschung über die Entstehungsbedingungen von Gesundheit gilt die Forschung des israelischen Soziologen Aaron Antonowsky.
Antonovsky stellte in einer Untersuchung von Frauen, die den Holocaust überlebt hatten, die Frage, welche besondere Fähigkeit bzw. Qualität ihnen das Überleben ermöglicht hatte.
Die Antwort war, daß sie alle einen ausgeprägten „Sense of Coherence“ entwickelt hatten – also einen „Sinn für Zusammenhänge“ oder auch ein „Gefühl des Verankertseins“, wie es die Direktorin ‚Lifestyles and Health‘ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übersetzt (Kickbusch in Paulus, S. 23).
Dieser wirke gesundheitsfördernd, weil er die Selbstheilungskräfte stützt.
Er kommt zu dieser Aussage über folgende Schritte in seinem Salutogenesemodell:
Zuerst ist ein Stressor da.
Ein Stressor ist in Antonovsky‘s Sichtweise eine Anforderung an das Individuum, für die es nicht genügend Ressourcen zur Bewältigung zur Verfügung hat. Sie bewirken Erfahrungen von Inkonsistenz, Unter- oder Überlastung und von Ausschluß von Entscheidungsprozessen (Faltermaier, S. 50).
Stressoren können in chronischen Belastungen (z.B. Mobbing, Streit in der Familie etc.), in einschneidenden Lebensereignissen (Tod, Unfall, Arbeitslosigkeit etc.) oder alltäglichen Ärgernissen (der „böse“ Nachbar, „schon wieder hat der Handwerker gepfuscht“ etc.) gefunden werden, die einen Spannungszustand im Organismus hinterlassen und von starken Affekten und physiologischer Erregung begleitet werden.
Wenn nun Stressoren und Spannungen nicht bewältigt werden, so baut der Organismus einen dauerhaften Spannungszustand auf, der seine Anpassungsfähigkeit behindert und bei zusätzlicher Belastung und organischen Schwachstellen die Gesundheits-Krankheits-Balance negativ beeinflusst.
Vor allem hängt es von den individuell entwickelten allgemeinen Widerstandsressourcen („generalized resistance ressources“) ab, ob und wie erfolgreich eine Person Streß und die daraus folgenden Spannungszustände bewältigen kann.
Widerstandsressourcen finden sich auf mehreren Ebenen (vgl. Faltermaier, S. 51):
• Präventive Gesundheitsorientierung, also vermeiden von Stressoren
• Biochemische und physikalische Ressourcen, also ein funktionierendes Immunsystem und ein Körper, der sich gut an unterschiedliche Spannungsanforderungen anpassen kann
• Materielle Ressourcen, also Geld und Verfügbarkeit von (medizinischen) Leistungen oder Gütern
• Emotionale und kognitive Ressourcen, z.B. Intelligenz, stabile Ich-Identität
• Effektive Bewältigungsstile, zu denen Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit zählen
• Soziale Unterstützung in Familie, Arbeitsfeld, Freundschaften
• Verbundenheit mit stabilen Kulturen, rituell-magischen Aktivitäten oder religiösen Glaubenssystemen
Als gemeinsamen Nenner hinter den vielfältigen Widerstandsressourcen, also als „Kern des Problems der Salutogenese“ (Faltermaier, S. 51), schlägt Antonovsky den „sense of coherence“ vor, der alle Widerstandsressourcen integriert.
In diesem „Sinn für Zusammenhänge“ sieht er die Hauptdeterminante für Bewegungen im Gesundheits-Krankheits-Feld.
Mit diesem Sinn läßt sich das vorherrschende Lebensgefühl beschreiben.
Personen mit einem hohen Maß an Verständnis für Zusammenhänge haben gute Strategien zur Problembewältigung und verfügen über gute Widerstandsquellen. Sie haben so ein hohes Maß an gesundheitsstärkenden Faktoren und Widerstand gegenüber Krankheitsbewegungen zur Verfügung.
Ausschlaggebend für die Formung eines solchen Sinnes für Zusammenhänge ist,
• ob Situationen und Reize verstanden werden und eingeordnet werden können, also wenn innere und äußere Wirklichkeiten strukturiert und abwägbar sind („comprehensability“),
• das Gefühl, Ressourcen zur Verfügung zu haben, um den oben genannten Wirklichkeiten entsprechen zu können und Situationen bewältigen zu können („manageability“),
• das Ausmaß an Sinnhaftigkeit, den eine Person dem Leben gibt, also die Frage, ob das Leben emotionalen Sinn besitzt und Anforderungen des Lebens als Herausforderungen existentieller Art angesehen werden („meaningfullness“).
Menschen, die diese Qualität in sich ausgebildet haben, entwickeln nach Antonovsky Selbstvertrauen und sind davon überzeugt, daß sie die Aufgaben und Herausforderungen des Lebens meistern werden. Sie vertrauen auf den Sinn des Lebens und ihre salutogenen Ressourcen.
Paßt dazu nicht der enorm vielfältige praktische Erfahrungsschatz des Qigong mit den fein differenzierten Übungen und Beschreibungen vielfach wirksamer Kräfte des Lebens und deren Zusammenhänge?
Allerdings bedarf es hier einer sorgfältiger Übersetzung aus der uns fremden chinesischen Sprache, um die darin verborgenen Schätze zu heben.
Qigong als eine in jedem Menschen wirksame gesundheitsfördernde Quelle, die ihm Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, sein Leben und seine Gesundheit stützen zu lernen ?
Mir fallen dazu die 3 Regulationen ein, in denen es gilt, den Körper wohl zu organisieren, die Aufmerksamkeit steuern zu lernen, damit sie nicht dem „Herzaffen“ und dem „Gedankenpferd“ die Regie überläßt, oder die Beruhigung der Atmung an der Schaltstelle zwischen sympathischem und parasympathischem Nervensystem, die immer wieder Stressreaktionen bewältigen hilft.
Ebenso fällt mir dazu die intensive Schulung der Achtsamkeit Körper, Bewußtsein und Lebenswelt gegenüber ein, die ich mit Qigong verbinde. Über diese Schulung lerne ich zunehmend innere Zusammenhänge erspüren und mich als lebendigen Organismus verstehen.
Der Natur im Menschen Raum geben
Nach der allgemeinen Qigong-Theorie meiner Lehrer Prof. Cong Yongchun und Prof. Lin Zhongpeng gilt es, im Qigong
„die Aktivitäten des Späten Himmels zu ordnen und die Aktivitäten des Frühen Himmels zu stützen, damit der Mensch die volle Zahl der ihm bestimmten Jahre ohne Bitterkeit leben kann.“
(Mitschrift eines Vortrages von Prof. Lin Zhongpeng, Beijing)
Anders gesagt sollte man im Qigong den Erworbenen Geist („Später Himmel“, auch „nachgeburtlich“) mit den ganzen im Lebenslauf erlernten Haltungs- und Verhaltensmustern so ordnen, daß der Ursprungs-Geist („Früher Himmel“, auch „vorgeburtlich“) in seiner Fähigkeit, die vielfältigen bewußten und unbewußten Lebensprozesse zu koordinieren, unterstützt wird.
Oder so ausgedrückt:
Der menschliche Organismus soll in Körper und Bewußtsein so geordnet werden, daß sich die natürlichen, biologischen, „instinktiven“ und organismischen Reaktionsmuster ihren Gesetzmäßigkeiten entsprechend entfalten können. Sie sollen bewußt beachtet, als lebensspendend anerkannt und unterstützt werden.
Es gilt, der Natur im Menschen Raum zu geben (Auerbach in Connection, S. 47 f).
Damit ließe sich vielen Störungen der Qualität menschlichen Lebens („Bitternis“) gegensteuern. Die Muster des Organismus werden bewußt gestützt – von Biorhythmen bis hin zum Umgang mit lebensbedrohlichen Situationen.
Voraussetzung ist das tiefe Vertrauen darin, daß der Organismus einer der menschlichen Natur innewohnenden Intelligenz folgt und selbstheilend arbeitet.
Ähnliches beschreibt in der Sprache westlicher Psychologie auch der Traumatherapeut Levine (vgl. Levine) „Maßnahmen, die die Gesundheit einer Person fördern, schützen, sichern oder pflegen müssen mehrdimensional und komplex angelegt sein, damit eine Person in ihrer Vielschichtigkeit sich angesprochen fühlen und das individuelle Gesundheitsgeschehen gestützt werden kann“.
(Mitschrift eines Vortrages von Prof. W. Belschner, Oldenburg)
Qigong wird von den meisten Übenden als eine die ganze Person bewegende und umstimmende Übungsform empfunden, die in alle Bereiche des Alltags hinein ihre Auswirkungen hat, auf das ganze Denken, Fühlen, Handeln wirkt und ein Verständnis dafür weckt, wie das Leben in mir lebt.
Wenn es zu den Grundgedanken des Qigong in unserer Kultur solch auffällige Parallelen gibt, so denke ich, lohnt es sich, Qigong ausdrücklich damit zu verknüpfen.
Das Salutogenesekonzept läßt sich nahtlos in die Praxis des Qigong einbeziehen und leistet damit eine wichtige Hilfestellung für die Übersetzung von Qigong in unsere Kultur.
Anders gesagt, es ist sinnvoll, in unserer Kultur verständliche Begriffe und Modelle zu nutzen, wenn man von den Wirkungsmöglichkeiten des Qigong spricht.
Dies erscheint mir klüger, als mangels passender Begriffe in der deutschen Sprache die sehr präzisen Beschreibungen der Qigong-Theorie in chinesischer Sprache ins esoterisch-Geheimnisvolle zu ziehen oder in Chinoiserien zu verfallen.
Mein Anliegen ist es, erst einmal einige Gedanken anzuregen und mögliche Richtungen des Denkens und Forschens aufzuzeigen.
Qigong läßt sich sicher als wirksame Methode im Rahmen des Salutogenesekozeptes beschreiben.
Allerdings ist nach dieser Behauptung und sinnvollen Anfängen (vgl. Belschner in Bölts/Belschner) noch viel zu tun, um Qigong hierzulande einen angemessenen und gesicherten Platz zuweisen zu können.
Anders als im Bereich des Pathogenese-Denkens finden sich durch diesen Ansatz leichter verwandt denkende Mitstreiter, die mit ihrer Forschung hierzulande im Wissenschaftsbetrieb gut verankert sind und viele Parallelen zwischen ihrem Denken und dem Handeln im Qigong ziehen können.
Ich denke, es lohnt sich, sich damit vertraut zu machen.
Literaturliste
Antonovsky, A.: Unraveling the mystery of health - how people manage stress and stay well. San Francisco/-London 1987
Assagioli, R.: Handbuch der Psychosynthesis. Freiburg 1978
Auerbach, C.: „Der Natur im Menschen Raum geben“ in „Connection Special China“, S. 44 ff. Niedertaufkirchen 1998
Blättner, B.: Gesundheitsförderung und Gesundheitsbildung - aktueller Stand der Diskussion. Literaturrecherche zum Kongreß „anders leben lernen“ im Auftrag der VHS Hamburg 1994
Belschner, W.: „Integrale Rehabilitation - Der Beitrag des Qigong zu einer gesundheitspolitischen Innovation“ in Bölts, J. / Belschner, W. (Hrsg.): Qigong und Rehabilitation - 3. Dtsch. Qigong Tage, Oldenburg 2000, S. 43 ffp
Cramer, F.: „Chaos und Ordnung in Biologie und Medizin - auf dem Wege zu einem ganzheitlichen Denken“ in Göpel, E. / Schneider-Wohlfahrt, U.: Provokationen zur Gesundheit - Beiträge zu einem reflexiven Verständnis von Gesundheit und Krankheit, Frankfurt 1994, S. 49 ff
Faltermaier, T.: Gesundheitsbewußtsein und Gesundheitshandeln - Über den Umgang mit Gesundheit im Alltag. Weinheim 1994
Frankl, V. nach Lukas, E.: Konzentration und Stille - Logotherapie bei Tinnitus und chronischen Krankheiten. Müchen - Wien 2000
Frankl, V.: ...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. 14. Auflage, München 1996
Franzkowiak, P. / Sabo, P. (Hrsg.): Dokumente der Gesundheitsförderung, Mainz 1993
Gebser, J.: Ursprung und Gegenwart. Stuttgart 1966
Göpel, E. u.a.: Kurs Gesundheitsförderung - Teilnehmermaterialien Modell Niedersachsen erstellt vom Projekt Gesundheitsförderung der Universität Bielefeld für den Landesverband der VHS Niedersachsen Hamburg 1993
Hurrelmann, K. / Laaser, U. (Hrsg.): Gesundheitswissenschaften, Handbuch für Lehre, Forschung und Praxis, Weinheim/Basel 1993
Juchli, L.: Pflege - Praxis und Theorie der Gesundheits- und Krankenpflege. Stuttgart 1997
Jung, C.G. nach Jacobi,J.: Die Psychologie von C.G. Jung - Eine Einführung ins Gesamtwerk. Olten 1971
Kabat-Zinn, J.: Gesund durch Meditation. Bern/München/Wien ,
3. Auflage 1995
Kabat-Zinn, J.: „The clinical use of mindfullness meditation for the self- regulation of chronic pain“ in „Journal of Behavioral Medicine“ 8, 1985, S. 163 ff
Kickbusch, I.: „Plädoyer für ein neues Denken über Gesundheit: Muster - Chaos - Kontext“ in Paulus, P. (Hrsg.): Prävention und Gesundheitsförderung, Perspektiven für die psychosoziale Praxis. Tagungsband der GwG, Köln 1992
Levine, P./Frederick, A.: Trauma-Heilung - Das Erwachen des Tigers. Essen 1998
Neumann, E. Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, 1949
Pankoke, J.: Psychische Gesundheit - Entwicklung und Veränderung im Qigong-Übeprozeß. Projekt Traditionelle chinesische Heilmethoden und Heilverfahren (PTCH) an der ZWW Universität Oldenburg, Oldenburg 1998
Pickel, M.: Qigong in der Gesundheitspädagogik. Diplomarbeit der Universität Bamberg, Lehrstuhl Allg. Pädagogik 1997
Schäffter, O.: Einheit oder Vollständigkeit - Deutungsmuster von Ganzheitlichkeit in integrativen Konzepten der Erwachsenenbildung. Landesverband der VHS Niedersachsen Hannover 1990
Sturm, E.: „Das Salutogenesekonzept“ in „Zukünfte“, Zeitschrift für Zukunftsgestaltung und vernetztes Denken, 9. Jg., Heft 32, S. 17 ff, Gelsenkirchen 2000
v. Uexküll, Th. / Fuchs, M. u.a. (Hrsg.): Subjektive Anatomie - Theorie u. Praxis körperbezogener Psychotherapie. Stuttgart/NewYork 1994
v. Uexküll, Th.: Psychosomatische Medizin. 5. Aufl., München / Wien / Baltimore 1996
Voigt, G.: „Medizinwissenschaften im Vergleich“ in „Zukünfte“, Zeitschrift für Zukunftsgestaltung und vernetztes Denken,
9. Jg., Heft 32, S. 75 ff, Gelsenkirchen 2000
Wilber, K.: Halbzeit der Evolution. Bern - München - Wien 1984 Dieser Artikel ist im „Taijiquan & Qigong Journal“ Heft 2, 2000 erschienen.
Grafiken: TQJ; Fotos: Auerbach